Wunder aus Wunden

„Den Menschen verändert, wer ihn glauben macht, es könnte ihn noch geben.“ Über Elazar Benyoëtz, meinen Rabbi der deutschen Sprache.

Wer zum Teufel ist das?“, sagte eine Bekannte, der ich ein Buch von Elazar Benyoëtz empfahl. Ich erschrak. Ich befand mich ja noch im Eindruck der Lektüre von Elazar Benyoëtz, das heißt, ich war von ihm darauf eingeschult, in den Worten, die wir so leichthin verwenden, einen Schleiertanz von Hintersinn zu sehen. Und so hörte ich aus dem Satz, den meine Bekannte gesagt hatte, etwas heraus, das der Floskel jegliche umgangssprachliche Unschuld, zumal in Österreich, nahm: Im Gemeinten schien mir Gemeinheit zu stecken, im Gesprochenen ein Spruch, also ein Urteil, im Gesagten der Anklang einer Sage, also naive Dämonie. Mir war schon klar, dass sie mit der Floskel „Wer zum Teufel ist das?“ nur sagen wollte, dass sie den Namen nicht kannte, aber sie, oder zumindest ihr Satz, hatte auch gesagt, dass zum Teufel gehen soll, wen sie nicht kennt.

Ich antwortete nicht gleich – das ist typisch für Benyoëtz-Leser, das Innehalten nach jedem Satz –, dann sagte ich: Bei Elazar Benyoëtz musst du „zum Teufel“ durch „bei Gott“ ersetzen!

Und ich erschrak wieder. Was sagte ich da? Ich habe mit Gott nichts zu schaffen, mir ist daher auch die Liebe zu Gott verwehrt. Über diese Formulierung („Schaffen“, „verwehrt“, in Bezug auf Gott) könnte Elazar Benyoëtz wohl stundenlang – nichts sagen, dann einen ewig gültigen Satz schreiben. Was ich sagen wollte, ist: Ich bin ein Kind der Aufklärung, und ich lege Wert auf die Bedeutung der beiden Substantive: Kind meint Unschuld, Aufklärung meint Diesseitigkeit, und das bedeutet, dass also die Geschicke der Welt in den Händen der Menschen liegen, zunächst unschuldig, dann, in der Tat, schuldig. Schon wieder muss ich stocken. Geschicke. Da steckt Schicken drin – damit die Frage, wer denn geschickt hat, was nun in unseren Händen liegt. Hat meine Formulierung gegen meine Absicht den Gott, den ich nicht anerkennen will, wieder ins Spiel gebracht? Ist er, der in der Sprache allerorten zum Vorschein kommt, auch wenn wir ihn zurückweisen, der wahre „Global Player“, zumindest in unserem Sprachspiel? Wer es glaubt, macht andere nicht selig. Wer aber die zumindest sprachliche Evidenz Gottes immer wieder anspricht, besser gesagt: das buchstäblich Ansprechende seiner Evidenz hört, der kann die Seelen anderer berühren.

Ich kenn ja einige Menschen, für die Dichtung etwas „Heiliges“ ist, aber bei Elazar Benyoëtz stelle ich mir das buchstäblich so vor: dass Gott zur Rechten von Elazar sitzt und ihm, zu unserer Erinnerung, Sätze diktiert wie: „Am Anfang war nicht der Anfang, sondern das Wort.“ Das hat dann natürlich ein anderes Gewicht, als – da unterbrach meine Bekannte mein Schweigen und sagte: „Also wer, bei Gott, ist dieser Elazar Benyoëtz?“

Der nicht entweihte Sprachboden

Und ich erschrak wieder. Muss man nicht, wenn man über ihn Auskunft geben soll, damit beginnen, dass er just hier, in diesem Land, bald nach seiner Geburt tatsächlich zum Teufel gejagt wurde? Das war im Jahr 1938, in Wiener Neustadt, wo er 1937 als Paul Koppel „die Finsternis dieser Welt erblickte“, aus der er sofort vertrieben wurde. Er kam mit seinen Eltern nach Jerusalem, in jene Stadt, die keinen Teufel braucht, weil dort bereits ein Gott dem anderen der Teufel, ein Gläubiger dem nächsten ein Ungläubiger ist, die Vielfalt von Heiligtümern schon ein Himmel-und-Hölle-Spiel ergeben. Die gelungene Flucht nach Palästina bezeichnete Elazar Benyoëtz rückblickend allerdings als „Erwachen auf einem nicht entweihten Sprachboden“. Sehr bald starb der Vater, der Gottlieb hieß und den hebräisch seltenen Namen Yoëtz (Ratgeber) angenommen hatte. Der Tod des Vaters bedeutete für Elazar neben allen weiteren Erschwernissen auch den Verlust des Deutschen. Er wuchs in hebräischer Sprache auf, machte 1959 das Rabbinerexamen, aus dem er sich dann aber nicht viel machte: Er übte dieses Amt nie aus. Die Rabbinerausbildung gab ihm, wie er sagte, in seinem Lebenslauf „Halt, nicht Richtung“. Er veröffentlichte Gedichte auf Hebräisch, unter dem Namen Benyoëtz (Sohn des Ratgebers), um dann einen Entschluss zu fassen, der aus den Wunden Wunder machte: Er verließ Ende 1962 das Land, in dem er Fuß gefasst hatte, um in das, wie er schrieb, „ihm fernste“ zu reisen: nach Österreich.

Was machte er hier? Ich weiß es nicht. Es hatte ihn keiner gerufen, niemand eingeladen. Hörte er Tonfälle? Versuchte er ihnen einen Sinn zu geben? Hier erlebte er die großen Feiern zum 80.Geburtstag von Max Mell, und dass keiner von Mells Bekenntnis zum „Führer“ im Jahr 1938 wusste oder wissen wollte.

Eingeladen wurde er nach Deutschland, nach Berlin, im Jahr 1964, wo etwas sehr Seltsames, ja, man kann es nicht anders nennen, ein Wunder geschah: Elazar Benyoëtz sprach kaum Deutsch, die deutsche Sprache, die Vatersprache, die ihm in die Wiege gelegt war und dort hatte zurückbleiben müssen, die zu beherrschen ihm also nicht mitgegeben war, bemächtigte sich seiner mit solcher Vehemenz, dass er anfing, deutsch zu denken und zu reden, auf Deutsch zu schreiben und zu dichten. Er war 26 Jahre alt und fasste einen gewaltigen wissenschaftlichen Plan: Er wollte ein Lexikon herausgeben, das alle deutschen Dichter jüdischer Abstammung und deren Beiträge zur deutschen Literatur versammelte, noch die entlegensten, alle zu Recht oder zu Unrecht vergessenen sollten in dieser tunlichst lückenlosen Enzyklopädie vermerkt werden. Die Arbeit an dieser Bibliographia Judaica wurde ab 1965 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.

Dass ein solches Projekt exakt das darstellt, was man gemeinhin eine Sisyphos-Arbeit nennt, versteht sich von selbst. Dass wir uns Sisyphos seither auch als einen jüdischen Menschen vorstellen müssen, dessen Stein, den er anstößt, immer wieder ins Jammertal zurückrollt, sei nur nebenher erwähnt.

Natürlich konnte Elazar Benyoëtz diese Arbeit nicht zu Ende bringen. Aber mehr als bemerkenswert ist, dass wohl kein deutschsprachiger Dichter die deutsche Literaturgeschichte so systematisch und genau studiert hat wie, auf Grund dieses Projekts, Elazar Benyoëtz, der erst als erwachsener Mann auf Deutsch zu denken und zu dichten begonnen hatte. Die deutsche Sprache und Literatur zeigten sich Elazar Benyoëtz auf eine Weise, wie sie wohl kaum ein anderer – ich zögere, dieses Wort zu verwenden, aber es bezeichnet tatsächlich den Sachverhalt – schauen durfte.

Das beantwortet auch gleich die erstaunte Frage, die meine Bekannte nun stellte: Hatte er denn keinen inneren Widerstand gegen die Sprache der Mörder?

„Sprache der Mörder“, das sagt sich so leicht, es ist gerecht, aber leider auch selbstgerecht. Alle, die nach Verfolgung und geglückter Flucht in der „Sprache der Mörder“ schrieben, haben Gründe dafür geltend machen können, die zu hinterfragen uns nachgeborenen Deutschsprachigen nicht ansteht, die uns vielmehr beglücken sollten – aber bei kaum einem anderen ist die Antwort so klar und einsichtig, wie bei Elazar Benyoëtz, der über diese Frage meines Wissens nie explizit Auskunft gegeben hatte, umso nachdrücklicher aber durch sein Werk: Das Deutsch der Literatur und des Geistes ist eben nicht die „Sprache der Mörder“! Dieses Deutsch beherrschten die Mörder gar nicht, die doch alles beherrschen wollten und dabei eine Welt errichteten, der es die Sprache verschlug. „Die Juden lehnen gern an Wortstämmen“, schrieb Elazar Benyoëtz, „und sind um die Wortwurzeln bekümmert“, und wie tief diese Wurzeln reichen, davon hatten die stammelnden und brüllenden Mörder mit all ihrem Ahnenkult keine Ahnung. Das Deutsch, in dem Elazar Benyoëtz schreibt, gab es nicht mehr und gibt es wieder. Wer im Deutsch der Dichtung dieselbe Sprache sieht wie im Deutsch der Mörder, spannt ein Pferd und einen Stier vor denselben Wagen.

Im Jahr 1968 kehrte Elazar Benyoëtz nach Israel zurück, bereits 1969 erschien sein erstes auf Deutsch geschriebenes Buch, seither schreibt und publiziert er auf Deutsch.

Elazar Benyoëtz hatte zu diesem Zeitpunkt einen sehr langen Weg hinter sich: von Österreich, das damals so sehr deutsch sein wollte, dass es Menschen wie Elazar, wenn sie auch ihr Leben retten konnten, die Sprache raubte, nach Eretz Israel, wo er auf dem Boden der Sprache der Propheten aufwuchs und eine Rabbinerausbildung machte, zurück in den deutschen Sprachraum, wo er eine gigantische enzyklopädische Arbeit begann (vom Archiv Bibliographia Judaica sind unter der Ägide von seiner Mitarbeiterin Renate Heuer 16 Bände erschienen) und wo er ein Deutsch fand, das er entdeckte, wie es ihn entdeckte, in einer wunderbaren Symbiose von Geist und Sinn, und er nimmt diese Sprache wieder mit zurück nach Israel, um just dort, wo er seinerzeit vor den Deutschen Rettung fand, das Deutsche poetisch und philosophisch bis in unergründliche Tiefen auszuschöpfen. Aus dem gelehrten Rabbiner wurde ein Jecke doctus, was einer Reise gleichkommt, bei der man wohl kaum eine Reisegesellschaft hat. Und als wäre das alles nicht schon schwer erklärlich genug, macht er dann wieder nicht das Naheliegende: Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen – aber just das tat Elazar Benyoëtz nicht. Er konzentrierte sich auf die literarische Form, die das radikale Gegenteil des Erzählens, des epischen Verfahrens ist, er begann die Erfahrungen und Wunder seiner Lebensreise, seines Lebens Lauf, in Aphorismen zu verdichten. Ausgerechnet Aphorismen.

Und wieder erschrecke ich. Denn schon wollte ich sagen: „Nur Aphorismen.“ Wer wird nicht einen gelungenen Aphorismus loben und immer wieder gern zitieren? Aber ist der Aphorismus nicht auch ein Angebot an Menschen, die kein Buch lesen wollen? Sollte einer, der etwas zu sagen hat, nicht auch erzählen können? Man kann, man muss den Aphorismus als Form anerkennen, aber doch hat er gemeinhin den Charakter eines Nebenwerks, Splitter, die vom Werk abfallen, und nie hätte ich mir vorstellen können, dass ausschließlich aus Aphorismen ein Werk entstehen könnte. Wie selbstreflexiv diese Reflexion ist: Für mich waren es immer die großen Romane, die mich gleichermaßen fesselten und befreiten, die meine Liebe zur Literatur begründeten, ihr den Grund erschlossen, auf dem Menschen aus Sprache eine Welt erschaffen und mit Schicksalen besiedeln konnten. Der Roman, dachte ich immer, ist die Königsklasse der Literatur, und im Roman wollte ich, als Leser wie als Autor, meine Krönung finden. „Aphorismen haben keine Leser, weil Aphoristiker keine Bücher schreiben“! Na eben – doch dieser Satz ist schon von Elazar Benyoëtz, dessen Selbstreflexion als Aphoristiker mich auf wunderliche Weise zwingt, mich als Leser neu zu denken.

„Aphoristiker“, schreibt Benyoëtz, „sind selten dazu fähig, Satz um Satz hervorzubringen, Satz für Satz mit Sinn zu erfüllen. So ist auch ihr Reichtum ein Armutszeugnis.“ Aber die Armut, die hier bezeugt wird, ist eine der formalen Möglichkeiten und nicht des Geistes, dessen Reichtum in jedem Wort enthalten ist, das überlegt und überlegen gewählt wird. Daher ist schon die Größe des Anspruchs eines Autors, der „nur“ das Wort halten will, unermesslich und übersteigt und untergräbt die fixe Idee jedes Epikers: nämlich mit jedem Satz ein Buch ersetzen zu wollen. Ich muss gestehen, dass mich dieser Anspruch irritiert, aber, bei der Lektüre von Elazar Benyoëtz wieder beglückt: Das Unermessliche ist denkbar, das Denkbare ist ein unendlicher Echoraum eines jeden Wortes – und in diesen kann man eintreten.

Jedes Wort „gebibelt“

Wenn aber jeder Aphorismus ein Buch ersetzen will, ist dann der Aphoristiker „nicht selbst auch ein Feind der Literatur? Verdient er die Ehre, die er anderen abspricht?“, fragt Elazar Benyoëtz. „Absprechen“ bekommt im Kontext seiner Sätze unvermutet die Bedeutung von „sprachlich ablösen“, „verdichten“, und darum lautet die Antwort: Ja. Jetzt sogar in Österreich, dem er ein Werk geschenkt hat, das, wenn Literatur ein weites Land ist, einer Neustadt gleichkommt. Durch diese Neustadt, die noch auf keiner österreichischen Landkarte eingetragen ist, wandelt ein Geist, der Wunder wirkt. Ich glaube zwar noch immer nicht an Gott, aber nun an seine Weisheit. Jedes Wort von Elazar Benyoëtz ist „gebibelt“, das heißt, durch das Buch der Bücher hindurchgegangen – und verändernd herausgekommen. Es ist ein Angebot, deren aphoristische Pointe sich nicht in der Zuspitzung, sondern in der Vertiefung erweist.

Die Auszeichnung, die Elazar von der Republik Österreich erhält, ist keine „Wiedergutmachung“, denn es war noch nie gut, was wir wieder machen. Es ist aber höchste Zeit zu versuchen, es endlich gut zu machen.

Ich habe mir versagt, worauf ich Lust gehabt hätte: exzessiv Aphorismen von Elazar Benyoëtz zu zitieren, um den Eindruck zu vermeiden, er sei, was er nicht ist: ein Pointenschleuderer. „Die getreue Wiedergabe ist eine echte Fälschung.“

Lesen Sie ihn, und sie werden die Erfahrung machen, dass Sie immer wieder innehalten und Abgründe und Tiefen in sich entdecken – die aber Tiefen der Sprache sind. Sie sprechen diese Sprache, aber Sie sollten sie, so wie Elazar Benyoëtz, erst lernen.

Ich habe gesagt, dass Elazar Benyoëtz das Amt eines Rabbiners nie ausgeübt hat. Doch, er tut es. In der Literatur. Er hat die Weisheit eines Rabbis, die Würde eines Rabbis, er ist mein Rabbi der deutschen Sprache.

Wie kann man jemanden würdigen, der so viel Würde ausstrahlt? Indem wir die Würde annehmen und die Möglichkeitsform, die in diesem Wort steckt, als Auftrag begreifen: „Den Menschen verändert, wer ihn glauben macht, es könnte ihn noch geben.“ ■

ELAZAR BENYOËTZ: Zur Person

Geboren 1937 in Wiener Neustadt, lebt seit 1939 in Jerusalem. Aphoristiker und Lyriker. 1964 Gründer der Bibliographia Judaica in Berlin. Auszeichnungen: u. a. Adalbert-von-Chamisso-Preis, Joseph-Breitbach-Preis.

Bücher: u. a. „Brüderlichkeit“, „Die Zukunft sitzt uns im Nacken“, „Die Eselin Bileams und Kohelets Hund“, alle bei Hanser. Anfang Februar erscheint als Reclam Taschenbuch die Aphorismensammlung „Der Mensch besteht von Fall zu Fall“.

Diese Woche wurde Benyoëtz das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse verliehen. Die Festrede hielt Robert Menasse.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2009)

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