Schlafen nach dem Holocaust

Meine Eltern haben mich nicht zum Konformisten erzogen. Aber sie empfahlen Gelassenheit, wo nichts zu ändern war. Die Gnade der Verdrängung: Erinnerungen an meinen Vater, Kurt Rothschild, der vor hundert Jahren geboren wurde.

In diesem Jahr häufen sich aus närrischer Liebe zur runden Zahl die Veranstaltungen und Publikationen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ich habe zu diesem historischen Einschnitt keine emotionale Beziehung. Er kommt mir unendlich fern vor. Dass er, wie Heiner Müller einmal meinte, das kurze 20. Jahrhundert eröffnet habe, das 1989 bereits zu Ende gegangen sei, kann ich nur als Aphorismus goutieren. In meiner Erfahrung kennzeichnen andere, spätere Ereignisse das 20. Jahrhundert.

Wenn ich mir aber bewusst mache, dass mein Vater, der vor knapp vier Jahren gestorben ist, gerade drei Monate nach Kriegsbeginn geboren wurde, scheint er mir weit weniger entfernt. Über meinen Vater als Nationalökonom kann ich nichts sagen. Ich kenne mich in der Materie nicht aus. Gerne glaube ich, was Fachkollegen in Nachrufen über ihn geschrieben haben, in denen er immer wieder als „Doyen“ apostrophiert und somit in eine Kategorie mit Michael Heltau und Sigrid Löffler katapultiert wurde. Ich weiß, dass ein paar Leute um den Ökonomen Rudolf Hickel ihn für den Nobelpreis vorgeschlagen haben, was mein Vater eher amüsiert kommentierte, als ich ihn danach fragte. Aber ich bin nicht stolz auf meinen Vater, weil ich es für abwegig halte, auf etwas stolz zu sein, zu dem man nichts beigetragen hat. Und meinem Vater war kaum eine Eigenschaft fremder als just Stolz. Aber ich bin froh, diesen Vater gehabt zu haben, weil ich ihm vieles, das mein Leben zwar nicht unbedingt erleichtert hat, das ich aber retrospektiv nicht missen möchte, zu verdanken habe. Zum symbolischen Vatermord habe ich weder subjektiv noch objektiv Anlass.

Ich könnte ein Buch füllen mit Dingen, die ich von meinen Eltern gelernt habe, mit Einsichten, die sie mir, wie man so schön sagt, auf den Lebensweg mitgegeben haben. Stattdessen möchte ich davon reden, worüber sie nie gesprochen haben, was ich sie nie zu fragen wagte: nämlich wie man mit der Tatsache umgeht, dass die eigenen Eltern ermordet wurden, mehr noch, dass man unter Menschen lebt, die diese Morde billigend zur Kenntnis genommen, die unter ihnen sich frei bewegenden Mörder nach 1945 gedeckt haben, und die das Geschehene teilweise bis heute hinter vorgehaltener Hand für gerechtfertigt halten.

Der Journalist und Autor Thomas Trenkler hat in jahrelanger Arbeit recherchiert und veröffentlicht, wie die bekannten Rothschilds, mit denen meine Familie nicht verwandt ist, und andere Juden unter den Nationalsozialisten ihrer Kunstwerke beraubt wurden. Das Problematische an der an sich verdienstvollen Restitutionsdebatte ist, dass sie das hartnäckige Vorurteil zu bestätigen scheint, alle Juden – jedenfalls ihre große Mehrheit – seien reich gewesen. Über die Wintermäntel oder das Besteck, das Nachbarn der deportierten Juden aus deren Schränken holten, schreibt man keine Bücher. Weitaus schlimmer jedoch als der Raubvon Besitz ist, dass man die mitteleuropäischen Juden ihrer Schwestern, Brüder, Mütter, Väter beraubt hat. Sie lassen sich nicht restituieren. Aber wie gehen die Opfer damit um? Ein Leben ohne einen Klimt kann ich mir gut vorstellen. Ein Leben ohne konkrete Kenntnis, wie meine Eltern umgekommen und wo sie begraben sind, nicht.

Gigantische Verdrängungsleistung

Der Vater meines Vaters hat das Dritte Reich in Wien überlebt, weil er eine Freundin hatte, die ihn im Schweinestall ihres Wienerwald-Gasthauses versteckt hielt. Die Mutter meines Vaters und die Eltern meiner Mutter wurden am 23. Oktober 1941, zwei Tage nachdem 27. Geburtstag meines Vaters, aus Wien nach Łódź, damals Litzmannstadt, und von dort nach Auschwitz deportiert. Diese Daten wurden erst vor wenigen Jahren bekannt. Ich wurde gut acht Monate nach der Deportation meiner Großeltern in Schottland, wohin meine Eltern fliehen konnten, geboren. Was es bedeutet, eine Großmutter zu haben, die einen in Schutz nimmt, wenn man einen Konflikt mit den Eltern hat, die stets Süßigkeiten in einem Geheimfach bereithält und die einem Geschichten aus der Vergangenheit erzählt, weiß ich nur aus der Literatur. Als ich, noch ein Kind, meine Eltern fragte, wieso ich eigentlich keine Großmütter habe, sagten sie mir, diese seien schon sehr alt gewesen und gestorben. Die Mutter meiner Mutter war, als sie deportiert wurde, 59 Jahre alt, 13 Jahre jünger als ich heute bin, und 36 Jahre jünger, als meine Mutter, die eines natürlichen Todes gestorben ist, wurde.

Möglicherweise haben meine Eltern sich selbst eingeredet, dass ihre Mütter an Altersschwäche gestorben seien. Wie gesagt: Ich habe nie mit ihnen darüber gesprochen. Ich hatte Angst, etwas aufzurühren, was sich nicht mehr kalmieren lässt. Denn es war offenbar eine gigantische Verdrängungsleistung, was meinen Eltern nach dem Holocaust den Schlaf gesichert hat.

Um 1968 gehörte das Schweigen der vorausgegangenen Generation zu den Topoi der Studentenbewegung. Die Jugendlichen wollten wissen, in welcher Weise ihre Eltern in die Verbrechen des Nationalsozialismus verwickelt gewesen waren, ob sie sie widerwillig geduldet oder ob sie Widerstand geleistet hatten. Ich kann gut begreifen, wie schwer es ist, mit der möglichen Schuld der geliebten Eltern leben zu müssen. Ich beneide niemanden darum. Vielleicht hätten offene Gespräche, hätten Eingeständnisse von eigenen Verfehlungen die sich zuspitzenden Kontroversen zwischen den Generationen entschärft. Für die Opfer aber war die Verdrängung eine Gnade. Wer ihnen das Reden aufnötigt, verdoppelt ihre Qual.

Meine Mutter ist nach ihrer Rückkehr nach Wien nie mehr in die Maria-Treu-Gasse gegangen, in der sie aufgewachsen ist. Sie wollte nicht wissen, wer in der arisierten Wohnung ihrer Eltern lebt. Als ich sie einmal darauf hinwies, dass Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ gleich um die Ecke von ihrem Elternhaus spielen, winkte sie unwillig ab. Auch mein Vater konnte meisterhaft verdrängen, was dem Zusammenleben in der Gesellschaft im Wege stand, die er mit der Rückkehr nach Wien, der meine Mutter übrigens mit Vorbehalten entgegensah, gewählt hatte. Dabei waren die Grenzen zwischen Vernunft und Verdrängung fließend. Erst zu meinem sechzigsten Geburtstag erzählte mir mein ehemaliger Musiklehrer Eberhard Würzl, dem ich viel zu verdanken habe, dass er in den Fünfzigerjahren nicht gewagt habe, im Lehrerzimmer oder gar mit uns Schülern über seine Beteiligung am konservativen Widerstand gegen Hitler zu sprechen, weil im Kollegium unserer Schule die alten Nazis den Ton angegeben hätten. Meine Eltern müssen gewusst haben, dass unser Lateinlehrer – und nicht er allein – ein aggressiver Antisemit war. Wenn ich aber von ihm gerügt wurde, war davon nicht die Rede. Stattdessen ermahnten sie mich zur Konfliktvermeidung. Nein, meine Eltern haben mich gewiss nicht zum Konformisten erzogen. Aber sie empfahlen Gelassenheit, wo nichts zu ändern war. Ich sollte die Matura bestehen. Dass der Lateinlehrer Antisemit war, geriet in der Folge in Vergessenheit. Ich erinnere mich sehr genau, wie mein Vater, als ich über meine Nichtberufung nach Graz klagte, im Pyjama und mit Rasierschaum im Gesicht zu mir sagte: „Dir ist Unrecht geschehen. Aber du musst aufhören, darüber nachzudenken. Du reibst dich damit doch nur auf.“

Ich verfüge leider nicht über diese Fähigkeit zur Verdrängung. Die anhaltende Wut über die Lebenschancen, die mir zugunsten einer Frau gestohlen wurden, die in den 15 Jahren, die sie nun den Lehrstuhl besetzt, der mir nach dem Willen der Berufungskommission zugestanden hätte, ihre Dienstverpflichtung zu Forschung und Lehre mit ein paar Aufsätzen und den immer gleichen Lehrveranstaltungen erfüllt oder vielmehr nicht erfüllt, verfolgt mich bis in den Schlaf. Dabei spielt der akademische Titel keine Rolle. Ich halte ihn für lächerlich. Keineswegs lächerlich aber sind die Möglichkeiten und die finanziellen Vorteile, die mit einer Professur verbunden sind und die mir ein für Intrigen offener Minister und ein gegen gesetzliche Vorschriften verstoßender, Vorlagen blind unterschreibender Bundespräsident vorenthalten haben.

Das hat schon auch mit meinem Vater zu tun. Auch ihm waren der Professorentitel und erst recht die akademischen Rituale und Gepflogenheiten absolut gleichgültig. Als er an der Universität Linz Rektor wurde, scherzte meine Mutter: „Jetzt bin ich MagnifiZenzi.“Der Weg dorthin war freilich nicht frei von Hindernissen. Als meine Eltern 1947 aus dem Exil nach Österreich zurückkehrten, bekam mein Vater weder an einer Universität noch in einer staatlichen Institution eine Stelle. Aber am Institut für Wirtschaftsforschung nahm man ihn auf Empfehlung von Friedrich August von Hayek, mit dem ihn politisch wenig verband, der ihn aber als Wissenschaftler achtete, auf.

Von heute auf morgen alles verlieren

Dort hat er sich wohlgefühlt und auch nach seiner Emeritierung, bis zu seinem Tod mit 96 Jahren, als Konsulent gearbeitet. An der Wiener Universität wollte man ihn wie seinenebenfalls aus Großbritannien heimgekehrten Freund und Kollegen Josef Steindl lange Zeit nicht habilitieren. Als ihn Josef Dobretsberger, Sozialminister unter Kurt Schuschnigg, Linkskatholik und anerkannter Nationalökonom, Anfang der Sechzigerjahre an der Universität Graz für eine Professur ins Gespräch brachte, sagten dessen Kollegen: „Den Rothschild kann man nicht nehmen, der ist ja ein Jud.“ Dass er schließlich, mit 52 Jahren, doch berufen wurde, verdankt sich der Tatsache, dass in Linz eine neue Hochschule gegründet worden war, und nicht zuletzt einem couragierten Artikel von Barbara Coudenhove-Kalergi (die ihn damals, das nebenbei, nicht persönlich kannte) in der Tageszeitung „Neues Österreich“.

Ich erinnere mich sehr genau, wie ich 1966 in Alpbach einem Ordinarius der Universität Wien begegnete. Als er meinen Namen hörte, fragte er mich, ob ich mit Kurt Rothschild verwandt sei, um mir, als ich das bestätigt hatte, überschwänglich zu versichern, wie sehr er ihn schätze. Zufällig wusste ich, dass er zu jenen gehörte, die seine Habilitierung zu verhindern versucht hatten. Der Ekel vor diesem Typus sitzt tief in mir. Aber wahrscheinlich gehört seine Art, Widersprüche verschwinden zu lassen, zu dem, was Rudolf Scholten unlängst im Zusammenhang mit dem Burgtheater die „österreichische Lösung“ genannt hat.

Die Lebenserfahrung hat meinen Vater wie jeden Menschen geprägt. Besitz hat ihm nichts bedeutet. Von einer Eigentumswohnung war bei uns nie die Rede. Die Belletristik besorgten sich meine Eltern in der Leihbibliothek (ich, eine Generation später, möchte ohne Bücher im Regal nicht leben). Als sie 1938 über die Schweizer Grenze flohen, hatten meine eben verheirateten Eltern nichts außer einer Salami bei sich, mit der sie den Gestapomann bestachen, der ihnen die Lichter von Schaffhausen wies. Die grundlegende Erfahrung meiner Eltern war, dass man alles von heute auf morgen verlieren kann, nicht nur Bücher, sogar die Eltern. Das ist wohl die – verdrängte – Ursache dafür, dass Familienfeiern bei uns nicht üblich waren. Die letzten 42 Jahre meines Vaters lebten wir 700 Kilometer voneinander entfernt, weil ich in Österreich keine Arbeit fand. Meine Eltern kannten die Gründe. Aber darüber sprachen wir nie. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2014)

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