Bitte herbei, Pariser Mai!

In der Serie „Expedition Europa“: Sarkozy an der Côte d'Azur.

Nacht an der Côte d'Azur. Ich liege im Bett und belausche bei offener Balkontür das Meer. Manchmal, bevor eine Welle auf den Strand prallt, wird es ganz still. Gelegentlich ein Hereinschwappen von der Seite. Dann wieder, von einem Grundrauschen herbeigetragen, kleinere Gischten in einem nervösen Rhythmus.

Ich erhole mich in einer schlichten, weit zur See geöffneten Café-Bar mit ein paar Fremdenzimmern darüber. Im „Le Cannier“ ist kein Chef zu spüren, eine Art Kooperative älterer provenzalischer Typen in Dreiviertelhosen macht die Arbeit. In Les Sablettes, auf einer 100.000 Einwohner starken Halbinsel vor dem Marinehafen Toulon gelegen, gibt es keine Hautevolee. In meinem Zimmer bin ich maximal dem Meer ausgesetzt. Sogar vom Topferl sehe ich das steile Cap Sicié, das Meer und daraus herausragend „Les Deux Frères“, einen Zwillingsfelsen.

Ich betrachte das Strandleben. Eine junge Mutter geht mit hochgezogenen Hosen ins Seichte, ihr Stöpsel in kurzen Hosen folgt. Plopps fällt er vornüber ins Salzwasser. Er bleibt eine Weile liegen. Die Mutter dreht sich um, grinst, zieht ihn unbesorgt hoch. Der Stöpsel perplex. Jetzt kreischt er gleich, denke ich. Aber nein, Mutter und Kind wandern ans Ufer. Der Windelträger lässt sich quietschvergnügt umziehen. Gewiss, Frankreich ist uncool geworden. Furchtsam starrt die Nation auf unbedeutende schlechte Nachrichten: Schon wieder kaufen Chinesen ein kleines Weingut, schon wieder entlässt eine kleine Firma eine Alleinerziehende. Im Winter sind die Atlantikwellen zu hoch, im Sommer ist die Riviera zu verregnet, und wenn keine Nachsaison seit zehn Jahren so sonnig ist wie diese, warnt sogleich ein Experte: „Schwimmen? Da ist höchste Vorsicht angebracht!“ Dabei hat das Meer noch 22 Grad.

„Wer nichts riskiert, heiratet nicht“

Selbst kinderlos, will ich mich nicht über Erziehung verbreiten, instinktiv glaube ich aber Ratgebern wie „Bringing up Bébé“, die überspannten amerikanischen Leserinnen das Vorbild der französischen Mutter nahelegen. Nicht dass ich französische Kinder nie bitzeln sehe, aber Frankreich hat dauerhaft die beste Geburtenrate der EU, und bei meinen Frankreichreisen hat mich immer der Familiensinn beeindruckt. Jetzt sehe ich vom Balkon junge Frauen mit ihren Großmüttern spazieren. Füße im Wasser – oder stehend, sitzend, wortkarg, schauend.

Am Nachmittag verwandelt sich das Meer in eine silbrig schimmernde Fläche. Nach Sonnenuntergang sitzt nur noch eine Jungfamilie auf der Caféterrasse unten. Augenverderbend schwach beleuchtet, verschlingt das blonde Töchterchen ein Comicbuch. Die Eltern schauen aufs Meer. Schließlich gibt die Mutter das Zeichen zum Aufbruch, der Vater steht als Erster auf. Jetzt zetert die Kleine gleich, denke ich. Nein, sie folgt den Eltern. Liest im Gehen weiter.

Nur Nicolas Sarkozy vermag mich aus meiner Mittelmeerloge zu locken. Er spricht in Toulon. Der Expräsident bringt das überfüllte Kongresszentrum zum Glühen, indem er das Ende von Immigration und Schengen fordert. Dann wirft er der sozialistischen Regierung vor, sie zerstöre, „was von der ganzen Welt bewundert wird – unsere Familienpolitik“. Er steigert sich in ein leidenschaftliches Plädoyer für den Wagemut: „Wer nichts riskiert, heiratet nicht.“ Der Charismatiker hält inne, senkt die Stimme ganz tief, raunt ergriffen-ergreifend über das „Mysterium des Lebens“, das ein Mann im Scheitern erfährt – um umstandslos ein ganz anderes Plädoyer abzufeuern: „Wir wollen uns nicht ändern.“
Draußen ist der goldene Oktober vorbei, der kalte Mistral lässt die Masten der Jachten quietschen. Jetzt kommt der Winter. Und irgendwann bitte ein neuer Pariser Mai.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2014)

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