Die zweite Chance

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

Fit machen fürs Leben, die Jugendlichen vom ersten
Tag ihrer Haft an auf die Entlassung vorbereiten, das ist hier Prinzip: Justizanstalt Gerasdorf – über Jugendlichen-Strafvollzug jenseits sibirischer Erziehungslager.

Der junge Mann strahlt. „In einem anderen Häfen geht's dir sicher net so guat wie da“, sagt er. Florian, so will ich ihn nennen, ist seit eineinhalb Jahren da – als einer von rund 120 Insassen der Justizanstalt Gerasdorf im südlichen Niederösterreich. „Ziemlich leiwand“ sei es beispielsweise, dass er sich relativ frei bewegen könne und dass nicht ständig ein Beamter hinter ihm herrenne. Trotzdem: „Ich will schon Gas geben, damit ich bald wieder rauskomm!“ Er strengt sich an: steht als Malerlehrling im zweiten Lehrjahr, hat gute Schulnoten. Und wenn er wirklich im Juni 2009 nach Verbüßung der halben Strafe vorzeitig entlassen wird, dann will er sich mit einer stationären Drogentherapie „belohnen“ und dafür sorgen, dass er auch außerhalb des geschützten Rahmens von Gerasdorf nicht mehr rückfällig wird.


Die Drogen waren Florians Problem. Er habe, sagt Florian, so ziemlich alles ausprobiert, und es habe ihm immer alles gut gefallen. Aber zuletzt habe er sich bereits 600 Subsidol am Tag geschossen, um halbwegs klar zu sein, sagt er, und, nach einem Blick auf meinen verständnislosen Gesichtsausdruck: „Geschossen, das heißt gejunkt!“ Und dann der Raubüberfall. Es hatte sich schon einiges angesammelt an Vorstrafen – Diebstahl, Einbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt und so weiter. Und dann: „Ich war im Drogenrausch, hab Geld gebraucht.“ „Achtung Raubüberfall!“, habe er geschrien, sei auf die Frau zugelaufen und habe das Messer gezückt. Da habe sie gesagt, dass sie fünf Kinder hat, und er habe sich entschuldigt und gar nichts von ihr genommen und ihr auch nichts getan, aber versuchter Raubüberfall sei es doch gewesen, und der Richter habe ihm das mit der Entschuldigung nicht geglaubt und ihn zu fünf Jahren Haft verurteilt.


19 war er damals, volljährig, und hatte noch keine abgeschlossene Ausbildung. Die holt er jetzt in Gerasdorf nach. Die Strafmündigkeit liegt in Österreich bei 18 Jahren. Das Jugendgerichtsgesetz sieht für junge Menschen bis 21 alternative Maßnahmen und Übergangsregelungen vor, etwa für den Fall, dass sie noch in Ausbildung stehen. Dann können die jungen Leute nach Gerasdorf kommen.


Gerasdorf ist die einzige Strafvollzugsanstalt für männliche Jugendliche in Österreich, eröffnet 1970. Der Standort im Steinfeld im südlichen Niederösterreich gilt als besonders günstig: weit genug weg vom kriminogenen Herkunftsmilieu, insbesondere dem Wiener Drogenmilieu, und nah genug für Freigangsmöglichkeiten sowie bestens geeignet für erlebnispädagogische Maßnahmen in freier Natur, die heute zum Standard in der Jugendarbeit gehören.
Ein moderner Jugendstrafvollzug in Österreich bedingt arbeitsmarktorientierte Ausbildungen, um die Reintegration der jungen Menschen besser zu gewährleisten, so das theoretische Konzept in der Sonderanstalt Gerasdorf. Und so wird dort größtes Augenmerk auf Aus- und Weiterbildung gelegt: 14 Lehrberufe werden in eigenen Werkstätten angeboten, die Insassen können einen Haupt- oder Sonderschulabschluss nachholen, PC-Kurse machen, bekommen Förderunterricht. Zum Angebot gehören auch die Erziehung zu einer friktionsfreien Freizeitgestaltung, Therapien sowie eine Fachbetreuung durch psychologischen, psychiatrischen und sozialen Dienst.


Die Lehrwerkstätten sind nah am Leben gestaltet. In der KFZ-Werkstatt wird unter anderem an den Autos der Justizwachebeamten geübt, die Bäckerei beliefert auch das Frauen- und Mädchengefängnis Schwarzau, in der Küche wird für die Insassen gekocht, die Gärtnerei produziert Gemüse zur Selbstversorgung, im Friseurladen wird an den Justizwachebeamten gelernt, Maler-, Elektriker- und andere Professionistenausbildungen kommen den Instandhaltungsarbeiten der Justizanstalt zugute. Die Leitung von Gerasdorf legt großen Wert darauf, dass die Jugendlichen zumindest ein Lehrjahr fertig haben oder, wenn sie länger einsitzen, eine Lehre abschließen: „Die gehen mit dem Gesellenbrief von uns hinaus!“ sagt Margitta Essenther, Leiterin der Justizanstalt seit 2002. Und zum Glück, sagt die Chefin, zum Glück gebe es draußen immer wieder Betriebe, die sich darauf einlassen, ehemalige Häftlinge aus Gerasdorf zu nehmen. Die Lehrabschlüsse sind hoch angesehen.


Ein 22-jähriger Mann, ich nenne ihn Thomas: tiefe, ruhige Stimme, höflich, zuvorkommend. Und doch: Thomas sitzt wegen Totschlags in Gerasdorf: „Darüber will ich nicht sprechen.“ Die HTL habe er gemacht, draußen, und abgebrochen, aber jetzt werde er Tischler. Und er liebe die Arbeit mit dem Holz und finde es ganz toll, welche Möglichkeiten sich ihm durch diese zweite Ausbildungsschiene eröffneten: „Ich lerne so viel, dass ich mir einmal ein Haus bauen kann.“ Das Beste an Gerasdorf sei, sagt Thomas, dass hier so viel Wert auf Psychotherapie gelegt werde. Schon eine Woche nach seiner Einlieferung habe er die erste Therapiestunde gehabt: „Das hat mir die Möglichkeit eröffnet, mich in einem sehr privaten Rahmen, in dem nichts nach außen dringt, mit mir selbst und dem Delikt zu befassen.“


Thomas drückt sich sehr gewählt aus: „Ich kann in der Therapie die Tat analysieren und meine eigenen Schwächen herausfinden. Es erleichtert mir auch die Last, damit zu leben.“ Er weiß, dass er sein Leben lang damit zu tun haben wird, mit dem Totschlag fertig zu werden: „Natürlich denke ich an die Zeit nach meiner Entlassung und frage mich, wie ich das alles in den Griff kriegen werde – emotional und auch finanziell. Aber ich werde es schaffen, weil ich hier das Rüstzeug dafür bekomme.“


„Es muss bei jedem Jugendlichen in der Entwicklungsgeschichte etwas passiert sein, was nicht der Norm entspricht. Sonst wären sie nicht hierhergekommen“, meint Margitta Essenther. Sie ist Psychologin und Pädagogin und befasst sich seit vielen Jahren mit Kinder- und Jugendpsychologie und -psychiatrie. Mehr als 20 Jahre hat sie bei der Jugendgerichtshilfe Wien gearbeitet. „Unsere Kids hier“, sagt sie, und es ist so liebevoll gemeint, wie es klingt, „unsere Kids hier brauchen spezielle Fürsorge, sie brauchen spezielles Tun mit ihnen, ein spezielles Ambiente, spezielle Menschen, die mit ihnen arbeiten. Sie brauchen eine besondere Liebe, auch wenn das im Strafvollzug vielleicht komisch klingt.“


Nicht jeder, der selbst einmal geschlagen oder misshandelt wurde, wird gewalttätig. Aber alle Gewalttäter haben selbst Gewalt erlebt. Ergab einmal eine Untersuchung am Jugendgerichtshof, der 2003 von Justizminister Böhmdorfer aufgelöst wurde. Entsprechend die Zahlen aus Gerasdorf: 80 Prozent der Jugendlichen hier haben Missbrauchs- und Gewalterfahrung.


Das theoretische Konzept zu Sozialisierung und Resozialisierung von Gerasdorf trägt dem Rechnung: Ein großer Teil der straffällig gewordenen jungen Menschen muss erst sozialisiert werden. Denn die Vorgeschichte vieler dieser jungen Menschen zeigt enorme Defizite und Mängel in deren sozialer und intellektueller Entwicklung. Deshalb sei es besonders wichtig, nach genauer Anamnese und Begutachtung durch Psychologen und Sozialarbeiter geeignete pädagogische und therapeutische Maßnahmen zu ergreifen, um diese jungen Menschen auf ein Leben nach der Haft vorzubereiten. Große Bedeutung komme dabei auch dem Aufarbeiten der Tat und dem Urteil zu.
„Mit mir geht's ab jetzt aufwärts ohne Ende“, glaubt auch der älteste Insasse von Gerasdorf, ein 26-Jähriger, der seit fünf Jahren sitzt und hier Stefan heißen soll. Stefan weiß, dass er von null wird beginnen müssen, aber er arbeitet hart an der Rückkehr in ein neues Leben. Er lernt und lernt. Die Maler- und Anstreicherlehre hat er schon gemacht und auch die zum KFZ-Lackierer. Jetzt erfüllt er sich gerade einen alten Traum – und macht die Ausbildung zum Barkeeper. Auch Stefan hat einen Raubüberfall verübt, auch in seinem Fall war es Beschaffungskriminalität. Verletzt hat er niemanden, aber er hatte eine Pistole dabei. Seit einem Jahr darf er seine Eltern draußen besuchen. Das Beste an Gerasdorf für ihn? Die Erkenntnis: Das Leben ist schön, auch und vor allem ohne Drogen.


Fit machen fürs Leben, die jungen Menschen vom ersten Tag der Haft an auf die Entlassung vorbereiten – das ist das Motto von Gerasdorf. Großer Wert wird auf einen strukturierten Tagesablauf gelegt. Der Alltag ist in Arbeitszeit und arbeitsfreie Zeit aufgeteilt. In die Arbeitszeit fallen Aus- und Weiterbildung, Sozialtraining, Therapien oder Freigänge. In der arbeitsfreien Zeit wird gegessen oder Sport betrieben. Jeden Nachmittag sind zwei Stunden Bewegung im Freien vorgesehen: Das baut Aggressionen ab. In drei strategisch gut positionierten Wachhäuschen sitzt Wachpersonal und passt auf, dass keiner über die Mauer flüchtet.


Der Vollzug orientiert sich ausschließlich an den bestehenden Gesetzen sowie am aktuellen Wissensstand der Erziehungswissenschaften, der Psychologie, Sozialarbeit und anderen Wissensgebieten, die für die Arbeit mit straffällig gewordenen jungen Menschen entscheidend sind. Über all dem stehe das Beziehungsangebot, sagt Margitta Essenther: „Zu sagen: Ich bin für dich da. Wir können über deine Probleme reden. Genau das ist etwas, was viele noch nie erlebt haben!“ Nach mehreren Stunden und vielen Gesprächen in Gerasdorf habe ich das Gefühl, dass hier ein ganz besonderer Geist vorherrscht. Es ist die Art, wie die Justizwachebeamten untereinander reden, wie sie mit den Häftlingen kommunizieren. Es sind die jungen Leute selbst, die keinen geknickten, geknechteten Eindruck machen, wie sich das manche vielleicht vom Jugendstrafvollzug wünschen. Die heute wieder die Pädagogik längst vergangen geglaubter Zeiten einführen möchten.


Es sind die Geschichten von den großen und kleinen Erfolgserlebnissen, über die sich Margitta Essenther freut. Die Geschichten von den Jugendlichen, die – längst wieder in Freiheit – „drinnen“ anrufen und erzählen, dass sie aufgrund ihrer Ausbildung in Gerasdorf eine guten Job gefunden haben, dass sie geheiratet und eine Familie gegründet haben. Fälle gelungener Resozialisation.


„40 bis 45 Prozent der Fälle gehen gut“, antwortet sie auf die Frage nach der Rückfallquote. Und: „Es zahlt sich aus, um jeden einzelnen Menschen zu kämpfen. Jeder Einzelne, den wir aus der Kriminalität weggebracht haben, gibt unserer Arbeit Wert.“ Misserfolge, Enttäuschungen? Gewiss auch. Aber: „Jugendliche zu mögen bedeutet auch, Enttäuschungen einzukalkulieren. Jugendliche können mich nie so enttäuschen wie Erwachsene, an die ich andere Maßstäbe anlege. Und wenn einer, der was angestellt hat, zu mir kommt und sagt: Chefin! Darf ich was sagen? Ich wollte mich entschuldigen, bei Ihnen! Wenn sich so ein junger Mann, der sich eh für den Champion hält, bei mir entschuldigt, dann weiß ich, es geht was weiter.“ Nur ganz wenige werden noch als Jugendliche rückfällig und kommen dann ein zweites Mal nach Gerasdorf. Und wenn, dann meist wegen derselben Delikte wie beim ersten Mal: Drogen, Beschaffung, Raub. Die anderen sind meist schon erwachsen, wenn sie abermals eine Straftat begehen und kommen dann in den Erwachsenenvollzug. Dort verliert sich ihre Spur.


Eines sei ihr schon sehr wichtig, meint Margitta Essenther: „Der Jugendstrafvollzug sollte einer sein, der Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördert und nicht bricht!“ Und nimmt damit auf die Erziehungscamps für jugendliche Straftäter Bezug, wie sie in Deutschland erprobt und da und dort auch in Österreich in Erwägung gezogen werden: „Ich glaube nicht, dass das die Pädagogik ist, die wir in Österreich wollen. Durch positives Bestärken der Jugendlichen kann man viel mehr erreichen als dadurch, ihnen ständig zu beweisen, dass sie sowieso nichts wert sind!“


Schließlich sei sie auch deshalb hier in Gerasdorf Leiterin geworden, weil der österreichische Jugendstrafvollzug immer einen anderen Weg gegangen sei, den pädagogischen. Es ist nicht zuletzt das Gespräch mit Margitta Essenther, das deutlich macht, warum Gerasdorf etwas Besonderes ist. Hier wird niemand aufgegeben. Hier gilt das Prinzip Hoffnung, der Glaube an die Veränderbarkeit des Menschen zum Positiven. Und so soll es bleiben. ■

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.