Ein Kind wird geschlagen

(c) Die Presse (Archiv, Belleville)
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„Oh, ich merze alles Unzulängliche aus.“ Züchtigungen vor zahlendem Publikum: der spektakuläre Wiener „Sadisten-prozess“ 1924. Über den Fall der Lehrerin Edith Cadivec und ihre jetzt neu herausgekommenen "Bekenntnisse".

In der Wiener Innenstadt entfloh am 22. Dezember 1923 ein zwölfjähriges Mündelkind namens Grete Pilz aus dem Haushalt seiner Pflegemutter. Zwei Tage später, am Heiligen Abend, die Ausreißerin ist inzwischen aufgegriffen, wird Strafanzeige erstattet gegen ebendiese Pflegemutter, eine gewisse Edith Cadivec, 44, die sich auch Edith de Cadwéc oder Baronin Cadwé nennt und die in ihrer geräumigen Dachwohnung im Hause Biberstraße 9, hinterm Café Prückel, eine Art private Sprachschule betreibt.
Das abgängige Kind wurde bei eisiger Kälte aufgegriffen auf dem Wilhelminenberg, der Amtsarzt konstatierte blutunterlaufene Striemen „in der Gesäßgegend“, das Kind gibt zu Protokoll: Es sei von Frau Cadivec regelmäßig, zuletzt „vier Tage vor meiner Flucht“, schweren Züchtigungen unterzogen worden, „bis ich nicht mehr stehen und sitzen konnte. In die Schule bin ich gar nicht mehr gegangen, da sie mich privat selbst unterrichtete. Geprügelt wurde ich nur dann, wenn ein Herrenbesuch kam; mir wurden dann so schwierige Aufgaben zum Lernen gegeben, dass ich eben Fehler machen musste.“ Die Besucher hätten ihr, der Cadivec, 300.000 Kronen für jede Vorführung gezahlt (was etwa dem Wochenlohn einer Bedienerin entsprach).
Eine Hausdurchsuchung am 3. Jänner 1924 bringt Kollektionen von Riemen- und Lederzeug zutage, spanisches Rohr und Birkenrute, Rossschweif und Kosakenpeitsche, ferner sadomasochistische Bilder, Kataloge und Briefschaften. Im Besonderen aber gelangt die Polizei an das Haushaltsbuch der Sprachschule mit den – teils chiffrierten – Namen der Stammgäste und den Tageseinnahmen.

Noch am selben Abend wird Edith Cadivec in Untersuchungshaft genommen; noch am selben Abend kommt es zu weiteren Verhaftungen.
So beginnt ein ebenso dramatisches wie obskures Kapitel der österreichischen Kriminalgeschichte, der große „Sittenskandal“ in jenem von Inflation, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot geprägten Nachkriegswien; ein Skandal, der sich in einem so benannten Sensationsprozess entlud, mit diesem freilich sein Ende nicht fand. Der Fall der Sprachlehrerin, Erzieherin und Pflegemutter Edith Cadivec wühlte nicht nur die breite Öffentlichkeit auf, er war auch Anlass geradezu sinnlich erregter Diskussionen in intellektuellen Salons; ja, die ganze Sache erlangte eine derartige Popularität, dass sie sich im Sprachgebrauch abbildete: Als Synonym für Flagellation bürgerte sich im Wienerischen jener Jahre der Ausdruck „cadivezzln“ ein. Jemanden „cadivezzln“.

Spektakulär war der Fall einmal aufgrund des verhandelten Themas („Sadismus am Kinde“); spektakulär weiters wegen der involvierten Personen, die durchwegs den besseren und besten Kreisen der Stadt angehörten; spektakulär wegen der Urteile im Strafprozess; spektakulär schließlich, Jahre später, noch einmal: als nämlich Edith Cassdivec 1931 ihre „Bekenntnisse und Erleb-
nisse“ veröffentlichte – die nun, 2008, in
einer Neuausgabe erscheinen mitsamt einem Dossier zur Autorin sowie mit Auszügen aus dem umfangreichen, im Wiener Stadt und Landesarchiv erhaltenen Strafakt.

Eng anliegende Strafhöschen
aus dünnem weißem Glacéleder

Verhaftet werden am Abend der Hausdurchsuchung und an den folgenden Tagen mehrere Frequentanten der Sprachschule. Und zwar, unter anderen.
Der Außenpolitiker und gewesene Baron Leopold Chlumecky, Sohn des k. k. Ministers und Gründers der Wiener Hochschule für Bodenkultur, Johann von Chlumecky.
Der Teppichhändler Paul Kotanyi, „Grand Hotel wohnhaft“; er trat in der Biberstraße als der „Herr Schulinspektor“ auf.
Der Universitätsdozent der Augenheilkunde Ernst Bachstez; dieser wurde, genau genommen, auf freiem Fuß angezeigt, auf seine Einlieferung ins Landesgericht verzichtete man „mit Rücksicht auf seine Angabe, dass er auf der Klinik den abwesenden Primarius vertrete und dringende Operationen vorzunehmen habe“.
Als Jüngster der 27-jährige Walter Taussig, ehemaliger Schottengymnasiast, Beruf: „einziger Sohn“ eines bekannten Industriellen, und als Einziger laut Polizeiprotokoll „rückhaltlos geständig“. Nach späterer Darlegung der Edith Cadivec „saß er auf dem Diwan, hatte zum Schein eine Zeitung in der Hand, verfolgte aber in ungeheurer Erregung alle Phasen der Züchtigungen. Vollkommen angezogen, die Hand tief in der Hosentasche vergraben, onanierte er wie wahnsinnig, bis kolossaler Samenerguss eintrat.“
Unter den Klienten der Cadivec noch: Fabrikanten, ein Sektionsrat, ein Burgschausspieler, ein Korrepetitor von der Staatsoper.
Drei weitere Kinder, Knaben und Mädchen, werden in diesen Jännertagen 1924 ausgeforscht, die von der Lehrerin zu rituellen Züchtigungen herangezogen wurden. Nie ganz einwandfrei konnte geklärt werden, inwieweit Cadivec' leibliche Tochter, die 13- jährige Edith-Françoise, in das Geschehen inzestuös eingebunden war, zumal sie sich im Strafprozess der Aussage entschlug. „Ein einziges Mal habe ich die Mama aus Spaß im Bade auf ihren Geschlechtsteil geküsst“, so die Gymnasiastin zum Untersuchungsrichter. Man übergibt sie übrigens, ebenso wie die Pflegetochter Grete Pilz, gleich nach Auffliegen der Affäre dem Luisenheim für gefährdete Kinder.
Die Prüfungen und Bestrafungen wurden im Salon vorgenommen. Zum Verfahren gehörte – wie es in den Zeugenaussagen der Kinder nahezu übereinstimmend dargestellt wurde –, dass das Kind den Besuchern entweder en face vorgeführt oder von diesen durch einen Türspalt beobachtet wurde. Zum Verfahren gehörte, dass das Kind eine besonders schwierige Prüfungsfrage nicht zu beantworten wusste. Dass das Kind vielfach das Strafinstrument sich selbst aussuchen durfte. Dass es selbst das Gesäß zu entblößen, zuweilen auch ein eng anliegendes, aus dünnem weißem Glacéleder gefertigtes sogenanntes Strafhöschen anzuziehen hatte. Dass es sodann von der auf einem Sessel sich niederlassenden Lehrerin, die ihre Kleider hochschürzte, übers Knie gelegt wurde. Dass es mitunter die Anzahl der Schläge respektive Streiche mitzählen musste. Dass diese gelegentlich äußerst langsam verabfolgt wurden. Dass das Kind nach der Bestrafung noch eine Zeit lang „zum Auskühlen“, um es „ausrauchen zu lassen“, entblößt im Zimmer kniend verweilen musste. Dass es der strengen Lehrerin die Hände zu küssen hatte, von ihr schließlich Trost gespendet und Näschereien geschenkt bekam. Dass die Lehrerin nach solchen Exekutionen, mit vibrierenden Nerven im Fauteuil sitzend, eine Zigarette rauchte, wobei einer der Zuschauer, der Masochist war, vor ihr zu knien und sein Gesicht in ihren Schoß zu drücken pflegte.
Als erste Zeitung – „uns liegt wahrlich jede Sensationsgier fern“ –, exklusiv also, berichtet die „Neue Freie Presse“ in ihrer Nachmittagsausgabe vom 7. Jänner 1924 über die Verhaftungen und die Vorgänge in der Sprachschule. Bereits am 9. Jänner kritisiert die „Arbeiter-Zeitung“ den Wiener Polizeipräsidenten Schober, „gewissen kapitalistischen Blättern“ Informationen zur Verfügung zu stellen, „während sich die offizielle Polizeikorrespondenz in Schweigen hüllt“. Es entbrennt naturgemäß ein Kampf um Informationen – und bald auch um Deutungen des Geschehens. Der Bogen spannt sich von robuster Vorverurteilung im notorisch hetzenden „Abend“ bis zur Verteidigung einer „neuen sexuellen Freiheit“ im „Tribunal“. Alles harrt denn auf den schaurig-schönen „Sadistenprozess“, der für Ende Februar 1924 im Wiener Landesgericht anberaumt ist; und tatsächlich wird in den österreichischen Zeitungen die Berichterstattung dass über jene über den gleichzeitig in München stattfindenden Hochverratsprozess gegen Hitler überdecken.

„Warum vermeidet man so ängstlich, ein Kind ,aufzuregen‘?“

Längst ist unterdessen die große Stunde der Leumundszeugen und strafrechtlich entlastenden psychiatrischen Gutachter gekommen. Der gewesene Baron Chlumecky bietet den Fürsten von Babenhausen aus dem schwäbischen Geschlecht der Fugger als Leumundszeugen auf. Für den Universitätsdozenten Bachstez sagt der Psychiater Julius Wagner-Jauregg vor dem Untersuchungsrichter aus. Der Industrielle Ludwig Taussig legt gleich fünf ärztliche Gutachten zur psychischen Verfassung seines angeklagten Sohnes vor, zuletzt ein Attest des Psychoanalytikers Ludwig Jekels: „Herr Walter Taussig, vom Herrn Univ.-Prof. Dr. Sigmund Freud an mich gewiesen, machte mir den Eindruck eines auch infolge schwerer erblicher Belastung psychopathischen Menschen . . . unzweifelhaft das Gepräge des Zwanghaften . . .“
Der Sittenprozess Ende Februar 1924 gegen „Cadivec Edith u. Genossen“ findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Von Anfang an, und angesichts erdrückender Indizien, pocht die Hauptbeschuldigte auf ihre Unschuld. Ja, durchaus, sie habe gezüchtigt: animo corrigendi, in erziehlicher Absicht. „Oh, ich merze durch unerbittliche Strenge alles Unzulängliche aus.“ (Dem häuslichen „Züchtigungsrecht“ zog das Gesetz nur im Falle schwerer Körperverletzung Grenzen. „Einführung in das österreichische Strafrecht“, 1923, verfasst vom Wiener Landesgerichtspräsidenten: „Die heilsame Wirkung einer körperlichen Züchtigung zu rechter Zeit wird wohl niemand in Abrede stellen wollen.“)
Sie habe gezüchtigt, keineswegs aber unzüchtig berührt. „Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass ein Kind die Sensation der körperlichen Züchtigung durch die Mutter oder die dazu berufene Frau braucht, um nicht in trostloser Eintönigkeit einer rein materiellen Erziehung sein Empfindungsleben, seine Fantasie und künstlerischen Neigungen verkümmern zu lassen. Warum eigentlich vermeidet man so ängstlich, das Kind ,aufzuregen‘? Ich finde im Gegenteil, dass nur durch ,Aufregungen‘ der Geist und das Empfindungsvermögen des Kindes ins Ungeahnte gesteigert werden könnten.“
Und wenn sie, Edith Cadivec, bei Vollzug einer wohlverdienten Züchtigung erotisch erregt würde, so vermöge sie die Strafbarkeit dieser Handlungsweise nicht einzusehen. Schicksalhafte Naturveranlagung dürfe einen Staatsbürger nicht in den Kerker bringen. – Warum sie die Bestrafungen vor zahlenden Zuschauern veranstaltet habe, darüber schweigt sie sich jedoch aus.
Wer ist diese Edith Cadivec? Die Cadivec ist, nach Einschätzung der Fachleute in den Zeitungsredaktionen, „vielleicht nicht hübsch“, bestenfalls „nicht unhübsch“. Aber sie ist pikant und sehr mondain in jedem Fall. Sie kennt die Luft bei Sils-Maria und im Casino von Deauville. Sie hat Gönner. Sie beherrscht die feine Sitte und Allüren à tout prix. Den Nachweis, in Paris mit einem ungarischen Baron verheiratet gewesen zu sein, kann sie allerdings zeitlebens, so auch jetzt in Wien im Prozess, nicht erbringen.
Tatsächlich stammt sie von einem Eisenbahnbeamten ab, aus dem Istrischen. Tatsächlich kommt sie mit 11 Jahren ins Pensionat nach Graz zu den Schulschwestern. Deren Pädagogik kennt nur Körperstrafen. „Als es vorbei war, fühlte ich, dass es mir guttat. Meine Hand, die sich am Bein der Nonne festhielt, zauberte mir die Verbindung mit der strafenden Mutter vor. Ich war schon 16 oder 17 Jahre alt, als ich noch immer gezüchtigt wurde.“ Tatsächlich besucht sie danach in Graz die Lehrerinnenbildungsanstalt der Ursulinen mit Erfolg. Eine junge Frau will Lehrerin werden. „Ich fühlte die lustbetonten Momente, die in dieser Betätigung des Führens, Leitens und Lehrens liegen, schon früh heraus. Ich bewunderte als Kind die Erziehungsgewaltigen in ihrer unumschränkten Macht über ihre Unterstellten.“ 1904 nimmt sie eine Anstellung im Lycée de filles von Notre-Dame in Paris an, später wirkt sie in Wiener Bürgerhäusern als Erzieherin.

Sie kann sich indes in die untergeordnete Position nur schwerlich finden. Sie leidet an der Kleinheit und Mittelmäßigkeit der Verhältnisse und Menschen. „Ich betrachtete das bornierte Leben meiner Eltern.“ Sie vergöttert Nietzsches „Zarathustra“ und verachtet Ehe und Gattenliebe „in verheuchelter Gesellschaft“, „den Schlamm einer bürgerlichen Kaninchenerotik“.
„Einen normalen Geschlechtsverkehr mit Männern perhorresziere ich.“ Vater ihrer Tochter ist ein Franz Graf Schlick, der die interessante Dame 1909 via Zeitungsinserat kennenlernt. Der Graf empfindet ausgesprochen masochistisch. Er trägt zu Hause Mädchenkleider. „Ich nahm ihn wie ein Werkzeug, um mich zu schwängern, aus dem Trieb nach Mutterschaft heraus.“ Die Besamung, wie Cadivec sie in ihren „Bekenntnissen“ eingehend schildert, findet rittlings statt in einem Forsthaus der gräflichen böhmischen Güter. „Franzl“ ist dabei auf der Strafbank angeschnallt, bis er endlich – „j e t z t !“ – sein „heißes, weißes Herzblut“ opfert. Der Graf zahlte die Alimente stets pünktlich.
Die Frau kann sich in untergeordnete Positionen nicht finden. So eröffnet sie, wenige Jahre später, 1916, endlich ihr eigenes Institut, ihre „Privatschule für moderne Sprachen“ in der Biberstraße. Sie beginnt, mittwochs in der „Neuen Freien Presse“ zu annoncieren. „Energischen Unterricht erteilt disting. Lehrerin bei strengster Disziplin“, „Energische Methode für Anfänger und Vorgeschrittene“, „Institutrice très autoritaire . . . un bon système . . .“
Nach dreitägiger Verhandlung, am 1. März 1924 – „das Graue Haus war von Massen umlagert“, so die „Neue Freie Presse“ –, verurteilt ein Schöffensenat die Hauptbeschuldigte Edith Cadivec zu sechs Jahren schweren Kerkers, verschärft durch einen Fasttag vierteljährlich, wegen des Verbrechens der Schändung und des Verbrechens der Verführung zur Unzucht in einem Abhängigkeitsverhältnis. Als erschwerend bewertet das Gericht, „dass die Cadivec ihre Prügelmethoden nur ärmeren Kindern gegenüber zur Anwendung brachte“ – oder sie gar, wie im Fall der Grete Pilz, als Pflegekind aufnahm –, „weil sie von dieser Seite weniger Entdeckungen zu fürchten brauchte“.

Karl Kraus und Alfred Polgar attackieren das Gerichtsurteils

Der Industriellensohn Taussig und der Teppichhändler Kotanyi kommen mit bedingten Haftstrafen davon. Die übrigen Angeklagten werden freigesprochen.
Karl Kraus bezeichnet in der „Fackel“ das Urteil als „sadistisch“; Alfred Polgar im „Tage-Buch“ nennt es „mörderisch“: „Sechs Jahre schweren Kerkers . . . das heißt gegen die Peitsche den Totschläger setzen. Der Sadismus ist eine Berufskrankheit der Richter, etwa wie die Bleivergiftung der Bleiberg-Arbeiter oder die Wadenmuskelhypertrophie der Tänzer. Man sollte die Verurteiler, ehe man sie verurteilt, gerichtspsychiatrisch untersuchen lassen.“
In einem Zeitungsinterview nach Prozessende äußert sich der Vorsitzende Richter des Schöffensenats: „Ich verstehe es, dass die Tatsache, dass eine krankhaft veranlagte Frau zu sechs Jahren Kerker verurteilt wurde, während die Leute, die ihre krankhafte Veranlagung ausgenützt haben, frei herumlaufen, Befremden erregen kann. Ob da etwas hinter den Kulissen mitgespielt hat, kann ich nicht sagen.“
War Klassenjustiz im Spiel? Patriarchalische Geschlechterjustiz? (Wie die Mentalitätsforscherin Neda Bei im Dossier zur vorliegenden Neuausgabe der „Bekenntnisse“ erwägt.) Standen den mitbeschuldigten Männern – Angehörigen des Beamten-, Mediziner- und anderen Adels –, standen ihnen Wege offen, die der falschen Baronin, dieser hochstapelnden Fuchtel aus der Biberstraße, verschlossen blieben? War die Cadivec das Damenopfer in der Partie? (Doch immerhin, ist diese Dame denn nicht die stärkste Figur im Spiel?)
Im Dezember 1925 allerdings, zwei Jahre sind vergangen seit der Flucht des Pflegekindes Grete Pilz aus dem Haushalt in der Biberstraße, wird Edith Cadivec der Amnestie des Bundespräsidenten Hainisch teilhaftig und aus dem Gefangenenhaus St. Pölten entlassen.

Was geschah mit dem Pflegekind? Was mit der eigenen Tochter?

Sie vegetiert fortan in möblierten Zimmern. Ihre Tochter bleibt ihr per Gerichtsbeschluss entzogen: Die von ihr areligiös erzogene Edith-Françoise ist in einer streng katholischen Korrektionsanstalt untergebracht, höhere Schulbildung bleibt ihr verwehrt (wie auch dem Pflegekind Grete Pilz, doch für diese arme Halbwaise war Bildung ja ohnedies nie vorgesehen).
„Bekenntnisse und Erlebnisse“ - unter diesem Titel hat Edith Cadivec 1931 eine kolossale Abrechnungs-, Rechtfertigungs- und Erotikschrift als Privatdruck veröffentlicht für die „wirklichen Intelligenzkreise“. Das Werk, unverdrossen im Banne der Gesäßerotik, galt lange als „Bibel“ (Armand Coppens) der weiblichen Sadisten und männlichen Masochisten. „Und in wilder Verzückung senken sich meine brennenden Rutenküsse auf die dargebotenen, tanzenden – wie süß!  w i e süß!!! – Halbkugeln nieder . . .“

Das Buch erlebte diverse Reprints und Neuausgaben, zuletzt in den 1970er-Jahren in der bekannten Reihe „Exquisit Bücher“ des Heyne Verlages zur linkshändigen Rezeption, mitunter auch in versteckten Ausgaben mit neuen Titeln („Liebe und Hiebe im Mädchenpensionat“).
Der kleine Münchner Belleville Verlag bringt die Schrift soeben, ediert von Michael Farin, als ersten Band einer geplanten „Bibliothek des Bizarren“ heraus. Ein 350-Seiten-Werk – „verstörend“ nennt es der Verlag, was sonst – von wahrlich bizarrer Gleisnerei und Gefallsucht. Neda Bei schreibt im Dossier: „Identifizieren wir uns mit der Sichtweise der geschlagenen Kinder und der Strafjustiz, finden wir in den Cadivecschen ,Bekenntnissen und Erlebnissen‘ Verleugnen, Beschönigen und Ungeschehenmachen, Stigmata im Grandiosen, und können uns fragen, inwieweit Heuchelei stets sadistische Lust ist.“
Edith Cadivec befasste ohne Erfolg die Instanzen der Ersten Republik, des austrofaschistischen Regimes, des nationalsozialistischen Regimes und auch noch die unterschiedlichsten Behörden und Dienststellen der Zweiten Republik mit einer Fülle von paranoid anmutenden Eingaben, Petitionen, Wiederaufnahmeanträgen. Einem Antrag vom April 1935 stellt sie ein Dollfuß-Zitat voran; einen Wiederaufnahmeantrag vom September 1938 – „Lügenfeldzug der Juden-Weltpresse gegen mich . . . Heil Hitler!“ – unterzeichnet sie als „Pgn.“ (Parteigenossin).
Für 1937 findet sich in den Akten der Hinweis auf eine Psychiatrierung. 1940 wird Cadivec teilentmündigt; das Amtsgericht Wien bewilligt das „Armenrecht“ für die mittellose, alternde Frau. Die Jahre 1951 und 1952 verbringt die ehedem berühmt-berüchtigte Sprachlehrerin in der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof.
„Ich bin unschuldig“, schrie sie bei Verkündung des Gerichtsurteils 1924 auf, „das ist ein sadistisches Urteil!“ In ihren Konfessionen heißt es: „Diese nichtswürdigen Kreaturen warf ich im Fieber über die Zeugenbarre, drückte ihre monstruösen Köpfe tief nach abwärts, riss ihnen die Hüllen vom Leibe und peitschte so lange auf ihre nackten Hintern los – bis meine Kräfte erlahmten . . .“
„Das wahre Leben beginnt erst, wenn man der Gesellschaft den ganzen Plunder vor die Füße geworfen hat!“
Zuletzt dokumentiert ist ein Antrag vom April 1953, in dem die nunmehr 73-Jährige – abermals erfolglos – Haftentschädigung fordert. Dann verliert sich ihre Spur.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2008)

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