Alles regional?

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Schottland war gestern, Katalonien folgt morgen - und was kommt dann? Über die Sehnsucht nach Selbstbestimmung im neuen Europa.

Am vergangenen 18. September haben die Schotten darüber abgestimmt, ob ihre Heimat ein unabhängiger Staat werden soll. Ein Referendum, das weit über die Grenzen des Vereinigten Königreiches hinaus Beachtung fand. Während Nationalstaaten und auch die Europäische Union die Entwicklung in Schottland mit wachsender Beunruhigung verfolgten, setzten Unabhängigkeitsbewegungen große Hoffnungen auf den schottischen Weg.

Schottland, im Nordwesten Europas, hat rund fünf Millionen Einwohner. Das Land ist seit dem „Act of Union“ 1707 gemeinsam mit England und Wales Bestandteil Großbritanniens. Seit 1999 haben die Schotten wieder ein eigenes Parlament, das durch einen Autonomieprozess – die sogenannte Devolution – ermöglicht wurde. Chris White ist einer jener Schotten, denen die bisherige Autonomie nicht weit genug geht. Als parlamentarischem Mitarbeiter eines Abgeordneten der Scottish National Party, kurz SNP, war und ist die Trennung vom Vereinten Königreich sein Ziel. „Interessant ist, dass bei dem Referendum nicht eine politische Partei im Vordergrund stand. Es ging um viel mehr! Die Frage hat alle Schichten der Gesellschaft ergriffen, und das sehr leidenschaftlich.“

Warum sind in einem sich immer stärker einigenden Europa vor allem junge Menschen Argumenten zugänglich, bei denen es um Heimat und Identität geht? Der Völkerrechtsexperte Peter Pernthaler erkennt darin einen Trend: „Es gibt eine Bewegung quer durch Europa, die man den neuen Regionalismus nennt. Das ist eine Gegenbewegung zur Vereinheitlichung durch Wirtschaft. Unter den Jungen hat man das Bedürfnis nach einer neuen Heimat.“

Auch Gruppierungen aus anderen europäischen Regionen setzen sich für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes in ihrer Heimat ein. Mitten in der Zuhörermenge bei einer schottischen Unabhängigkeitskundgebung fand ich Gerald Leiter. Er führte eine Delegation des Südtiroler Schützenbundes an. „Wir werden ein bisschen hinter die Kulissen schauen, wie die Schotten gearbeitet haben. Vielleicht können wir etwas mit nach Hause nehmen und ummünzen auf unsere Situation in Südtirol und dort etwas bewegen“, erklärte der Pustertaler den Grund der weiten Reise.

In Südtirol ist es, neben den deutschsprachigen Oppositionsparteien, vor allem der Südtiroler Schützenbund, der für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes eintritt. „Es herrscht Frieden in unserem Land, aber mit dem Recht ist das so eine Sache. Recht wäre, wenn wir selbst darüber entscheiden könnten, wie die 1919 verlorene Landeseinheit wiederhergestellt werden kann“, so weit Landeskommandant Elmar Thaler bei einer Gedenkfeier am 8. Dezember vergangenen Jahres. Alljährlich wird auf dem Friedhof von St. Pauls der Toten des Befreiungsauschusses für Südtirol gedacht. Der sogenannte BAS wollte Anfang der Sechzigerjahre mit der Sprengung von Strommasten das Selbstbestimmungsrecht durchsetzen. Vom italienischen Staat als Terroristen verfolgt, gelten die Mitglieder des BAS vielen Südtirolern als Freiheitskämpfer.

69,5 Prozent der in Südtirol Lebenden fühlen sich der deutschsprachigen, 26 Prozent der italienischen und 4,5 Prozent der ladinischen Sprachgruppe zugehörig. „Ich glaube, wir haben weder von der Geschichte noch von der Kultur her irgendetwas mit Italien zu tun. Wir sind da hingeschoben worden und fühlen uns einfach unglücklich. Zusätzlich ist die wirtschaftliche Lage katastrophal“, argumentiert die Historikerin Margareth Lun. Gerald Leiter, der Schützenhauptmann aus dem Pustertal, erklärt, warum er sich für ein „Los von Rom“ einsetzt: „Ich fühle mich unwohl, als Tiroler in einem fremden Staat leben zu müssen, weil es ein täglicher Kampf ist. Wenn wir diese Energie, die wir dafür brauchen, nicht investieren müssten, dann wäre in Südtirol noch viel mehr möglich. Für mich ist auch die Wiedergutmachung wichtig. Das Unrecht, das unseren Vorfahren widerfahren ist, das soll wiedergutgemacht werden.“ Hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird auch in Südtirol des Kriegsbeginns gedacht. Das zu 97 Prozent deutschsprachige Gebiet zwischen Brenner und Salurner Klause wurde durch den Friedensvertrag von St. Germain Italien zugeschlagen. Das war der Lohn für den Kriegseintritt Italiens aufseiten der Entente.

Der Tiroler Altlandeshauptmann Wendelin Weingartner meint: „Die Trennung Tirols war ein Unrecht, dieses Unrecht wird auch durch die Zeit nicht gutgemacht. Es hat sich natürlich vieles geändert, und heute, kann man sagen, gibt es ein friedliches Zusammenleben in Südtirol, aber trotzdem ist die Eigenständigkeit da. Vielleicht wird es einmal eine Abstimmung geben.“

Während die regierende Südtiroler Volkspartei auf den Ausbau der Autonomie setzt, forderte in Katalonien die Regionalregierung unter Artur Mas die Abhaltung eines Referendums und hatte dafür ursprünglich den 9. November 2014 angesetzt.

Katalonien hat rund 7,5 Millionen Einwohner. Tourismus und hohe Industrialisierung machen die autonome Gemeinschaft zum wirtschaftsstärksten Gebiet Spaniens, trotzdem ist die Region massiv überschuldet. 2006 erhielt Katalonien ein erneuertes Autonomiestatut mit erweiterten Kompetenzen. Anna Arque, eine 42-jährige Unabhängigkeitsaktivistin, will mehr: „Es gab einen Krieg, und sie haben ihn gewonnen. Sie haben uns mit Gewalt besetzt. Jetzt wollen wir die Demokratie nützen, um diesen Irrtum zu korrigieren.“

Im Jahr 1714 verlor Katalonien – im Spanischen Erbfolgekrieg mit dem Hause Habsburg verbündet – seine Unabhängigkeit, nachdem Barcelona am 11. September nach einer 14-monatigen Belagerung von den Truppen des Bourbonen Philipp von Anjou eingenommen worden war. Der 11. September wird heute als katalanischer Nationalfeiertag, genannt Diada, begangen.

Am 11. September des Vorjahrs gingen in Barcelona mehrere Hunderttausend Katalanen auf die Straße, um die Abspaltung von Spanien zu verlangen. Die Katalanen forderten ein Referendum nach schottischem Vorbild. Quer durch das ganze Land, über eine Strecke von 400 Kilometer, reichten sich die Menschen die Hände, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Auch ein Jahr später, am Nationalfeiertag 2014, verlangten 500.000 (nach spanischen Angaben) bis 1,8 Millionen (nach katalanischen Angaben) Katalanen lautstark ein Referendum.

Die Regierung in Madrid, das spanische Parlament und der Verfassungsgerichtshof lehnen jedoch eine solche Abstimmung unter Verweis auf die Verfassung, welche die Einheit Spaniens garantiert, weiterhin strikt ab. Ende September hat der spanische Verfassungsgerichtshof auf Antrag der Zentralregierung die Abhaltung des Referendums bis zu seiner endgültigen Entscheidung ausgesetzt. Artur Mas sprach von einem „feindlichen Akt“ und erklärte, nunmehr am 9. November eine unverbindliche Befragung der Bevölkerung durchzuführen. Vielen Katalanen ist das aber nicht genug: Am 19. Oktober demonstrierten in Barcelona 110.000 Menschen, um den Ministerpräsidenten zur Ausrufung plebiszitärer Neuwahlen zu drängen. Dabei soll indirekt über eine mögliche Unabhängigkeit der Region im Nordosten Spaniens abgestimmt werden.

Während die Unabhängigkeitsaktivisten in Katalonien noch hoffen, ist die Entscheidung in Schottland bereits gefallen. In der Nacht vom 18. auf den 19. September 2014 schliefen viele Schotten wenig oder gar nicht. Nachdem die Wahllokale um 22 Uhr geschlossen worden waren, versammelten sich viele Menschen in Pubs oder Privatwohnungen, um das Ergebnis abzuwarten. Die Wahlbeteiligung war mit rund 84 Prozent sehr hoch. Gegen vier Uhr früh stand fest, dass die Mehrheit der Schotten gegen die Unabhängigkeit gestimmt hatte. Vielen Aktivisten stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Und doch: Aufgeben wollen sie nicht. „Das ist nicht das Ende. Die Unabhängigkeit ist das natürliche Ende der Devolution. Je mehr wir als Nation wachsen, je mehr Selbstständigkeit wir bekommen, desto eher werden die Leute begreifen, dass wir sehr wohl auf eigenen Beinen stehen können. Wir werden noch einmal wählen können, aber das wird noch dauern. Das war eine Chance, die wir vergeben haben“, meinte ein enttäuschter Yes-Wähler.

Chris White ist deprimiert: „Die Angst hat über die Hoffnung gesiegt. Aber Schottland ist immer noch ein gutes Beispiel für Katalonien und Südtirol und alle anderen, die das Recht auf Selbstbestimmung ausüben wollen. Das Ergebnis ist nicht so, wie wir es uns gewünscht haben, aber wir können alle stolz auf die Tatsache sein, es in einem demokratischen Prozess erreicht zu haben.“
Auch Gerald Leiter, der eigens für die Abstimmung nach Edinburgh gereist war, konnte der Niederlage Positives abgewinnen: „Es war ein Sieg der Demokratie: Ein Volk hat selbst entscheiden dürfen, wie es die Zukunft gestalten will. Alle Politiker in Europa können sich daran ein Beispiel nehmen, sie können nicht mehr sagen: Es ist nicht möglich.“

Anna Arque kann keinen Rückschlag für die katalanischen Separatisten erkennen: „Schottland hat der Welt gezeigt: Wir sind eine Nation! Diesmal haben wir Nein entschieden, morgen werden wir wir vielleicht Ja sagen. Das ist alles, was Katalonien möchte: abstimmen dürfen!“
Am Tag nach der Abstimmung ist Alexander Salmond, der schottische First Minister und wichtigste Proponent der „Yes“-Bewegung, zurückgetreten. Doch der Traum von einem unabhängigen Schottland ist nicht ausgeträumt. Salmond beendete seine Rede mit einem Satz, der wohl auch den Aktivisten aus Katalonien und Südtirol aus der Seele gesprochen ist: „The dream shall never die!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2014)

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