Zwischen Parlament und Puff

Eigentlich könnte man hier angenehm wohnen. Nur mit dem Geschäftlichen scheint es nicht so recht zu klappen. Nach elf Jahren ist es nun Zeit für mich, von der Lerchenfelder Straße Abschied zu nehmen. Ein Rückblick in Wehmut.

Natürlich gibt es auch in der Lerchenfelder Straße einen Mann vom anderen Stern. „Ich bin eigentlich ein Außerirdischer“, sagte er mir einmal im „Würfel“. Ich nahm an, er meinte das im übertragenen Sinne, ironisch oder metaphorisch. Ich glaube aber, dass er es ernst meinte, obwohl sein Akzent unbezweifelbar terrestrisch klang, wenn auch ein wenig osteuropäisch. Seine ebenfalls recht diesseitigen Kommentare zur österreichischen Politik schreibt er meist mit einem groben Zimmermannsstift und in leicht fehlerhaftem Deutsch auf die Werbewände, die in der Lerchenfelder, wie überall in Wien, reichlich Platz dazu bieten.

Wie der an der Wiener Uni berühmte „Physikberichtiger“ ist auch der Außerirdische ein Naturwissenschaftler, der andere Menschen „vom Fach“ gerne in wissenschaftstheoretische Gespräche verwickelt. Jetzt allerdings öfter beim „Hofer“, denn den „Würfel“ gibt es nicht mehr. Es war der sicherlich billigste und bestbestückte Buchladen Wiens. Bei Preisen, die meist unter einem Euro rangierten, konnte man dort beispielsweise Feldforschung über die Lesegewohnheiten der Wiener Geistlichkeit betreiben. Erstens wurde einem schnell klar, dass das ehelose Leben auch Männern ein hohes Alter garantiert. Zweitens war deutlich, dass die geistlichen Herren das Mysterium des Geistes genauso oft in englischen „Mysteries“ fanden wie in der Heiligen Schrift.

Wer Krimis aus längst verflossenen Jahrzehnten suchte, erlebte bei den Nachlassverwertern vom „Würfel“ immer wieder freudige Überraschungen. Die dabei eingespielten Euros kamen den Unterstandslosen zugute. Und auch die Secondhand-Buchhändler aus Ungarn holten sich dort für einen Hunderter locker eine ganze Wagenladung Bücher ab. Der „Würfel“ war also eine Zentrale der interkulturellen Befruchtung auf der Lerchenfelder, ähnlich wie der Sexshop in dem denkmalgeschützten Gebäude, aus dessen oberen Fenstern einem die russischen Mädchen zuwinkten.

Nein, mir haben sie nie zugewinkt. Nur einander. Vermutlich, um sich zu begrüßen oder daran zu erinnern, auch noch der Freundin ein Erdbeerjoghurt mitzubringen. Aber es ist klar, dass die Animiermädchen vom Gürtel irgendwo leben und auch einmal tagsüber auf die Straße müssen. Selbstverständlich gibt es dazu die Strizzis, und gelegentlich verirren sich auch schon einmal die Giftler von der U6 etwas weiter herunter. Aber im Grunde ist die Lerchenfelder eine solide Wohnstraße.

Nur mit dem Geschäftlichen scheint es nicht so ganz zu klappen. Die Parallelstraße, die Josefstädter, ist eine Ladenstraße der gehobenen Mittelklasse, die Neubaugasse hat sich als bunte Einkaufsmeile der „Spezialisten“ etabliert. Aber die Lerchenfelder ist wie ein Taubenschlag. Die Läden machen auf und machen zu, so schnell kann man gar nicht schauen. Manchmal lassen sie sich auch etwas Zeit mit dem Wiederaufmachen. Als der Besitzer des jugoslawischen Schallplattenladens in seinem Geschäft erschossen wurde, blieb die gelbe Binde der Kripo sicher vier Jahre lang an der Tür. Heute ist dort ein Internetshop untergebracht. Sorry, gestern noch war er's. Heute kann das schon wieder anders sein.

Wie wäre es mit „Abguscht“?

Als Kontrast dazu, eine langfristige Erfolgsstory auf der anderen Straßenseite, ist das persische Restaurant zu nennen, das Café Pars, mittlerweile seit fast 30 Jahren hier und in zweiter Generation. Jahrelang wollte ich dort an einem Donnerstag das „Abguscht“ zu Mittag essen, das persische Nationalgericht, und habe es regelmäßig verpasst. Man kann es natürlich tiefgefroren erwerben und zu Hause erhitzen. Aber wenn man schon in der Lerchenfelder ist, sollte man die Chance nutzen, die feine persische Küche live zu erleben. Wenige Meter weiter befindet sich der Frisiersalon der Schwestern Gigl, dessen übermannshohen Schriftzug „GIGL“ man überhaupt erst von der gegenüberliegenden Straßenseite her lesen kann. Die „Gigl-Sisters“, wie ich sie immer genannt habe, sind Zwillinge und waren jahrelang kaum voneinander zu unterscheiden für mich, bis die eine anfing, mich zu siezen, und die andere, mich zu duzen. Mittlerweile sind sie mehr als ein Vierteljahrhundert an dieser Stelle im Geschäft, sogar der Nachwuchs steht schon mit der Schere in der Hand parat, doch wie sie sich über Wasser halten, ist mir ein Rätsel, denn sie sind umringt von Schönheitssalons. Im Umkreis von 100 Metern ist es gut ein halbes Dutzend, Nagelstudios nicht mitgerechnet. Vom Gürtel her tröpfeln allmählich die Geschäfte mit der geringen Rendite abwärts. Ich habe schon Pizza-Anbieter zumachen gesehen, noch bevor sie eine einzige ihrer mehrfach erwärmten Stärkescheiben verkaufen konnten.

Kurioserweise besitzt die Kirche auf der Lerchenfelder Straße eine Strahlkraft, die sich positiv auf den Kommerz auswirkt. Von Hollywoodfilmen dazu verführt zu glauben, dass alle katholischen Kirchen des Nachts geöffnet sind, um armen Sündern Einlass zu gewähren, glaubte ich lange Zeit, diese Kirche sei eine protestantische, da sie nächtens ihre Pforten geschlossen hält. Zudem prangte an ihrer Straßenseite stets das Schild einer Baufirma statt des Namens eines Heiligen. Es ist aber eine katholische – und eine schöne Kirche noch dazu; innerlich von erhabener und erhebender Bauart. Der Eingang befindet sich seitwärts, an der Schottenfeldgasse, und dort erfährt man auch, dass dies die Altlerchenfelder Pfarrkirche „Zu den sieben Zufluchten“ ist und dass sie in nur zwei Jahren, zwischen 1848 und 1850, errichtet wurde. Im Frühling und Herbst erstrahlt sie, mit den vor ihr aufblühenden Bäumen, zu majestätischer Pracht.

Warum gerade hier das Gewerbe floriert, mag auch daran liegen, dass an dieser Stelle die Straßenbahn Fahrgäste entlädt und aufnimmt. Den Rest der Straße muss der schwer bepackte Anlieger oder der Kunde von anderswo, der hier seine Einkäufe tätigt, weitgehend zu Fuß durchmessen. Die Haltestellen liegen einfach zu weit auseinander. Und parken kann man ohnehin nirgends. Dass die Lerchenfelder, eine Straße mit einigen der schönsten Innenstadtfassaden, zusehends die Mittelklasse verliert, ist erkennbar das Resultat einer fehlerhaften Stadtplanung. Hier, in unmittelbarer Nähe des Parlaments, des Museumsquartiers, der Innenstadt, würde man eine gesunde Mittelschicht aus IT und Kunst-Kultur-Film-Leuten erwarten, dazu gehobene Diplomatenwohnungen, Hotelbetriebe, Touristenströme und andere Einkaufswillige – ähnlich wie in der Josefstädter oder der Mariahilfer Straße. Doch nein. Ähnlich wie die Thaliastraße, einst eine gehobene Einkaufsstraße, verslumt die Lerchenfelder allmählich.

Dass in Wien New Yorker Verhältnisse einreißen, mit krassen sozialen Gegensätzen sogar zwischen direkt nebeneinanderliegenden Blocks, lässt sich deutlicher zwischen Josefstädter und – jenseits des Gürtels – in der Neulerchenfelder Straße erkennen. Auf der Josefstädter Straße funktionieren die Bankomaten auch noch nach 18 Uhr.

Die Lerchenfelder Straße ist auch Opfer der innerstädtischen Zerstrittenheit. Ist sie doch, eine besondere Absurdität, auf der einen Seite dem siebenten, auf der anderen Seite dem achten Bezirk zugehörig. Es fühlt sich gewissermaßen niemand für beide Seiten der Straße verantwortlich.

Was die Straße bräuchte – was jede Innenstadtstraße in Wien braucht –, wäre zunächst einmal eine Flankierung durch ein größeres Parkplatzangebot, das den Anwohnern, Besuchern und Kunden die Möglichkeit gäbe, ihre persönliche Mobilität vernünftig wahrnehmen zu können. Zweitens: nicht nur den alten Menschen, sondern auch jungen Müttern zuliebe eine vernünftige Öffi-Lösung, die Transport und Shopping in der Straße erleichtert. Und drittens: eine Planung auf zehn Jahre, wie ein wünschenswertes Innenstadtleben aussehen sollte. Ein Bewohner der Lerchenfelder Straße baute sich unlängst eine Tiefgarage mit aufwendigem Hebewerk – nur für den eigenen Bedarf. Krasser kann der Widerspruch zwischen den Haves und Have-nots an dieser Stelle wohl kaum ausfallen.

Die Wiener Misere

Tatsächlich ist aber nicht einzusehen, warum jemand abends eine Stunde lang durch die Nachbarschaft gurken soll, um seine Edelkarosse schließlich einen Kilometer weit entfernt von der eigenen Haustür abzustellen – nur um den Wagen möglicherweise am nächsten Tag beschädigt oder gar nicht mehr vorzufinden. Ich selber habe meinen schäbigen Golf jahrelang auf der Straße gehabt, immer weit vom Schuss, irgendwo im 8. Bezirk, und habe dafür viel Geld bezahlt. Trotzdem bin ich meistens im Taxi gefahren, wenn ich rasch ein Auto brauchte. Weil ich am anderen Ende der Reise nicht damit rechnen konnte, einen Parkplatz zu finden, beziehungsweise mit Sicherheit damit rechnen musste, einen Strafzettel zu kassieren.

Damit ist die Lerchenfelder Straße im Kleinen nur eine Reflexion der größeren Wiener Misere. Andererseits ist sie heute eine Straße mit zahllosen hübschen Restaurants, mit unverhältnismäßig vielen Buchläden und überraschenden Ausblicken. Wer einmal vom „Hofer“-Supermarkt aus (es gibt auch noch andere, gewiss doch!) auf die andere Straßenseite blickt, entdeckt dort eine wundersam hübsche Passage. Ich selbst bin jahrelang an ihr vorbeigegangen, ohne sie zu bemerken.

Und wer an der Haltestelle Strozzigasse aussteigt, mag seine Verweildauer um ein paar Minuten verlängern, um oben auf der Turmspitze des Eckhauses die Ritterstatue an der Fahnenstange zu bewundern. Die Figur ist, dem Vernehmen nach, in einer stürmischen Nacht schon einmal heruntergekracht. Bei Sturm und Wind empfiehlt sich also ein Straßenseitenwechsel.

So bietet die Lerchenfelder Straße einen bunten Reigen, zwischen dem Parlament an ihrem einen Ende und den Puffs am anderen. Nur eine Plakette für den berühmten Freddy Quinn, der hier aufwuchs (genauer, in einer Seitenstraße, der Lerchengasse) findet sich nirgends. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2009)

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