Als das Backrohr kalt blieb

Kein Gas mehr in der Leitung – wer kann sich heute schon vorstellen, was das bedeutet? Ich habe sie erlebt, die Gassperrzeiten, damals, im langen Winter 1946/47. Eine Erinnerung.

Die Indianerkrapfen mit ihrem Schokoladeguss und der Schlagobersfülle sahen zum Anbeißen aus – lecker, wie die von permanentem deutschem Fernsehen verbal misshandelten Kinder heute sagen würden. Die Serviererin, von der die Mehlspeise auf einem Tablett dargeboten wurde, war nicht minder „lecker“ mit ihrem Spitzenhäubchen und der weißen Schürze. Sie offerierte die Wiener Kreation leider nur auf einem Plakat. Die Aufschrift darunter beutelte unsereinen blitzschnell in die Gegenwart zurück: „Wenn Sie das noch erleben wollen, beachten Sie bitte die Gassperrzeiten.“ Dasselbe sagte der Selchermeister, der hinter einem Tisch voll der verführerischsten Würste stand, mit einem Papier in der Hand, während er mit der anderen eine Schnitte Extrawurst zeigte. „Darf's ein bisserl mehr sein?“, fragte er. Und wieder: „Wenn Sie das noch erleben wollen, beachten Sie bitte die Gassperrzeiten.“

Die Fahrgäste im überfüllten Stadtbahnzug (die Stadtbahn, Sie wissen es vielleicht, war die Vorläuferin der U-Bahn), die Fahrgäste, die solche in den Waggons affichierten Plakate der Gaswerke sahen, begannen zu träumen. Sie ahnten nichts vom Winter 2008/09. Sie konnten nicht wissen, dass rund sechs Jahrzehnte später das zeitweilige Ausbleiben von Russengas die Angst der Europäer vor kalten Heizungen schüren sollte. Heizung? Was ist das? Etwa das, was Konditoreien wohlig warm macht, in denen hübsche Kellnerinnen eleganten Damen Krapfen servieren?

Der Gymnasiast auf dem Weg zur Schule wusste nichts von Schlagobersdesserts. Er war ein 14-Jähriger, der die Ermunterung des Wurstverkäufers nicht kannte. Oder sich nicht erinnern konnte? Das hat es wirklich gegeben, heißt es. Es gab eine Zeit, da man Fleischwaren ohne Lebensmittelmarken kaufen konnte – und mehr als die 1200 Kalorien, die der wöchentlich in den Zeitungen veröffentlichte „Aufruf“ versprach. Es gab auch, erzählten die Älteren, eine Zeit, da es wirklich und allen Ernstes Krapfen gab mit Schlagobers – und Bohnenkaffee dazu und vorher sogar ein Schnitzel. Alles Fremdwörter für die Halbwüchsigen!

Es muss wohl Ende 1946 gewesen sein. Oder Anfang 1947? Sei's drum. Der Winter damals war kalt. Sehr kalt. Und lang, sehr lang. Die Frostperiode dauerte viele Wochen. Im Jänner und Februar zeigte das Thermometer immer wieder bis zu minus 17 Grad. In Gänserndorf meldete ein Gerät der Zentralanstalt für Meteorologie minus 23 Grad. Keine Rede damals von Erderwärmung! Und wenn irgendjemand, mit der Gabe prophetischen Wissens versehen, von Kohlendioxid-Vergiftung der Erde gefaselt hätte, wäre er ausgelacht worden. Erderwärmung? Hoffentlich bald!

Es war fast eine neue Eiszeit, dieser Winter 1946/47. In der Schule scherzten wir über den Wetterbericht des kommenden Augusts: leichte Frostminderung, die bis knapp unter den Gefrierpunkt steigt. Erst als der Winter damals zu Ende ging, begann wieder der Unterricht. Die Weihnachtsferien waren nahtlos in wochenlange Kälteferien übergegangen. Wir saßen zweimal wöchentlich im bitterkalten Klassenzimmer, eingehüllt in unsere ärmlichen Wintermäntel, soweit überhaupt vorhanden, und ausgerüstet mit Wollmützen und Schals. Zweimal pro Woche erhielten wir Hausübungen und lieferten gleichzeitig die geschriebenen ab. Ob die Professoren (weiblichen mutete man die Kälte nicht zu) wegen der Temperaturen Milde walten ließen, weiß ich nicht mehr. Ich weiß auch nicht mehr, wie ich es damals zustande brachte, mit klammen Fingern die Feder zu halten.

Denn in der Wohnung hatte es zwölf Grad – aber nur in einem einzigen Zimmer. Heizkörper war der Gasherd, „Rechaud“ nannte man ihn damals. Drei Rippenplatten hatte er, aus denen die blauen Flämmchen züngelten. Das Backrohr blieb kalt. Das Gerät in Betrieb zu nehmen wäre zu gefährlich gewesen. Noch gefährlicher waren die vermaledeiten, die teuflischen Sperrzeiten. Dreimal am Tag gab es ein, zwei Stunden lang Gas. Der Rest war nicht Schweigen, sondern Kälte. War Frost, der durch die notdürftig abgedichteten Fenster kroch. Wie hatte Leopold Figl in seiner berühmten Weihnachtsansprache 1945 gesagt? „Ich kann euch nichts geben, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden. Ich kann euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich!“ Wir Gymnasiasten glaubten.

Die Figl-Rede habe ich oft zitiert – und auch den Irrtum, der Jahrzehnte später einem Radiosprecher unterlief, als er die Ansprache zitierte: „... kein Glas zum Einschenken“. Etwas anderes konnte sich der Kollege nicht vorstellen. Vor allem nicht, dass in der allerersten Nachkriegszeit Fensterglas nur für einen einzigen Raum zur Verfügung gestellt wurde, und das nur für einfache Verglasung.

Wir aber verstanden, dass uns Kanzler Figl keine Versprechungen machen konnte, die eine Verbesserung der Lebensumstände erreichen sollten: „Wir haben nichts!“ In der Tat, wir hatten nichts. Statistiken gefällig, im Buch „Trümmerjahre“ von Karl Vocelka gefunden, aus der Stunde null geschöpft? 53 schwere Bombenangriffe auf Wien, 8000 Tote, mehr als 6000 Gebäude total zerstört, fast 13.000 schwer und 27.000 leicht beschädigt, insgesamt also fast 47.000 Gebäude, das sind etwa 28 Prozent des gesamten Baubestands von Wien. Bestandsaufnahme der Ausgangslage, die in den Mythos (Mythos?) des Wiederaufbaus mündete: „86.875 Wohnungen in Wien waren unbenutzbar geworden, dadurch hatten etwa 270.000 Menschen ihre Wohnungsmöglichkeit verloren, sie waren sogenannte Ausgebombte.“

Die gefüllte Auslage eines Selchermeisters. Das Tablett voll „Indianern mit Schlag“. Wir Schüler wussten nicht, was das war und wie das war. Wir wussten nur, dass der Bundeskanzler recht hatte: Wir haben nichts. Wir hatten nicht einmal die Möglichkeit, im Theater, im Kino zu vergessen. Sie waren alle geschlossen. Es gab ja kein Heizmaterial, und das wenige, das vorhanden war, wurde zum Großteil den Wärmestuben zur Verfügung gestellt, die für die Wiener geöffnet waren. Die Strommenge pro Tag und Haushalt, die noch Ende 1945zwei Kilowattstunden betragen hatte, wurde während der Kältewelle 1946/47 auf eine halbe Kilowattstunde gesenkt.

Und unsere verbliebene ärmliche Heizquelle, Gas, war, wie erwähnt, nur stundenweise vorhanden. Die Flammen verlöschten, wenn die Zufuhr gesperrt wurde. Viele Menschen merkten es nicht. Wenn dann das Gas wieder zu strömen begann, gab es Tote. Viele Tote. Die Menschen hatten es verabsäumt, den Herd zu kontrollieren, und erlagen einer Gasvergiftung. Denn das damals verwendete Stadtgas enthielt Kohlenmonoxid, und wer das einatmet und nicht rechtzeitig mit Frischluft in Berührung kommt, ist unrettbar verloren. Kohlenmonoxid ist in reiner Form geruchlos. Man hatte das Leuchtgas deshalb mit Geruchsstoffen gemischt. Es hat nichts genützt.

Kohlenmonoxid heftet sich an die roten Blutkörperchen, und dies bewirkt, dass der ordnungsgemäße Transport von Sauerstoff von der Lunge zu den Organen blockiert wird. Die Versorgung mit Sauerstoff bricht zusammen, und der Mensch stirbt. „Ich nehm den Gasschlauch!“ war ein oft gehörter Ruf verzweifelter Menschen. Oder sie kündigten an, dass sie „den Kopf ins Backrohr legen“ würden. Leuchtgas war eine der häufigsten Selbstmordmethoden, schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg. Sie ist es geblieben. Es war, hörte ich damals, verhältnismäßig leicht, die Todesursache zu erkennen. Die Gesichtsfarbe der Leichen war ein leichtes Rosarot . . .

Wir haben nichts, sagte Leopold Figl. In der Tat, wir hatten nichts. Eine Zeitlang hatten wir nicht einmal Wasser. Nicht nur die Gas-, sondern auch die Wasserversorgung lag darnieder. Die Rohre waren geborsten, die Zentralen zerstört. Die Gasometer waren wie durch ein Wunder nahezu heil geblieben, sagte man. Glücklich jene, in deren Haushof sich ein Brunnen befand. Wir stellten uns mit Kübeln an, um zu schöpfen. Dieser Albtraum war bald vorüber – Gott sei Dank. Nicht freilich die Existenzangst; gemeint ist jene, die den Weiterbestand des Lebens betrifft. Leben? Eigentlich war es damals wirklich nur ein Existieren. An Aufrufen gab es genug damals, und nicht alle gingen so zu Herzen wie jener, der uns Hoffnung gab: „Glaubt an dieses Österreich!“ Nüchterner war jener Appell, den die Bundesregierung am 15. Jänner 1947 an die Bevölkerung richtete: „Österreicher, wir haben viel Hartes durchgemacht, wir haben die nazistische Herrschaft erlebt und überstanden und mit unbeugsamem Aufbauwillen versucht, diesen Staat neu zu schaffen. Wir wollen und dürfen auch in dieser Krise den Mut nicht sinken lassen und werden, weil wir es müssen, auch die noch vor uns liegende kurze Winterszeit hindurchkommen.“

Kurze Winterszeit? Sie war, wie gesagt, lang. Sehr lang. Zu lang. Immer mehr Tote gab es, erfroren, vom Gas vergiftet. Der damalige Sozialminister, Karl Maisel, fasste es ebenso kurz wie aufrichtig: „Wir sind in der schlimmsten Situation seit Bestehen unserer jungen Republik.“ Weil es kein Gas gab, holte man sich Brennmaterial, wo auch immer man es besorgen konnte. Die Betriebskohlenvorräte am halb zerstörten Westbahnhof wurden geplündert, 60 Waggons Kohle sogar mit Handwagen und anderen Fuhrwerken davongekarrt. Der „Kohlenklau“, von Nazi-Plakaten bekannt, feierte Urständ, die keineswegs fröhlich waren. „Hausfreund“ hatte man in den letzten Kriegsjahren einen kleinen Ofen genannt, der für den Fall propagiert wurde, dass Strom und Gas, vor allem Gas nach den Bombenangriffen, zeitweilig nicht verfügbar waren. Glücklich, wer noch einen Hausfreund besaß.

Allein, es ging auch mit Holz. So wie nach dem Ersten Weltkrieg wanderten die Wiener jetzt wieder in die umliegenden Wälder, um Brennmaterial zu sammeln. Der Kohlenklau wurde durch den Holzklaub abgelöst. Die Wegstrecken, von den Sammlern zurückgelegt, betrugen viele Kilometer. Die „Öffis“ waren rar bis nicht vorhanden.

Obzwar die „Wiener Verkehrsbetriebe“, wie sie damals hießen, schon am 29. April 1945 wieder den Betrieb aufnehmen konnten. Freilich nur teilweise und nur im Westen Wiens; in diesen Teilen der Stadt waren die Gleisanlagen am wenigsten zerstört. So kam es, dass vorerst nur fünf Linien verkehren konnten. Der 47er und der 60er fuhren uneingeschränkt auf ihrer alten Strecke, 46er und 49er konnten zunächst nur außerhalb des Gürtels fahren, und der 10er verkehrte zwischen Ottakring und Johnstraße.

Ich habe mich später immer wieder gefragt, was denn das Wesentliche im Leben einer Stadt ausmacht. Ich habe in Deutschland Städte gesehen, von denen man nach dem Krieg überlegte, sie an anderer Stelle wieder aufzubauen, weil die Bombenschäden nicht zu beheben schienen. Es ist glücklicherweise nicht dazu gekommen; Wien war im Vergleich zu den Großstädten der heutigen Bundesrepublik glimpflich davongekommen – trotz seiner schweren Zerstörungen. Dass gerade zu Beginn eines neuen Gedenkjahres mit dem ominösen Neuner im Gepäck Erinnerungen an die erste Nachkriegszeit wach werden, darf gestattet sein. Dass ich angesichts der europäischen Furcht vor einer russischen Gassperre und davor, dem Gas aus Russland auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, mein Gedächtnis strapaziere, ist natürlich.

Wenn Sie das noch erleben wollen, beachten Sie bitte die Gassperrzeiten? Wir haben es erlebt. Wir schätzen wohlgefüllte Delikatessenläden und lassen uns „Indianer mit Schlag“ schmecken. Wir hoffen nämlich, dass sich die Russen an die Gassperrzeiten halten. Soll heißen: dass es sie nicht gibt. Nicht mehr gibt. Ich habe sie erlebt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2009)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.