Wiener Neurosen

Auf dem Dach der Straßenbahn steht in Riesenlettern: „Die Stadt gehört dir.“ Die Stadt gehört mir, wie eine Wunde, die nicht heilt, mir gehört. Und umgekehrt, gehöre ich der Stadt? Gehören wir einander? Zu Besuch in Wien.

Für eine, die wie ich zurückkehrt, bleibt sie die Stadt der Vertreibung. Wien hat sich verändert, es blüht und leuchtet, frisches Obst kommt aus aller Welt, die internationalen Kommissionen tagen, und Fiaker fahren staunende Kinder aus aller Herren Ländern an den restaurierten Sehenswürdigkeiten vorbei. Das ist nicht die düstere Stadt, die sie im gekränkten Kopf und im beschädigten Herzen trägt, und doch kommt's der Heimkehrerin vor, als ob dieses, das heutige Wien voller Schlaglöcher sei, als könne sie auf der Mariahilfer Straße stolpern und im Prater im Gebüsch versacken, in einem Schönbrunner Brunnen ertrinken und am Graben verschluckt werden. Will sagen, dass es für die Touristin, die eben keine Fremde, sondern gebürtige Wienerin ist, zwar ein heutiges und ein damaliges Wien gibt, denn man hat ja Verstand und kann unterscheiden, aber die beiden lassen sich vom Gedächtnis her nicht so auseinanderhalten, wie man gern möchte. Das Gedächtnis ist hartnäckig und will nicht verdrängt werden, oder ist, wie wir von Sigmund Freud wissen, besonders ekelhaft, wenn es verdrängt wird.

Ich bin in Wien geboren, meine Familie, auch die Großfamilie, lebte in Wien, meine Muttersprache ist das wienerische Hochdeutsch der jüdischen Mittelklasse. Die ersten Eindrücke waren die Straßen und Häuser und die Parks dieser Stadt. Bin ich heute in Wien, so kommt es immer wieder vor, dass ein geometrisches Muster oder eine Verzierung an einer Kaffeehaustüre, auf einem Fußboden, an einer Haustreppe eine verschüttete Erinnerung heraufruft, ein Déjà-vu, ein Das-kenn-ich-doch. Es sind Eindrücke, an die ich Jahrzehnte nicht gedacht habe, die ich mir nie auf den Bildschirm der Erinnerung gerufen habe, die aber auf der Festplatte gespeichert waren und sich plötzlich wie alte Bekannte, die man nicht unbedingt begrüßen will, vordrängen. Warum will ich sie eigentlich weder umarmen noch fortschicken? Es sind doch sozusagen neutrale Begegnungen. Ihre Wirkung ist jedoch nicht angenehm, auch nicht gerade unangenehm, sie hat eine gewisse Faszination und ist doch ein Teil dessen, was man in den Jahren, die inzwischen verflossen sind, abschütteln wollte. Sie stellen die Frage, wo hört die alte Heimat auf, wo fängt das alte Feindesland an? Hier habe ich einmal dazugehört und gleichzeitig wurde mir und den Meinen auf unvorstellbar krasse und ordinäre Weise klargemacht, dass wir nicht dazugehörten.

Der Wiener Dichter Theodor Kramer schrieb, nachdem er 1957 aus dem Londoner Exil nach Wien zurückgekehrt war: „Nur in der Heimat bin ich ewig fremd.“ Ich war schon im Alter von sechseinhalb Jahren, als die deutschen Truppen im März 1938 einmarschierten, bis September 1942, als ich mit meiner Mutter nach Theresienstadt verschleppt wurde, so fremd in der Heimat wie nirgends wieder danach auf der Welt – außer in Auschwitz: Dort war's noch fremder.

Im Grunde stellt mir Wien die Aufgabe, der rationale Mensch zu bleiben, der ich an anderen Orten bin. Unvernünftige Ressentiments überfallen mich hier wie die Gelsen an einem feuchten Abend; etwa gegen Kindergruppen, die durch die Museen oder durch den Prater geführt werden. Da durfte ich als Kind nicht hin. Ich durfte überhaupt nirgendwohin, war an ein dunkles Zimmer in einer Wohnung gebunden, die meine Mutter und ich mit anderen Familien teilten, eine Sammelwohnung für Juden, die einander gar nicht kannten. Auf der Straße musste man den Judenstern tragen, da war's kein Vergnügen, spazieren zu gehen. Der Vater war schonverjagt worden, und ich sollte ihn nie wiedersehen. Für eine Frau mit Kind gab es keinen Ausweg mehr. Wir warteten auf den Abtransport in einer desolaten Stätte der Vereinsamung, die für mich getränkt war mit nichts als Verlusten, die man irgendwie verkraften musste, denn Verwandte und Freunde verschwanden, einer nach dem anderen. Es gab immer weniger Menschen, zu denen man Zutrauen hatte.

Wien war ein Ort der schnürenden Verengung, eine Welt- und Kulturstadt, wie ich vom Hörensagen wusste, in der es nicht erlaubt war, sich etwas Interessantes anzuschauen oder irgendwo mitzumachen. Zuletzt war es auch mit der Schule vorbei, und übrig blieb nur einsames Lesen und Gedichte auswendig lernen. Die anderen Kinder lebten weiter, spielten ihre Spiele, gingen in ihre Schulen, trugen die Uniformen ihrer neuen Jugendgruppen und sangen gehässige Lieder über Menschen, die ihnen anders und minderwertig vorkamen, wie ich.

Und doch erinnere ich mich nicht, damals die nichtjüdischen Kinder um ihre Freiheit, um ihre Chancen beneidet zu haben. Ich sah sie als Feinde, die mir die Tatsache, dass ich existierte, übel nahmen und die mich unbestraft beschimpfen durften. Man musste ihnen aus dem Weg gehen und aufpassen. Erst jetzt, wenn ich als alte Frau zu Besuch in Wien bin, überkommt mich die Wut gegen diesen Widersinn und auch eine merkwürdig distanzierte Sympathie mit dem Kind, das ich längst nicht mehr bin, wegen dieser Ausgrenzung, und dass Menschen, die nicht mehr und nicht weniger Wiener waren als wir, sogar noch ihre Kinder auf uns hetzten. Damals schien's selbstverständlich: So war das Leben für Juden. Heute scheint's unbegreiflich. Wie ein Hund, der seinen Schwanz jagt, laufe ich im Kreis um den Ring und frage: Warum?

Ja, der Ring. Die Rückkehrerin geht an der Universität vorbei, die sich auf dem Teil der Ringstraße befindet, der nach einem berüchtigten Antisemiten benannt ist. Wenn sie ihren Spaziergang fortsetzt, um schließlich im Café Prückel einzukehren, so stößt sie dort noch einmal auf ihn, oder gleich zweimal, erst als Denkmal und dann als der Platz, auf dem das Denkmal steht. Für die unbefangeneren Wiener wiegen die anderen Verdienste des Bürgermeisters Karl Lueger wohl schwerer, als dass er ein Vorläufer und Vorbild für Hitler gewesen ist. Schämt sich denn niemand ein bissel für die dreifache Ehrung? Die Rückkehrerin schlendert weiter Richtung Zentrum und findet am Judenplatz das Denkmal für die Vertriebenen und Ermordeten. Gut gemeint, aber wie verträgt sich diese treuherzige Wiedergutmachung mit der Lueger-Verehrung an der Ringstraße? Woran soll man da glauben? Die Österreicher haben sowohl den Juden Bruno Kreisky zum Bundeskanzler als auch den alten Nazi Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten gewählt. Man nimmt's halt nicht so genau. Dabei sind sich die Wiener, mit denen ich zu tun habe, immer bewusst, dass ich Jüdin bin, ob sie mir nun mit Abneigung oder mit Sympathie begegnen. Wo ich jetzt lebe, kommt diese Tatsache nur dann ins Gespräch, wenn's wirklich passt, und das ist nicht oft, da mich Religion nicht interessiert. Hier in Wien geht man noch immer davon aus, dass Juden grundsätzlich anders sind.

Eine Dame, die ein Gespräch mit mir im ORF gehört hat, schrieb mir, ich solle doch ein „bahnbrechendes Werk“ verfassen „und erforschen, welche Charakteristika für die ethnische Gruppe der Juden man als bezeichnend nennen könnte“. Denn das „Märchen von der Gleichartigkeit“ lehnt sie ab. Man wisse doch, schreibt sie, die Juden seien sowohl schlampiger als auch intellektueller als die Nichtjuden. Was mich stutzig macht, ist weniger dieser uralte Schleim von Voreingenommenheiten als ihre Meinung, es sei meine Aufgabe, diesem Unsinn, den sie für Sinn hält, nachzugehen und über ihn zu forschen. Dass ich amerikanische Hochschullehrerin und vierfache Großmutter bin, über das barocke Epigramm promoviert habe und gerne Kriminalromane lese, all die Lebensinhalte, Eigenschaften und Interessen, die eine Person ausmachen, sind in ihren Augen unwichtig im Vergleich zu meiner jüdischen Herkunft. Dieser Tatbestand hat mein geistiges Hauptanliegen zu sein.

Ich stehe an der Haltestelle und warte auf die Straßenbahn. Sie hat dieselben Farben wie in meiner Kindheit, dieses leuchtende Rot, nur die Schaffner gibt es nicht mehr, und das Interieur ist jetzt moderner. Auf dem Dach steht in Riesenlettern: „Die Stadt gehört dir.“ Die Stadt gehört mir, wie eine Wunde, die nicht heilt, mir gehört. Und umgekehrt, gehöre ich der Stadt?

Seit dem September 1942 hatte die Stadt eine Geschichte, an der ich keinen Anteil hatte. Und ich hatte meine Lebensgeschichte, die anderswo war. Gehören wir einander? Mit Absicht habe ich mir die Stadt nicht oft ins Gedächtnis gerufen, aus Wehleidigkeit, könnte man sagen, und sie hat es mit der Erinnerung an mich und meinesgleichen jahrzehntelang auch nicht eilig gehabt, bis sie sich endlich aus ihrem selbstverschuldeten Dornröschenschlaf aufrappelte. Wo immer ich in Wien hingehe, berühre ich eine wunde Stelle. Darum schauen mich die Leute oft schief oder, wie man hier sagt, schiach an. Wiens Wunde, die ich bin, und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar. Läppisch gerät jeder Versuch, Versöhnung anzustreben. Nur eitern und den ganzen Körper infizieren müssen und sollen solche Wunden nicht, das kann durch Nachdenken und Reden verhindert werden; das wäre doch schon was, und zwar gar nicht wenig. Die Straßenbahn hält. Ich steige ein.

Marietta Torberg hatte mir eine Wohnung in Wien verschafft, wo ich als Gast ein paar Monate wohnen durfte. Wie ihr das gelang, fand ich nicht heraus. Es war halt so. Eine österreichische Abkürzung. Wie man in Wien den Kaffee und bürokratische Vorgänge verlängern kann, so kann man sie anscheinend auch abkürzen. Gleichsam ein Espresso-Verfahren. Dafür musste ich mich gar nicht bewerben. Frau Torberg, die Witwe des Schriftstellers Friedrich Torberg, war mir auf einem Spaziergang vorgestellt worden, und als ich erwähnte, ich würde gerne länger bleiben, um möglichst die alten Phobien auszukurieren, sagte sie, da werde sie schauen, was sich machen ließe. Die Bank Austria habe da eine Wohnung am Bauernmarkt. Das war 1997. Ich habe ein paar Vorträge gehalten, ein paar Essays geschrieben, bin oft ins Theater gegangen und am Graben herumgesessen, habe in den Kaffeehäusern große und kleine Braune getrunken und dazu Gedichte verfasst. Manchmal hat mir irgendwas die Kehle zugeschnürt, und manchmal wusste ich nicht einmal, woraus dieses Irgendwas bestand.

Gegen's Ertrinken hilft der heilige Nepomuk, hab ich mir sagen lassen. So einer stand im Hof des Hauses, wo ich dank der Großzügigkeit der Bank Austria meine Wohnung hatte. Wenn ich ausging, fragte ich ihn, wie er, der hölzerne Heilige mit dem tschechischen Namen, hierher komme. Er fragte seinerseits zurück, wie, bitte schön, sei ich zu der Wohnung gekommen? Das Buch, antwortete ich bereitwillig, natürlich das Buch über die Kindheit im KZ; ein Buch über bekannte Tatsachen, gespickt mit Beobachtungen, die man in Deutschland für tiefsinnig hält, hier aber ganz richtig als Wiener Schnoddrigkeiten auffasst, die man würdigt, wie man solche Sachen hier würdigt, eine sprachliche und gedankliche Eigenart, die ich sympathisch finde. Ob er ein schnoddriges Gedicht von mir hören möchte, erkundigte ich mich, und er hatte nichts dagegen.

1420 gab's in Wien einen Massenselbstmord von Juden. Sie wollten sich wieder einmal nicht taufen lassen. Bei Wikipedia steht darüber: „Die groß angelegte Vertreibungund Ermordung der Wiener Juden 1420/ 1421 und die Schleifung der Or-Sarua-Synagoge auf dem Judenplatz ging auf Albrecht V. zurück.“ Ein unsympathisches Gfrieß hatte dieser Albrecht. Ich bin eine amerikanische Touristin, die diese Information aus dem Internet bezieht, und während meines Besuchs besichtigte ich den Platz, auf dem damals ein Denkmal für vernichtete Juden entstehen sollte. Nicht jeder war dafür, es kam zu erregten Kontroversen, wie immer, wenn das Reizwort „Jude“ fällt. Lateinische Inschriften aus dem Mittelalter verkünden, das Feuer reinige alles: „sicque iterum poenas igne furiente luit.“ Für mich gilt das Umgekehrte, mir stecken sie nämlich den Kopf unter Wasser; vor dem nahen Burgtheater ließ sich gut atmen, aber jedes Mal wenn ich auf den Judenplatz ging, dachte ich ans Ertrinken...

Es war einfacher, den heiligen Nepomuk um Hilfe zu bitten, als ein Ende für die selbstmörderischen Wiener Juden zu finden, die es ihren Verfolgern leicht machten und sie vor der Sünde des Mordes bewahrten, indem sie sich selber töteten. Inzwischen zählt Rachel White-
reads Stahlbetonkubus zu den Sehenswürdigkeiten in Wien, und es gibt andere Streitobjekte. Doch die Frage des Erinnerns und des Vergessens steht noch immer im Raum.

Diese paar Monate in Wien waren wesentlich für das Zurück- oder für ein Vorwärtstasten zu der Stadt. Sie waren auf jeden Fall eine Annäherung. Marietta Torberg starb unvermutet, bevor ich mich bei ihr bedanken konnte. So statte ich ihr jetzt im Nachhinein meinen Dank ab. Sie hat mich zu meinem Wiener Schutzheiligen geführt, dem Nepomuk, der einen aus stürmischen Wassern rettet, auch aus unsichtbaren.

Eine amerikanische Ärztin fragte mich einmal, welche Sprache in Österreich gesprochen werde. „Deutsch“, antwortete ich etwas erstaunt, hielt ihr aber zugute, dass Österreich zum einen tatsächlich ein sehr kleines Land ist, und zweitens, dass sie selbst asiatischer Herkunft war. „Ja, haben die denn keine eigene Sprache?“, fragte sie missbilligend. „Deutsch ist ja ihre eigene Sprache“, versuchte ich ihr begreifbar zu machen. Sie schüttelte nur den Kopf. Nicht so sehr die Bildungslücke gab mir zu denken – ich weiß vermutlich noch weniger über die Geschichte ihres Herkunftslandes als sie über das meine –, sondern der tiefere Sinn ihrer Frage, welche Sprache die Österreicher und ich denn haben.

In Wien denke ich darüber nach, wie's anders gewesen wäre ohne Hitler. Wenn ich dort aufgewachsen wäre, und Deutsch wäre nicht eine Sprache, mit der ich mich herumschlage, weil ich sie teils verlernt habe (und bewusst verlernen wollte) und wiederfinden muss und weil mir oft die richtigen Wörter nicht einfallen und weil meine Ausdrucksweise veraltet ist. Verwende ich wienerische Bezeichnungen, brechen die Anwesenden oft in fröhliches Gelächter aus, weil diese komplett veraltet seien. Natürlich gehören Ausdrücke im Dialekt nicht zu den absoluten Notwendigkeiten, aber eine wie ich, die in mehr als einer Sprache lebt und auch schreiben will, ist eine Art Jongleurin, der die Sprache zum Kunststück wird, was nicht mit Kunst zu verwechseln ist.

Doch kaum beginnt man sich wohl zu fühlen (was man vermutlich nirgends soll), sind hämische Bemerkungen über Juden nicht mehr zu überhören, in Wien öfter und unbefangener als in Deutschland. Sie kriechen irgendwie aus den Wänden, man vernimmt sie am Markt oder am Flughafen, eine geifernde Unverschämtheit kommt darin zum Ausdruck, vor der ich sofort weglaufen möchte. Keine Streitlust erwacht in mir, sondern das Kind, das ich hier war, will einfach weg von den Gassenbuben, die es beschimpfen.

Und andererseits ist mir diese Wiener moralische Wurschtigkeit gemäßer als die deutsche Prinzipienreiterei, die oft in Selbstgerechtigkeit ausartet. Bei Hofmannsthal, dem erzkonservativen begnadeten Dichter, ist diese Gegenüberstellung zwar leicht herablassend, doch er lässt die Deutschen gelten. In Preußen gebe es „herrschende Anschauungen und Gepflogenheiten“, schreibt er, dagegen in Österreich „keine geforderte Denk- und Fühlweise“. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2008)

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