Vorwärts– wohin?

(c) Freitag
  • Drucken

40 Jahre Pharmaforschung in Wien-Liesing – und wie ihr ein Projekt namens „Forward“ den Garaus machte. Das Novartis-Forschungsinstitut: Anatomie einer Betriebsschließung.

Wenn's um die Wurst geht, dann ist man bei Irene Aberl richtig. Wenn's um die Burenwurst geht, um die Käsekrainer, um das Paar Frankfurter. „Wenn's um die Wurst geht“, steht über ihrem „Imbiss Zur Irene“ in Wien-Liesing, Carlbergergasse 44, und sicherheitshalber auch noch „Eingang“, sonst könnte es glatt sein, dass man gar nicht einzutreten wagt, so abweisend baut sich da eine Betonmauer vor dem präsumtiven Gast auf, eher Bunker denn Würstelbude.

Ihr Geschäft macht sie mit unterschiedlichsten Menschen, erzählt sie, mit Arbeitern, mit Geschäftsleuten, mit Einwohnern der Siedlung nebenan. Nicht mit den Mitarbeitern des Novartis-Forschungsinstituts, auf dessen Grund und Boden ihr Imbiss steht. Vielleicht deshalb, weil ihr einziger Zugang zu deren Gelände solide verschweißt ist. „Hochsicherheitsmaßnahmen“, sagt sie. Hochsicherheit für einen schon so gut wie geräumten Gebäudekomplex, ausgelegt auf 500 Mitarbeiter, zuletzt von 240 betrieben. Hochsicherheit für leere Buchregale, verlassene Labors, entsorgte Chemikalienbestände. Hochsicherheit für 120.000 Quadratmeter Industriegrund in guter Wiener Vorstadtlage, der seit Wochen über Otto Immobilien zum Verkauf angeboten wird. In Form einer Art Geheimaktion, in der niemand nichts von niemandem erfahren darf.

Auch Irene Aberl weiß nichts. Sie weiß nicht, dass verkauft wird. Sie weiß nicht, was verkauft wird. Keiner hat sie darauf hingewiesen, dass mit dem anstehenden Verkauf auch ihre Imbiss-Existenz gefährdet ist, keiner hat ihren Vertrag gekündigt. Dass es für jemanden wie Irene Aberl dabei ums Überleben gehen könnte, ist an entscheidender Managementstelle offenbar Wurst. Aber vielleicht hat man die einsame Würstlerin bis dato auch nur vergessen; wie so vieles andere, was vergessen, übersehen, ignoriert wurde seit vergangenem Herbst: seit irgendwo zwischen Novartis-Headquarter in Basel und der Zentrale der Novartis-Forschungsinstitute in Cambridge, Massachusetts, die Entscheidung fiel, die Wiener Außenstelle nach 40 Jahren durchaus erfolg- und folgenreicher Tätigkeit zu schließen.


Tagebuchzahl 16 aus 1968: Gut 50 Seiten ist das Konvolut an Kaufverträgen, Bescheiden, Vermessungsplänen stark, das im Grundbuch des Bezirksgerichts Liesing die vermutlich größte Forschungsinvestition eines Privatunternehmens markiert, die Österreich je gesehen hat. Von der Novartis AG ist da freilich noch lange keine Rede, die wird erst 1996 durch die Fusion von Sandoz und Ciba-Geigy entstehen. Im Liesing des Jahres 1968 ist noch Sandoz als Grundstückskäufer am Zug, genauer die „Sandoz Forschungsinstitut Gesellschaft m.b.H.“, eine Tochter des Basler Pharmariesen, gemeinsam mit der von Sandoz 1963 erworbenen „Biochemie Gesellschaft m.b.H.“ aus Kundl, Tirol. Verkäufer: nebst einigen Kleineigentümern vor allem die „Allgemeine Baugesellschaft – A. Porr AG“ mit Sitz in Wien. „Das war ein typisches Baugewerbegeschäft“, weiß Nikolaus Zacherl, Mitarbeiter der ersten Stunde am nachmaligen Sandoz-Forschungsinstitut, kurz SFI. „Die Porr sagte: Ihr könnts das haben, aber wir kriegen den Auftrag. Und sie hat den Bauauftrag gekriegt.“ Als Anfang Juli 1970 das Forschungsinstitut an der Ecke Carlbergergasse/Brunner Straße feierlich eröffnet wird, sind nach zeitgenössischen Sandoz-Angaben immerhin 830 Millionen Schilling in Grundankauf, Gebäudeerrichtung und Ausstattung investiert, durchweg finanziert aus Mitteln des Basler Stammhauses. Und auch wenn's heute keiner glauben will: Ein internationaler Big Player ließ sich da gar nicht lange bitten, er ließ sich vielmehr sein Forschungsengagement am Rande des Eisernen Vorhangs einiges kosten. Keine Rede davon, die Liesinger Liegenschaft sei um den später in vergleichbaren Fällen gebräuchlichen einen symbolischen Schilling an Sandoz gegangen. Keine Rede auch von den immer wieder kolportierten üppigen Förderungen des Unternehmens durch Stadt oder Republik. Selbst die gern bemühte Fama von der Opernvorliebe des Sandoz-Präsidenten Carl Maurice Jacottet dürfte deutlich weniger erklärungshaltig sein als die schlichte Macht der Fakten: Sandoz brauchte Facharbeitskräfte – und Wien hatte sie. Nikolaus Zacherl: „Österreich hat damals eine sehr gute wissenschaftlich-technische Mittelschicht ausgebildet, chemotechnische Assistenten, Mittelschulingenieure, die waren in Deutschland beispielsweise Mangelware.“

Auch Fachakademiker gab es an Ort und Stelle genug. „Außerhalb der akademischen Forschung existierten damals in Österreich nur sehr wenige forschungsorientierte Arbeitsplätze“, erinnert sich Anton Stütz. „Ich hab 1965 in Wien zu studieren begonnen, und so um 1967, 1968 ist die Information durchgesickert, es wird hier etwas gebaut. Das war nicht nur für uns Studenten ein Signal, sondern auch für viele Absolventen aus Wien, die aus Mangel an hiesigen Möglichkeiten ins Ausland gegangen waren: Die kamen jetzt zurück. Das war wie ein Vakuum, das gefüllt werden wollte.“

Seit damals hat das SFI nebst einigen Umbenennungen (NFI für Novartis-Forschungsinstitut, zuletzt NIBR für Novartis Institute for Biomedical Research) auch etliche Phasen der „Restrukturierung“ hinter sich gebracht. Und wenn es demnächst wegstrukturiert sein wird, dann wird als letzter Rest einstiger Forschungsgröße einzig Anton Stütz mit seiner Abteilung für Topische Dermatologie geblieben sein.


„Im Smalltalk hat man immer gesagt, die Wiener forschen so ein bisschen vor sich hin, und ansonsten sind sie lustig.“ Helmut Eckert kennt sie genau, die Stimmung, die dem Wien-Engagement vom ersten Tag an in der Basler Konzernzentrale entgegenschlug. 1964 ist er bei Sandoz eingetreten, hat alsbald Labors geleitet, von 1983 bis 1987 auch das Wiener SFI geführt, bis er als Leiter der Forschung im Stammhaus Basel in Pension ging. „Wien war immer ein ungeliebtes Kind.“

Dabei entbehrte die Sache nicht der Logik. Sandoz hatte sich mit der Übernahme der Biochemie in Kundl auf ein neues Feld begeben: das der Antibiotika und damit das der Infektionskrankheiten. Für ein solches forscherisch im Unternehmen bis dahin unbeackertes Terrain ein neues Forschungsinstitut zu etablieren schien durchaus folgerichtig. Zudem befand sich die gesamte Pharmaforschung in einer Phase der Dezentralisierung: „Die Abweichungen der behördlichen Vorschriften, die Verfügbarkeit von Arbeitskräften und Rohstoffen, technologische Möglichkeiten und Umweltbedingungen stellten die international tätigen Pharmaunternehmen vor die Alternative, entweder im Mutterland Mitarbeiter einzustellen, die mit den Problemen der internationalen Entwicklung vertraut sind, oder im Ausland kleine, aber wirksame Entwicklungslaboratorien einzurichten“, erläutert Christian Zeller in seinem wuchtigen Band „Globalisierungsstrategien – Der Weg von Novartis“ (erschienen bei Springer).

1964 eröffnet Sandoz sein erstes Forschungsinstitut jenseits der Schweizer Grenzen: in East Hanover, New Jersey. Doch schon die zweite Auslandsstation ist Wien. Sicher, solange Carl Maurice Jacottet in Basel das Sagen hat, geht alles einen guten Gang. Mit seinem Rückzug zerbröselt freilich die ohnehin schwächliche Achse Basel–Wien. Phasen der wissenschaftlichen Um- und Neuorientierung gipfeln schließlich 1986 in einer ersten schweren Krise: „Eigentlich wollte man schon damals das Institut schließen“, glaubt Hans Loibner. Dass es dazu doch (noch) nicht kam, sei eng mit dem damaligen Leiter des SFI, Helmut Eckert, verbunden: „Der hat sehr darum gekämpft, den Standort zumindest in reduzierter Form zu erhalten.“ Loibner seinerseits, ab 1977 im SFI, zählt 1986 zu den Gewinnern der Reduktion: „Ich habe in der neuen Organisation ein Drittel des ganzen Instituts als Leiter bekommen, und da war die erste Aufgabe zu entscheiden, wer bleibt und wer geht – das möchte ich nicht noch einmal machen.“

Gut zwei Jahrzehnte später ist Loibner mit seiner Firma Apeiron einer von einem halben Dutzend kleiner Biotech-Einmieter auf der Liegenschaft des Pharmakonzerns, die genauso wenig wie die Würstlerin wissen, wie und was ihnen geschieht. Gut zwei Jahrzehnte später hat sich auch der Name des Konzerns geändert, von Sandoz zu Novartis – und die Managementphilosophie. Helmut Eckert: „Jobsicherheit, das war zu meiner Zeit keine Frage, wenn man keine silbernen Löffel gestohlen hat, war das eine Lebensstellung. Deswegen war es auch leichter, für etwas zu kämpfen, ich konnte mir einiges erlauben und wusste, das wird mich trotzdem nie in meinem Fortkommen behindern. Man gehörte zur Sandoz-Familie, das war ein patriarchales Systems.“ Und heute? „Wenn die Leute nicht spuren, fliegen sie.“ Dass damit womöglich höhere Leistungsbereitschaft verbunden sei, bezweifelt Eckert: „Gegenwärtig geht sehr viel Kraft durch den Kampf um den Job verloren.“ Und die Leute, die es sich im patriarchalen System von ehedem gemütlich eingerichtet haben? „Die gibt's jetzt genauso. Die Mitläufer benehmen sich nur anders, aber von der Grundhaltung her kommt es aufs Gleiche hinaus.“


Du sollst dich andie gesetzlichen Vorgabenhalten. Du sollst deine Kollegen fair, höflich und respektvoll behandeln. Du sollst keine Bestechungen annehmen oder anbieten. Wäre der Novartis-eigene „Code of Conduct“ auf dem Berg Sinai in Stein geschlagen worden, dann würde er sich ungefähr so lesen. Alle Mitarbeiter müssen sich bei Eintritt ins Unternehmen zu obgenannten Selbstverständlichkeiten sehr ernsthaft verpflichten. Eine Übung, wie man sie auch von anderen Großunternehmen kennt. Und die uns in der beruhigenden Gewissheit hinterlässt, ein möglicher, in volatilen Arbeitswelten wie den derzeitigen sogar wahrscheinlicher Rausschmiss werde immerhin fair, respektvoll und höflich vor sich gehen.

Das bringt unsere Zwischenmenschlichkeit gewiss genauso viel weiter wie die Einrichtung eines Tages im Jahr, an dem wir verordnetermaßen so richtig sozial aktiv sein dürfen: An diesem „Community Partnership Day“ engagieren sich „jährlich und rund um den Globus die MitarbeiterInnen von Novartis für lokale soziale Projekte und Institutionen“, erfährt man aus der Broschüre „Novartis Austria 2007“. Und: dass dieser wunderbare eine Tag „von Dr. Daniel Vasella persönlich ins Leben gerufen“ worden sei. Welchselbiger die Basler heilige Novartis-Dreifaltigkeit repräsentiert: „CEO und Präsident und Delegierter des Verwaltungsrates“ in einem. Wer braucht da noch den lieben Gott? Folgerichtig ist das, was Vasella sagt, Gesetz. Und Widerspruch auch gegenüber seinem Erzengel Mark Fishman, Hüter aller Novartis-Forschungsinstitute, nicht vorgesehen. Wie anders ließe sich die völlig verständnislose Miene erklären, mit der Jan de Vries, letzter Leiter des Wiener NIBR, auf die Frage reagiert, ob er sich denn nicht intern irgendwie zur Wehr gesetzt habe, als Fishman die Schließung dekretierte. Erst Schweigen. Dann ein irritiertes: „Das war doch eine strategische Entscheidung...“ Und strategische Entscheidungen kommen in modernen Managementzeiten, so scheint's, mindestens ex cathedra. Wenn nicht direkt von noch weiter oben.


Elidel®, Exoderil®, Sandovac® und wie sie sonst noch heißen: die Wiener Beiträge zum großen Novartis-Apothekenschrank. Allen voran Lamisil®, „weltweit der Standard zur Behandlung von Pilzinfektionen der Haut und der Nägel“. Sagt Novartis. Und bis heute, nach Ablauf des Patents, noch immer unter den „20 führenden pharmazeutischen Produkten“ des Hauses. Sagt die Novartis-Bilanz 2007. Ein veritabler Blockbuster, aus dessen Gewinn allein „das Wiener Forschungsinstitut 500 Jahre lang zu finanzieren gewesen wäre“, wie Hans Loibner meint. Aber wen interessiert das, wo es um das Große, das Forschungsganze geht? „Project Forward“ heißt das Stichwort, unter dem Novartis im Herbst 2007 nach Kostensenkungspotenzialen fahndet. Und auch in Wien fündig wird.

18. Dezember 2007, 13.18 Uhr und 38 Sekunden. Eine Eilt-Meldung der „Austria Presse Agentur“: „Novartis schließt Forschungsbüro Wien mit 240 Mitarbeitern“. Das erfahren eben auch die Betroffenen – per Life-Video-Schaltung aus der NIBR-Zentrale in Cambridge, Massachusetts. In aller Regel sei er „bei solchen unangenehmen Anlässen persönlich anwesend“, wird NIBR-Präsident Fishman später erläutern, in diesem Fall sei das aber nicht möglich gewesen, weil zur selben Zeit mehrere Informationen an verschiedene Novartis-Standorte weitergegeben werden mussten, so auch die Schließung des NIBR im japanischen Tsukuba. Und wir dürfen uns in den buntesten Farben Mister Fishmans Bedauern ausmalen, dass er nicht an Ort und Stelle die frohen Botschaften verkünden konnte.

Festzuhalten bleibt, dass „Project Forward“ formidabel Wirkung zeigt: Schon die wenige Wochen später veröffentlichte Novartis-Bilanz des Jahres 2007 weist einen Rekordgewinn von zwölf Milliarden Dollar aus. Im Übrigen folgt die – wie soll man sagen – Neu- und Um- und Andersorganisierung des Forschungsbereichs selbstredend nicht schnödem Gewinnstreben, sondern einem klaren, inhaltlich bestimmten Prinzip. Und mit derselben Verve, mit der man früher vom „optimalen Minimum“ sprach, um Forschung in kleinen Einheiten zu legitimieren, wird jetzt die „kritische Masse“ bemüht, wenn es gilt, in gegenläufiger Bewegung Konzentrationsprozesse zur Conditio sine qua non zeitgemäßer Forscherei zu erklären. Diese „kritische Masse“ sei eben in Basel oder in Cambridge, aber nicht in Wien erreicht. Basta.

Also werden die Wiener Forschungsagenden in das kritischer bemasste Basel abgesiedelt, und das hiesige Personal, das sie bis dato betreute, wird an die Liesinger Luft gesetzt. Abgesehen von einer Handvoll Auserwählter, die man nebst Laborjournalen und wenigen teureren Geräten in die Übersiedlungskartons packt. Abgesehen auch von Anton Stütz' Miniabteilung für Topische Dermatologie – die darf bleiben. Offenbar weil ihre rund 25 Mitarbeiter allein jene kritische Masse erreichen, die sie gemeinsam mit ihren vormaligen Kollegen nicht hatten. Oder weil das neue Massen-Paradigma für sie halt nicht gilt. In Wahrheit wohl, weil Lamisil-Entwickler Stütz etwas gelungen ist, woran das Institut als Ganzes – laut Nikolaus Zacherl – scheiterte: daran, „sich als unverzichtbarer Player in der Novartis-Welt zu etablieren“.

Der Vorhang zu und alle Fragen offen, heißt's frei nach Brecht. Mark Fishman erhebt's zum Führungsprinzip. Als die Wiener NIBR-Belegschaft am 18.Dezember auseinandergeht, ist nur eines sicher: Das Forschungsinstitut wird geschlossen. Sonst nichts: kein Wann, kein Wie, kein Irgendwas. Management by Schmeck's. Als hätte sich der NIBR-Präsident mit einer eigenen Entscheidung selbst am falschen Fuß erwischt. Bei einem Institut, das schon von der Eröffnung weg für eine Schließung gut ist, kann man ja nicht wirklich annehmen, dass das seit Jahrzehnten Herbeigeredete dann auch tatsächlich passiert. Und schon gar nicht kann man darauf vorbereitet sein.

Das später medial breit gespielte „That's it“ als zynisches Finale der Schließungsverkündigung ist vergleichsweise bestenfalls eine Randnotiz wert (und im Übrigen nicht Fishman, sondern Jan de Vries zuzuschreiben, der es – und wir dürfen ihm glauben – ohne Arg gesagt haben will). Bemerkenswert, wie viel Raum Fishman später einem Dementi dieser Marginalie gibt – und wie wenig darüber zu hören ist, warum (nur so beispielsweise) der Betriebsrat mit keinem Wort von der Schließung vorinformiert war, was möglicherweise nicht in Cambridge, aber sicher am Wiener Stadtrand guter Brauch ist. Oder wieso man das Wiener NIBR offenkundig ohne jede Abschätzung der Konsequenzen und quasi bei lebendigem Leib zu Grabe trug.

„Ein bisschen Klarheit hatten wir erst nach zwei, drei Monaten“, bekennt selbst der sonst so Novartis-konkordante Jan de Vries. Nach zwei, drei Monaten, in denen sich allmählich die Nebel über einigen kleineren Komplikationen der Liesinger Realität lichteten. Etwa dass das NIBR nicht allein Eigner und Nutzer der riesigen Liegenschaft ist und folgerichtig gar nicht allein darüber bestimmen kann, sondern Teile davon der Konzernhandelsschwester Novartis Pharma, weitere der Generika-Tochter des Hauses als Arbeitsplatz dienen, die unter dem guten alten Label Sandoz produziert. Andererseits hat die Infrastruktur der gesamten gut zehn Objekte umfassenden Anlage ihr Herz ausgerechnet im NIBR-Gebäude – ohne Betrieb dort geht auf der ganzen Liegenschaft so gut wie gar nix. Mit ihrem Coup vom 18.Dezember hat die NIBR-Führung also nicht nur die eigene Belegschaft, sondern – mangels Interesse ahnungslos – auch andere Gesellschaften des eigenen Konzerns düpiert, die sich bis heute wenig geneigt zeigen, ihre Büros auf dem Novartis-Gelände so ohne Weiteres aufzugeben. Immerhin ist es mittlerweile gelungen, einen gemeinsamen Verkauf in die Wege zu leiten, nachdem man sich in einem Erstversuch nicht einmal auf dieses Mindesterfordernis hatte einigen können.

Und was die Zukunft von Sandoz und Novartis Pharma auf dem Gelände betrifft, scheint mancherseits die Hoffnung zu bestehen, beide könnten nach einem Eigentümerwechsel ihre derzeitigen Gebäude vom neuen Eigner rückmieten. Es gebe jedenfalls „etliche Dinge, die zusätzlich zum Preis in die Entscheidungsfindung eingebracht werden, welches Angebot angenommen wird“, versichert Hubert Hirzinger, Finanzleiter von Novartis Österreich. Der hat die angenehme Aufgabe übernommen, die Interessen der drei beteiligten Novartis-Töchter unter einen Hut zu bringen. Dass so jemand nötig ist – das zu erkennen, hat es seitens eines Weltkonzerns bis Ende Mai, fünfeinhalb Monate gebraucht.

„Kapitalismus forte®“ steht links oben auf der Medikamentenschachtel, rechts unten das Novartis-Logo und an der Seite: „Achtung: Dieses Arzneimittel kann Ihren Arbeitsplatz und den Wirtschaftsstandort Österreich massiv gefährden.“ Vor heimischen Apotheken hätten sie verteilt werden sollen, diese Schachteln, damals, Anfang des Jahres, als es der Gewerkschaft nach wochenlangem Kampf und einer Kanzler-Intervention in Basel zwar gelungen war, überhaupt erst einmal einen Ansprechpartner für die anstehenden Verhandlungen rund um Kündigungs- und Abfertigungsmodalitäten der Wiener Betriebsschließung zu bekommen, das dazu auserwählte Novartis-Team sich aber zu so gut wie keiner Konzession geneigt zeigte. „Irgendwann dürfte durchgesickert sein, was wir vorhaben“, erzählt Karl Proyer, sachzuständig in der Gewerkschaft der Privatangestellten, „und da hat das Management das Aussetzen der Aktion verlangt und im Gegenzug ordentliche Verhandlungen angeboten.“

Stimmt natürlich nicht. Genauso wenig wie die Behauptung, Novartis habe sich von einer Unterschriftenaktion im EU-Parlament beeindrucken lassen: einer „Schriftlichen Erklärung zu den menschenverachtenden Kündigungspraktiken des Schweizer Konzerns Novartis“, initiiert von den SP-EU-Abgeordneten Herbert Bösch und Harald Ettl, mitgetragen vom Fraktionsführer der VP-EU-Parlamentarier, Othmar Karas. Nein, mit Freude und aus freien Stücken hat Novartis gegeben, was Novartis geben konnte: „Wir freuen uns darüber, dass wir einen fairen und umfassenden Sozialplan erreicht haben, der im Einklang mit den von Novartis getragenen globalen Standards gesellschaftlicher Verantwortung steht“, lässt sich Mark Fishman nach Abschluss der Verhandlungen, am 18.April, in einer Novartis-Aussendung vernehmen. Hand aufs Herz: Wer von uns möchte nicht einmal so ganz und gar von global-gesellschaftlichem Verantwortungsgedankengut durchdrungen sein.

Zur selben Zeit hat sich im Hintergrund schon eine Gruppierung formiert, der nicht nur eine weitere Bespielung des Novartis-Forschungsgebäudes, sondern auch eine weitere Beschäftigung zumindest eines Teils der Mitarbeiter Anliegen ist. Die Grundidee dazu stammt von Josef Penninger, seines Zeichens Leiter des Instituts für molekulare Biotechnologie (IMBA) der Akademie der Wissenschaften, und Nikolaus Zacherl, einer seiner Mitstreiter in der Sache, erläutert sie: „Es geht um den Brückenschlag von der Grundlagen- zur industriellen Forschung, diese Verbindung funktioniert derzeit nicht. Und die NIBR-Mitarbeiter haben genau das Know-how, das dazu nötig ist.“ Ein „Translation-in-research-Center“ soll es werden, „das akademische Ergebnisse aufnimmt, weiterentwickelt und in Richtung Verwertung weitertreibt“.

Als Großinvestor hofft man Raiffeisen gewinnen zu können, nebstbei auf eine „Anschubfinanzierung“ durch Bund und Stadt, als Käufer der Liegenschaft soll die Bundesimmobiliengesellschaft ein Anbot im offiziellen Bieterverfahren stellen. Was sie auch tun wird. Nur: So dürr, wie die Bestätigung dortselbst daherkommt, dürfte vermutlich auch ihr bieterisches Engagement gestaltet sein. Ansonsten allseits unverbindlich freundliche Nasenlöcher und wenig Konkretes: Im Wissenschaftsministerium wartet man einen Businessplan ab, der über den Sommer erstellt werden soll. Die ressortzuständige Wiener Stadträtin wiederum, Vizebürgermeisterin Renate Brauner, findet das Projekt „sehr spannend“; die Suspense scheint nur insoweit limitiert, als die Stadt ihr einschlägiges Engagement derzeit „zu konzentrieren und zu fokussieren“ versucht. Schließlich: „Mit der Muthgasse und dem Campus in St. Marx gibt es zwei stetig wachsende Life-Science-Standorte in Wien.“ Und irgendwann ist es ja auch einmal genug mit dem Biotech.

Während solchermaßen viel Zeit vergeht, fallen die geschlossenen Arbeitsteams des vormaligen NIBR, die Zacherl für sein Center dringend bräuchte, Person für Person auseinander: Die Jüngeren finden anderweitig oder auch andernorts neue Beschäftigung, manche werden in der „Offenen Arbeitsstiftung Wien“ aufgefangen, anderen, Älteren, bleibt nur die Hoffnung, sich irgendwie bis zur Pensionierung durchfretten zu können.

Draußen auf den 120.000 Quadratmetern an der Ecke Carlbergergasse/Brunner Straße ist es ruhig geworden. Das große NIBR-Gebäude: weitgehend leergeräumt. In den Objekten rundum: das große Warten auf den künftigen Eigentümer. 40 Jahre Forschung: ein Fall für die Archive. Was sonst noch bleibt, wird als Sondermüll in der 11. Haidequerstraße verbrannt. Ergebnis: heiße Wiener Luft – und grauschwarze Schlacke. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.