Wohlstand für alle – die sich's leisten können

Verfall, leere Auslagen: Das war einmal. Boomtown Havanna: Neues aus Kuba.

Wanderer, kommst du heute nach Havanna, so vergiss alles, was ich – und viele andere – jahrzehntelang über diese Stadt geschrieben haben: sozialistische Versteinerung, grauer Verfall, Ruinen, leere Auslagen, Schlange stehende Bürger, verödende Straßen...

Plötzlich legt diese immer wahnwitzig-schöne Stadt nicht nur Rouge auf, sondern erwacht zu neuem Konsumleben. Vorbei sind die Zeiten der Tortur mit überfüllten, unregelmäßig vorbeidonnernden „Camellos“, den riesigen, aus Traktorteilen zusammengeschweißten öffentlichen Verkehrsmitteln. Heute fahren pünktlich moderne, aus China importierte Busse. Taxis rattern nicht mehr als Oldtimer-Versatzstücke vorbei, sondern bieten modernen Fahrkomfort. Alle Romantik der immer wieder fotografierten Arrangements des „Buena-Vista-Social-Club“-Booms dünnt aus.

Dementsprechend verliert auch die Santeria, das bunte Bild der afrokubanischen Kulte, bis vor Kurzem eine unentbehrliche Überlebenshilfe, an Boden. Hotelbauten mehren sich. Apartmenthäuser schießen im supermodernen Miramar-Viertel aus dem Boden. Supermärkte explodieren. Trade-Centers umwerben ausländische Investoren.

Begrenzte Konsumfreiheit

Was ist passiert? Angeheizt vom Erdölgeld aus Chavez' Venezuela, begann Kubas Wirtschaft sich nach den schlimmsten Dürrejahren des „Període Especial“ (1990 bis 2005) zu erholen. „Vamos bien!“, es funktioniert wieder, verkündeten trotzig Plakate, die nicht mehr revolutionäre Botschaften tradierten, sondern an Konsum erinnerten. In den vergangenen beiden Jahren wuchs Kubas Wirtschaft deutlich jeweils über zehn Prozent. Aus dem Devisentourismus, angekurbelt von der beeindruckenden Altstadtsanierung, flossen reichlich Mittel ein. Die längst wieder rehabilitierte Musikszene begnügte sich nicht mehr mit entstaubtem Mambo und Salsa, sondern franst an den Rändern zu einer frechen Rap-Szene aus.

Ja, und dann, im Februar 2008, nach 17 Monaten eines Quasi-Interregnums wegen Fidel Castros Spitalsaufenthalt, durfte der Bruder Raúl offiziell die Präsidentschaft übernehmen. Was er vorher angedeutet hatte, nämlich als Intention, die Schwierigkeiten des Alltags zu lindern, mündete rasch in trockene Erlässe für eine begrenzte Konsumfreiheit: Havannas Bürger dürfen nunmehr – immer zu konvertierten Pesos, also teuer – Handys und Computer erwerben, Internetanschlüsse anmelden, in – bis dato nur für Devisentouristen reservierten – Hotels einchecken, Elektrogeräte, Mixer, Ventilatoren, Kühlschränke und Flat-Screen-Fernseher kaufen. Dies alles ohne Warteschlangen.

Fast über Nacht gibt es ein turbokapitalistisches Warenangebot in Havanna. Ausschlaggebend ist allein, ob man sich das finanziell leisten kann. Und plötzlich schwelgt Havanna in einem – bescheidenen – Konsumrausch.

Freilich, am politischen Überbau ändert sich vorerst nichts. Kubas Kommunistische Partei, unterstützt von einer Armee, die weitgehend den Devisentourismus kontrolliert, versucht eisern, die Kontrollklammern zu halten. Doch als sogar die Mitglieder des bisher extrem regimetreuen Uneac-Schriftstellerverbandes vergangenen April den kryptischen Satz wagten, „unterschiedliche Standpunkte stehen keineswegs im Gegensatz zur ideologisch notwendigen Homogenität“, ließ sich die Fliehkraft, die diesem Experiment innewohnt, erahnen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2008)

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