Anna

La Le Lu, nur der Mann im Mond schaut zu. Wir haben das Lied im September vor einem Jahr zum letzten Mal gehört. Über den Tod unserer kleinen Tochter.

Und plötzlich rast eine Eisenbahn durch mich hindurch. „Sie ist weg“, heult es aus dem Handy in mein rechtes Ohr. Mir wird glühend heiß, mein Blick engt sich ein. Ich springe vom Bürostuhl auf, mache schwindlig ziellose Schritte durch den Raum. s„Was? Was soll das heißen?“, stammle ich ins Telefon und klammere mich ans kalte Metall eines Türrahmens. Dabei weiß ich in der Sekunde genau, was folgen wird: „Sie ist tot“, weint meine Frau. „Die Anna ist tot.“

Anna ist tot. Unser Mädchen. Wieso? Sie hatte mich und meine Frau doch schon überrascht, als sie Ende Februar 2007 in unser Leben purzelte. Da musste ich meine Frau ins Spital bringen, weil sie über Nacht schwere Bauchschmerzen bekommen hatte. Als sie Stunden später aus dem Untersuchungszimmer kam, weinte sie, warf die Arme um mich, murmelte was von einer Zyste, die müsse man rausschneiden. Ich war erleichtert, Maus, das ist nix Schlimmes, kein Krebs, bist ein paar Tage im Spital. Vollnarkose ist witzig. Da rief ihr eine Schwester nach: „Übrigens, gratuliere: Sie sind auch schwanger.“ Mir wurde ganz fein warm. - Nun ist der 26. September 2007, Mittwochabend. Und Anna ist weg. Fünf Wochen vor dem Geburtstermin. In einfachen Worten will ich erzählen, wie sie nur kurz durch unser Leben flog. Wichtigtuerische Schachtelsätze passen in Feuilletons oder Leitartikel. Dem Tod gebührt Schlichtheit. – Draußen ist es dunkel, und das Großraumbüro wird vor meinen Augen unheimlich lang, wie ein Tunnel. Ich stolpere zurück in einen Stuhl. Kollegen stürzen auf mich zu. Ich stammle: „Mein Kind ist tot“, heule es, wiederhole es für die, die's nicht glauben wollen, die mir gutmeinend einreden möchten, meine Frau täusche sich, eine nervöse Schwangere halt. Aber sie täuscht sich nicht: Sie rief von ihrer Gynäkologin in Mödling aus an. Die fand im Ultraschall keine Herztöne mehr. Nur Stille. Bewegungslosigkeit.

Ich starre in entsetzte Augen. Kollege Helmar holt ein Taxi, schleppt mich auf die Straße. Am Gehsteig muss ich mich hart niedersetzen, jemand grinst mich an – ein Besoffener, denkt er wohl. Wann ich wiederkomme, fragt mich Helmar. „Lange nicht. Lange“, murmle ich versteinert.

Wir rollen durch die Nacht. Die finsterste Taxifahrt meines Lebens. Während der halben Stunde sage ich kein Wort. Ich sitze wie in Blei. Draußen die Lichter der Autos, rasende Sterne, ich zähle die senfkorngroßen Löcher im Dachhimmel, lass mir das rote Licht des Autoradios in die Netzhaut brennen. Ich frag mich, wieso. Erst vor einer Woche sah ich dich im Ultraschall, du hast getreten und die Händchen vor die Augen gehalten wie ein mürrisches Etwas, das die Sonne blendet. Wieso das mir? Meine Mutter starb, als ich neun war, ein Nervenleiden, ihre Muskeln schwanden, sie erstickte. Vater traf drei Jahre später ein Herzinfarkt. Im Flugzeug. Er starb in einem Wiener Spital. Nun bin ich 37, und mein Kind ist tot. Unser erstes. Gestorben in meiner Frau. Aber ich frage nicht mehr weiter, warum das alles. Das Universum gibt nie eine Antwort.

Ich wanke ins grelle Vorzimmer der Praxis. Ein paar Schwangere sind da. „Der Vater“, murmelt jemand. Man führt mich in einen Raum. Dort liegt meine Frau, und die Hölle und alle Schmerzen dieser Welt sind auch drin. Wir halten einander fest. Zwei zerbrechende Welten splittern ineinander. „Oh, Mädchen, Mädchen“, rinnt es aus ihr, das Gesicht ist nass, und ich sah sie noch nie so zerbrochen. Anna war doch so wild in ihr, trat zu, strampelte. Heute sei sie seit der Früh still gewesen. Auch am Nachmittag, erzählt meine Frau, als sie in der Shopping City Süd war und eine gelbe Kuscheldecke mit einem Bärchen drauf gekauft habe, sei nichts gewesen. Dann habe sie ein Bad genommen und, um Anna zu reizen, mit der Hand in den Bauch gestoßen. „Da ist's in mir herumgeschwappt wie ein Stück Holz“, heult Susi, „und ich hab gewusst, dass sie nimmer lebt.“

Jetzt muss Anna auf die Welt. Frau Dr. R., die so resolute wie gutmütige Frauenärztin, lässt ein Zimmer im „Goldenen Kreuz“ in Wien vorbereiten. Sie weiß auch nicht, warum Anna tot ist, ringt um Fassung. Wir nehmen ein Taxi nach Hause, packen einige Sachen; ich dusche, steinerne Ruhe breitet sich in mir aus. Ich wähle einen dunklen Anzug. Ich will Anna anständig begegnen. Wir nehmen Susis Schlafmond mit – ein Stoffding, auf dem ein Bär sitzt und ein Herz hält.

Wieder ein Taxi, und Nacht. Schweigen. Unterwegs stoppen wir an einem Bankomaten. Jugendliche gehen vorbei, aus Lokalen dröhnt Musik, eine Straßenbahn bimmelt. Hier ist alles so normal. Träume ich? Nein.

Im Krankenhaus bekommen wir ein nettes Zimmer, es riecht nach Holz. Es ist gegen elf in der Nacht, sie wird lang und grausam. Man will die Geburt mit einem Wehenmittel einleiten, alle paar Stunden kommt eine Schwester damit. Es wirkt nicht. Meine Frau kriegt Fieber, sie glüht; das zerfallende Körperchen in ihr macht sich bemerkbar. Schweiß steht auf ihrer Stirn, ihr flachsblondes Haar ist verklebt. Anna muss rasch raus. Kaiserschnitt. Um neun soll es sein. Zwischendrin versuche ich in dem Zimmer, das von einer unheimlichen Stimmung aus elender Gedämpftheit erfüllt ist wie mit Watte, zu schlafen. Ich sschrecke oft hoch, greife rüber, fahre über die nasse Stirn meiner Frau, will fühlen, ob sie atmet. In mir siedet Angst. Bitte, bleib wenigstens du! Später höre ich, dass sie in Lebensgefahr war.

Dann, so gegen acht, nimmt man sie mir. Dr. B., jener liebe Anästhesist, ein Iraker, spritzt sie in den Schlaf. Sie sackt rasch weg. „Wolfi“, flüstert sie noch. Man rollt ihr Bett weg. Und ich mach mich fertig, um Anna zu begrüßen. Noch einmal dusche ich, brülle laut und verfluche die Welt und alle Ärsche und Wichtigtuer darin. Eine Schwester kommt und führt mich zum OP. Dann wird alles sehr unwirklich. Alles gerinnt irgendwie, doch die Details sind schneidend klar.

Da ist ein Vorraum wie ein Tunnel, grünlich erleuchtet, voll medizinischer Dinge. Ein junger Bursch, Zivildiener wohl, reicht mir OP-Gewand, Haube, Mundschutz. „Viel Glück“, sagt er leise, ich trete in den Saal. Wieder flirrend grünliches Licht, es riecht nach Äther und Plastik, Metall klirrt, ein OP-Gehilfe mit tätowierten Unterarmen richtet schweigend den Tisch ein, auf dem meine Frau liegt, ihr dicker Bauch mit dem Mädchen drin unter grünen und weißen Tüchern. Ich hole meine Kamera heraus, ich muss das festhalten, es wird uns helfen. Auf einem Foto blickt der Tätowierte in die Kamera, man sieht in seine Augen. Ich weiß nicht, was er denkt. Ich aber denke plötzlich an einen früheren Finanzminister, der im OP kollabierte, als seine Kristallerbengattin einen Kaiserschnitt hatte. sIch nicht. Ich will meinem toten Mädchen mit Würde entgegentreten. Ich grinse. Dann geht alles schnell. Ich sitze am Kopfende des Tischs auf einem Hocker und streichle über das Flachshaar meiner Frau. Sie ist dieser holländische Typ. In meinem Mundschutz staut sich feuchte Atemluft. Die Ärzte setzen zum Schnitt an, graben im Bauch, ich höre Gewebe reißen und sattes Klatschen, es wird gewühlt und gezogen und gerissen, ich glaube, die wollen die Anna zerbrechen, aber plötzlich flatscht etwas, und ein Arzt hält ein weißliches Körperlein mit vielen braunen Haaren auf dem Kopf im grünen Schimmer des Raumes hoch. Kein Schrei. Willkommen in der Welt. Es ist Donnerstag, der 27. September 2007, 9.05 Uhr.

Eine Frau wickelt Anna in Tücher. Sie sagt, ich solle näherkommen. Und dann lerne ich mein Mäuschen kenne. Es liegt vor mir, bis zur Brust in Frottee, was für ein hübsches Ding. Wirklich von mir. Und von Susi. Wie schlafend, friedlich. Voller Käseschmiere. Ein blutroter Schmollmund, was für Lippen!, die sind von ihrer Mutter. Ein sanftes Gesicht, darin eine knubblige Nase und große Augen, aber die sind zu. Und eine wild wuselnde Masse von braunem Haar – na, das ist jedenfalls von mir, auch wenn mir es ausgeht. Und dann diese riesigen Füße! Seltsam, wie groß die sind. Passt gar nicht zusammen. Ich fotografiere mein Mädchen, aber berühren will ich es nicht. „Tun sie es“, sagt die Frau, „es ist Ihre Tochter. Sie müssen sie akzeptieren, das ist Ihre Anna, die wird Fortsetzung Seite immer Ihr erstes Kind sein.“ Da macht's in mir „Klick“, und ich streichle Anna, sie ist kühl und weich und fühlt sich gut an. Ich solle weinen und meine Gefühle rauslassen, aber ich kann nicht. Ich will nicht. Anna soll mich lächeln sehen. Dann trägt man sie weg.

Für Katholiken wäre der Aufwachraum eine Zwischenhölle. Hier taucht meine Frau langsam, von einer Nacht in die andere, auf. Wie schaut sie aus?“, haucht sie, und ich sage: „Wie du. Aber die Haare sind braun.“ Meine Frau stellt dieselbe Frage fünf-, sechsmal, sie ist noch schwer unter Drogen, ihre Gedanken jagen im Kreis, sie vergisst meine Antworten und fragt erneut.

Dann sind wir wieder im Zimmer. Sie erholt sich rasch – und wir haben Hunger. Wir fallen über Tafelspitz mit Spinat und Röstkartoffeln her. Wir brauchen Kraft: Die Schwestern fragen, ob wir von Anna Abschied nehmen wollen. Meine Frau weint, sie traut sich nicht. Wir müssen es tun, sag ich, wenn du's nicht tust, wirst du's für immer bereuen.

Anna kommt. Eine Schwester schiebt sie in einem Rollbettchen herein, sie ist in einen rosa Strampler mit Schafen darauf gepackt und liegt einfach so da in ihrem Bettchen. Man hat sie gewaschen und ihr eine lustige Stoffgiraffe mitgegeben. Ihre Füße stecken in weißen Söckchen. Es regnet schwer, und in uns brechen Dämme. Irgendwann lege ich Anna meiner Frau in die Arme. „Warum, Mädchen, warum bist du gegangen“, presst sie hervor, ihre rechte Hand hängt an einem Tropf, ihr nasser Mund faltet sich auf wie eine Blüte, und sie ist die schönste Frau der Welt. Sie legt einen Finger in Annas Hand, und die greift zu, ganz sanft und kühl. Ich nehme Anna auf, federleicht liegt sie im Arm. Ihre Finger sind seidig. Ihr Köpfchen kippt seitwärts weg, und ich richte es wieder gerade. Ihre Haut riecht nach Baby, und ich gebe ihr ein Bussi. Ich bin stolz. Sie ist schön, aber sie wird sich nie verlieben. Aber auch nie weinen. Nach einer Stunde läute ich nach den Schwestern. Auf Wiedersehen, Mäuschen.

Wir bleiben eine Woche im Spital. An der Decke hängen zwei Fernseher. Wir schalten sie nie ein, sie bleiben schwarz. Wie schwarze Augen zur Welt da draußen, mit ihren Promis und Talkshows, die uns so fern ist. Zwei blinde Augen, blind wie die von Anna, in die wir nie sehen können, oder wollen, sie sind für immer zu. Ihre Augenpartie sieht aber aus wie die ihrer Mutter, so viel war klar in der knappen Stunde, in der sie bei uns war in ihrem Rollbettchen mit der Giraffe. Anna hat die Augen ihrer Mutter, sie sind sicher blau. Doch uns starren die zwei schwarzen Augen der Welt blind an, die an der Decke hängen.

Ich halte den Handy-Klingelton meiner Frau nicht mehr aus. „Somewhere over the rainbow, once in a lullaby.“ Jenseits des Regenbogens. Schlaflied. Sie ändert ihn auf was Unerhebliches. Auch „La Le Lu, nur der Mann im Mond schaut zu“ wird bei uns nie mehr erklingen. So ein gelber Stoffhalbmond mit Spieluhr hat das immer gespielt, wenn das Baby am Abend Ruh geben sollte. Meine Frau hat ihn auf den Bauch gelegt und aufgezogen. La Le Lu. Dann war Anna ruhig. Wir hörten das Lied am Abend des 25. September zum letzten Mal. Irgendwann danach hat Annas Herz zu schlagen aufgehört.

Ich lese Zeitung. Am 28. September empfiehlt mir das Horoskop, einen „kritischen Blick in den Spiegel“ zu werfen. Wenn mich mein Aussehen nicht zufrieden stelle, sei es „Zeit für Sport“. Ich sehe in den Spiegel: Ein alternder, rundlicher Typ im Unterhemd, unrasiert, hohe Stirn, fettig glänzende Nase, geschwollene Augen, sieht matt zurück. Das Horoskop hat wie immer recht. Aber die Haare hat Anna von mir.

Einmal hat meine Frau böse Blähungen. Die Schwester sagt, sie könne was bringen. „Anti-Flat“ heißt das Mittel. Flatus: das Lüftchen, der Furz. Ich lache hysterisch, denke an die Kollegen Burkhard und Peter, mit denen ich an dem Abend kurz vor jenem Anruf in der Arbeitspause Bier trank und Witze über Fürze riss. Da war Anna schon tot. Ich stelle mir die Windeln vor, die bei uns schon rumstehen, und die sie nie vollmachen wird.

Wenigstens kann ich etwas tun, muss was tun. Etwa Anna als tot melden. Im Standesamt läuft zuerst alles gut, weil ich alle Papiere dabei hab. Wunder! Doch klar: Es gibt kein Amt ohne Wickel. Es geht um meinen Magistertitel. Auf meinem Staatsbürgerschaftsnachweis steht der nicht, logischerweise auch nicht auf meiner Geburtsurkunde. Und warum sollte die Standesbeamtin denen vom Spital glauben, wenn die „Mag. Greber“ in die Todfallsanzeige meiner Tochter schreiben? Die hätten mich sogar zum Doktor küren können, oder? – Steh ich halt nicht als „Mag. Greber“ auf dem Totenschein. Aber ich finde meinen Pass. Da steht, dass ich „Mag. iur.“ bin. Da geht das Amt in die Knie. „Anna Maria“, wie wir unser Mädchen nennen, ist nun offiziell ein Akademikerkind. Und eine Nummer gab das Amtshaus – dieses weiße Jahrhundertwendehaus, von dessen Balkonen rote Begonien hängen (mir schießen Annas Lippen durch den Kopf) – Anna auch: 1647/2007. Sie steht auf der Sterbeurkunde. Keiner entkommt seiner Nummer. Zumindest das wird man immer gewesen sein. – Am Sonntag fahre ich ziellos durch Wien. Das Fahren tut gut. Man konzentriert sich auf das Leben. Alles wirkt klarer, die Werbeflächen, die Schaufenster. Es treibt mich nach Liesing, gepflegte Villen, gewaschene Autos, auf deren Lack die Sonne Spinnennetzmuster wirft. Menschen flanieren in der Herbstsonne. Wie schön Wien sein kann, und wie ländlich. Anna wird Urlaub am Bauernhof nie kennen.

In der Rudolf-Waisenhorn-Gasse öffnet sich Wien nach Süden, man sieht über Weinberge nach Perchtoldsdorf. Dunst über dem Horizont, in der Mitte der Anninger, und der Eichkogel, wo Mödling an Gumpoldskirchen grenzt. Ich spaziere dort gern. Ich wär mit Anna dort, wir würden im Herbst an den Reben Trauben zerdrücken, und sie tät den Saft kosten. Die Weinstöcke sind gesprenkelt in Braun, Rot und Gold. Ich reiße ein Blatt ab. Anna hatte solche Flecken auf der Stirn und um die Augen, als sie mit dem Rollbettchen kam. Anna schaut aus dem Weinstock.

Ab und zu arbeitet sich von links ein Flieger in den Himmel. Mein Golf glänzt schwarz in der Sonne. Bis gestern war das Maxy-Cosy drin, beim ÖAMTC hatte man uns gezeigt, wie man's mit dem Gurt verzurrt. Ich gab es kommentarlos zurück. Wir müssen auch die Wohnung leeren, bevor Susi kommt. Da steht ja alles herum fürs Mädchen, Gitterbett, Baby-Bay, Badewännchen. Vor zwei Wochen erst malten wir das Kinderzimmer aus, dort ist jetzt eine große Sonne an der Wand.

Die Freundinnen meiner Frau helfen mir beim Ausräumen. Wir packen alles in Kisten, es kommt in den Keller. Bald kann ich nicht mehr. Alles stürzt auf mich ein, ich muss mich hinlegen. Ich stecke in Trauer wie in einer Masse aus Schaumstoff. Wenn man strampelt, gibt sie nach, doch sie bauscht sich sofort wieder zurück.

Wir wollen wissen, woran Anna starb. Ich gehe zu Professor M. von der Wiener Gerichtsmedizin. Die ist in der Sensengasse. Sinniger Name. Zu ihm führen hallende Gänge mit grauem Licht. Im Büro ist es warm, die Luft ist schlecht, dicke Teppiche, ich sehe ein Gehirnmodell aus Holz und Fotos von Leichen, ein junger Hund springt herum. M., der einfühlsam ist, sagt, dass man bei der Hälfte aller Totgeburten keine Ursache finde. Die Autopsie koste 1200 Euro. – Scheiß der Hund drauf. Wir wollen wissen, warum 2007 in Österreich laut Statistik Austria 76.250 Kinder lebend zur Welt kommen, doch Anna just eine von 291 Totgeburten ist (das sind Kinder von mindestens 500 Gramm Gewicht; Anna wog 2420). Wir wollen wissen, wieso sie eine von 15 Babys ist, die in diesem Jahr in der 35. Schwangerschaftswoche sterben. Und die Schwangerschaft verlief doch so problemlos. Uns war klar, dass mehr als ein Viertel aller Kinder in den ersten paar Monaten abgehen – oft unbemerkt. Aber Anna war doch fertig! Geld ist egal. Sollte M. nichts finden, kann man's auch nicht ändern.

Am Abend holen sie Anna. Im Keller des Spitals ist eine Katakombe, da steht ein Kühlschrank, darüber brennt ein rotes Lichtlein. Drei Männer kommen, ich hab sie seit einer Stunde erwartet. Einer öffnet den Schrank. Er greift einen Plastiksack vom Billa, darin schwimmt was Rötliches, und klatscht ihn in einen Plastiksarg. Ich höre auf zu atmen. Anna? Da? Drin? In einem Billa-Sack? Aber es ist die Plazenta. Anna liegt fein in einem Kistchen, dürftig eingewickelt, ihr wird kühl sein. Die Männer legen die Kiste in den Sarg und gehen. „Auf Wiedersehn“, sag ich. Falsch. So grüßt man Bestatter nicht. „Grüß Gott“, erwidern sie. Ein grauer Wagen bringt unser Mädchen zur Gerichtsmedizin. Ich gehe schwindlig an die Luft. Und betrinke mich.

Wir fahren heim. In den anderen Autos rollen fremde Welten. Das Wetter ist diesig, meine Frau ist sehr schwach, ihre Narbe schmerzt. Wir tappen zum Eingang unseres Blocks wie ein altes Ehepaar, Schritt für Schritt, ich stütze sie. Hoffentlich begegnet uns niemand – wir haben keine Worte. Jeder Schritt auf der Treppe ein Kampf. Die Meinige ist die stärkste Frau der Welt.

Die Herbstwelt mit ihren bunten Farben und Gerüchen nach ablaufendem Jahr ist ein Stacheldraht, der sich verkleidet hat. Jeder Kinderwagen, jede Werbung für Brei sticht ins Herz. Einmal leuchtet ein bunter Fleck aus der Wiese vor dem Haus. Gelb und violett. Ein Schnuller. Meine Frau darf auch nicht diese Schilder mit den Elefanten sehen, die zum Zoo von Schönbrunn weisen. Dort wollte sie mit Anna viel spazieren gehen, Affen und Tiger und Pinguine schauen, zwischen den Baumreihen mit dem Kinderwagen über den Kies knirschen. Ich hatte ihr ein Jahres-Abo für den Zoo versprechen müssen. Wir werden die Gegend großräumig meiden.

Sieht man von der Rudolf-Waisenhorn-Gasse in Liesing nach Süden, ragt links der Kirchturm von Brunn wie ein Zahnstocher aus dem Vororte-Teppich. Eine Handbreit links davon ist der Friedhof. Wir haben Anna im Oktober dort begraben, gleich neben einer Wiese und einem Baum mit roten Blättern, der Schatten spendet. Über den Friedhof starten Flugzeuge. Ich hab ein Särglein aus hellem Holz ausgesucht. Man hat es ausgepolstert und unsere Geschenke reingetan: Fotos von Susi und mir, auf einem tragen wir Clownnasen, weil wir lustige Eltern sind; auf einem anderen stehen wir vor dem Milchpilz in Bregenz, das ist so ein Kiosk am Hafen, wo man Milchshakes und Käsesemmeln kriegt und der aussieht wie ein Fliegenpilz. Ich hab die Fotos in Folie eingeschweißt.

Ich legte auch eine selbstgezogene rote Chilischote dazu, weil ich finde, dass Kinder schon früh scharf essen lernen können. Man hat sie mit der gelben Schnuffeldecke zugepackt, die meine Frau in der SCS gekauft hatte, und neben ihrem Kopf, über den man ein Haubi gezogen hat, bewachen sie eine alte Stoffkatze der Patentante und der gelbe, grinsende Halbmond mit Spieluhr. La Le Lu.

Kurz vor dem letzten Gang ließ ich ihr Särglein nochmal öffnen, damit ihr Patenonkel aus Vorarlberg einen Schnuffelhasen reintun konnte. Er kam von einem Ärztekongress aus Berlin angereist. Anna sah ihn zufrieden an und war hübsch. Er hatte immer Glück bei hübschen Frauen.
Am Grab spielten die Schrammeln, das hatte ich mir gewünscht, meinem Freund Clemens, dem Geiger, rannen Tränen herab. Und als dann aus der Tonanlage Johnny Cash's Cover-Version von Vera Lynn's Lied „We'll meet again“ klang, ließen wir gasgefüllte Ballons in den Himmel los. Die Ballons stiegen, wir weinten, wir gingen. Ein Meer von Sonnenblumen blieb am Grab zurück.
Heute, ein Jahr später, wissen wir, wieso Anna nur so kurz bei uns war. Professor M. fand ein erbsengroßes Loch in einem Blutgefäß, wo dieses, von der Nabelschnur kommend, in ihre Leber mündete. Anna verblutete. In der Literatur steht dazu nichts, es war wohl eine Gewebsschwäche. Zufall. Der Blumentopf, der vom Balkon auf einen stürzt.

Wir wissen, dass andere Eltern bei Totgeburten von großen Füßen und blutroten Lippen berichten. Und dass sich das Umfeld lichtet: Freunde schicken Karten und melden sich nicht mehr. Ich denke an meinen Vater, der nach Mutters Tod bemerkte, wie die Anrufe seltener wurden. „Als ob wir ansteckend sind“, sagte er. Von manchen Menschen im Arbeitsumfeld, die sonst die Großkönige des Wortes geben, ganz zu schweigen: von da Stille. Im Übrigen halten es meine Frau und ich nicht mehr so mit den Wichtigtuern und vermeintlichen Wichtigkeiten dieser Welt.

Ich kann Anna immer sehen, wenn ich mit der Eisenbahn an ihr vorbeirausche: Ihr Bettchen ist auf dem Friedhof neben der S-Bahn zwischen Perchtoldsdorf und Brunn. Sie schwirrt aber auch sonst überall herum. Doch abends macht der Mond „La Le Lu“. Dann muss sie nämlich schlafen. ■

Der Autor ist Außenpolitik-Redakteur der „Presse“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2008)

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