Reise in die vierte Dimension

(c) Die Presse (Gerhard Roth)
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Was macht die Zeit, wenn sie vergeht? Selbst Einstein wusste keine Antwort. Mein Besuch im Wiener Uhrenmuseum: einfraktaler Bericht.

Ganz in der Nähe des Judenplatzes, genauer gesagt am Schulhof 2,steht eines der ältesten Gebäude Wiens mit Grundmauern aus dem Mittelalter. Seit 1921 wird dort auf drei Etagen die Zeit zerhackt, in Bildern versteckt, in Spieluhrenmusik oder Kuckucksrufe verwandelt, ausgependelt oder mit Hilfe skurriler Automaten verkündet.

In dieser scheinbar vergessenen, zumindest aber aus der Gegenwart in die Vergangenheit transformierten Zeitfabrik sah ich in meiner Vorstellung des Öfteren schon das Weiße Kaninchen des Mister Charles Lutwidge Dodgson, eines gelehrten Mathematikers, durch die Räume flitzen und hörte es im dschungelhaften Getick der 1000 Uhren sein „O weh! O weh! Ich werde zu spät kommen!“ ausrufen, wobei es mit seinen weiß behandschuhten Pfoten „wahrhaftig eine Uhr aus der Westentasche zog – und daraufsah und dann weitereilte“, wie Mister DodgsonsPseudonym, der Schriftsteller Lewis Carroll, am 4. Juli 1862 drei kleinen Mädchen auf einer Flussfahrt in einem Boot erzählte und Hunderttausende Menschen seither schon Hunderttausende Male Wort für Wort in dem daraus entstandenen Buch „Alice im Wunderland“ gelesen haben. Mister Dodgson- Carroll hat mit Hilfe des Weißen Kaninchens nicht weniger als denRaum der Zeit, die so- genannte vierte Dimension, in Buchstaben –wenngleich auch nicht in mathematisch-physikalische Formeln – gefasst, vielleicht angeregt durch das Gewässer, in dem sie gemächlich dahintrieben und das ihnwomöglich auf den Gedanken brachte, den Strom der Zeit mit seiner Fantasie zu erkunden.

Sein gesamtes Leben war Carroll in Konflikt mit dem Kind – der lebendigen Vergangenheit – und umgekehrt auch mit dem Erwachsenen in sich, der in der Gegenwart die Rolle des schlechten Gewissens verkörperte und zugleich die Angst vor der Zukunft. Vielleicht machte ihn gerade das zu dem Meister des Nonsens und der Zeit, die er in seinem Kopf so vorzüglich durcheinanderwirbelte, dass man meinen kann, er sei nach Belieben Herr über sie gewesen.

Wer sagt, dass sich nicht überhaupt erstim Wahn die vierte Dimension erschließt? Hat nicht auch Janus, der erste König von Latium und römische Gott der Anfänge,zwei Gesichter, mit denen er nach vor und zurückschauen, in die Zukunft und die Vergangenheit blicken konnte? Er hatte dem vom Himmel gejagten Saturn (Kronos) Gastfreundschaft gewährt, wofür der Gott ihmdie Fähigkeit verliehen hatte, sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft immer vor Augen zu haben – ein Zustand, der zwangsläufig in den Wahn führen muss, wenn man nicht selbst eine Uhr ist.


Musik ist hörbare Zeit–Igor Strawinskyschreibt darüber in seinen „Erinnerungen“:„Das Phänomen der Musik ist uns zu dem einzigen Zweck gegeben, eine Ordnung zwischen den Dingen herzustellen und hierbei vor allem eine Ordnung zu setzen zwischen den Menschen und der Zeit.“ Joseph Haydns 101. Symphonie hat selbst den Titel „Die Uhr“. Das gleichmäßige Ticktack der Streicher und Fagotte legt den Vergleich mit den Geräuschen einer Uhr nahe. Allerdings gab nicht Haydn der Symphonie diesen Namen, sondern das entzückte Londoner Publikum. An Haydn denkend, stelle ich mir vor, dass das Haus am Schulhof 2 einriesiger Uhrkasten ist,mit den darin aufbewahrten Uhren als Werk, und dass ich, wenn ich es betrete, mich im Inneren der Zeitmusik befinde, gleichsam demKonzertsaal der Zeit. Ich bin nicht zum ersten Mal im Uhrenmuseum. Entweder eile ich, sozusagen im Vorbeigehen, durch die drei Etagen, oder ich suche mir eine Stunde, in der sich außer mir kaum Besucher in den Räumlichkeiten aufhalten. Ist man aber allein im Museum, staunt man über die Ruhe, die – wie im Zentrum eines Hurrikans – im Auge der Zeit herrscht, und die Musik, die das Ohr wahrnimmt, ist nicht Haydns Symphonie Nr. 101, sondern John Cages „Silence“. Statt Zeit zu erfahren, befinde ich mich in einem Zeitvakuum, trotz eifrigen Tickens und Tackens, Klingens, Spieldosenmusizierens, aufgeregter Kuckucksrufeund nimmermüder langsamer oder noch langsamerer Zeigerbewegungen: Sie sind nur die Noten der Stille, die sich in den Notenzeilen wie in einem Andersenschen Märchen bemerkbar machen. Überhaupt scheint es, als seien die Uhren hier ästhetischer Selbstzweck, Vasen für gepflückte Blumen, sinnentleerte, sentimentale Automaten, während draußen eine andere, unerbittliche Zeit voranschreitet, aus der wir in eine Art Taucherglocke der Zeitlosigkeit gestiegen sind. Und wie in einem Hurrikan Möbelstücke, Kühe, Autos, Ziegel, Tiere, Pflanzen undMenschen durcheinandergewirbelt werden können, wirbeln auch mir im Museum Erinnerungen durch den Kopf: Kindheit und Tod, Unglück und Krankheit, Wahn und Traum – Partikel der Zeit, die fortdauernde Gegenwart ist und dazu gleichzeitig das immerfort gefilmte Universum.

Ich sehe jetzt den Wirbelwind meiner Gedanken vor mir wie in einem Trickfilm: Die Instrumente, die Haydns „Die Uhr“ intonieren, haben sich verselbstständigt und fliegen abwechselnd auseinander und wieder zusammen, als seien sie ein Vogelschwarm im Flug, die Uhren im Museum explodieren, und Gangräder, Zylinder, Unruhen, Spiralfedern, Aufzugswellen, Pendel, Zeigerwellen und Zeiger, Ziffernblätter und Sekundenräder sausen mir um die Ohren, und doch geht alles lautlos vor sich – ich habe nur einen Tropfen vom Wahn gekostet, ohne den ich die Zeit nicht begreifen kann.

Gleich Alice versuche auch ich dann dem imaginären Weißen Kaninchen Lewis Carrolls in Gedanken zu folgen und ihm in das Zeitloch seines Kaninchenbaus nachzulaufen, um in eine irrationale Parallelwelt zu gelangen. Während aber Lewis Carroll seine Alice zuerst fallen und fallen lässt, weshalb sie sich bereits ausmalt, „dass ich durch die Erde einfach durchfalle! Das kann ja lustig werden, wenn ich bei den Menschen herauskomme, die mit dem Kopf nach unten laufen!“, steige ich in dem uHralten Haus die uHralten Treppen hinauf, um jedes Mal in eine neue Zeitebene zu gelangen, in der die Automatenwelt gleichsam in einem Mikrokosmos das Universum vortäuscht, wennauch nur in Form von Uhren, deren mechanische Geometrie die Zeit zum Stottern und Stammeln bringt, wie ein Lehrer in einer Gehörlosenanstalt seine Schüler.


Hier, im Zeittempel, ist es nur naheliegend, an Albert Einstein zu denken, den physikalischen Erforscher des Universums, der dem Irrationalen Logik verlieh. Einstein, der Zen-Meister der Zeit, wurde noch am Tag, an dem er starb, verbrannt und die Asche „an einem Ort verstreut, der nie bekannt gegeben wurde; man nimmt an, es sei ein naher Fluss gewesen“, berichten Roger Highfield und Paul Carter („Die geheimen Leben des Albert Einstein“). „Das war jedoch noch nicht der endgültige Schluss“, heißt es weiter: „Früher an diesem Morgen hatte Dr. Thomas Harvey eine Autopsie vorgenommen und dabei Einsteins Gehirn entfernt und zur Untersuchung konserviert.“ Die Eigenmächtigkeit des Arztes verursachte einen Wirbel bei den Angehörigen des Verstorbenen. Harvey hatte vor der Entfernung von Einsteins Gehirn aus dem Knochenschädel durch die Arterien Formalin, ein Konservierungsmittel, eingespritzt. Dadurch sind Teile des Organs heute noch erhalten. „Der größte Teil aber wurde in dünne Scheiben geschnitten und in Celloidin, ein haltbares, aber durchsichtiges Material, eingebettet, das mikroskopische Untersuchungen zulässt“, fahren Highfield und Carter fort. Die folgenden Analysen hätten faszinierende Ergebnisse gebracht. Einstein habe mehr Gliazellen pro Neuron im Vergleich zu „normalen“ Männerhirnen gehabt, das heißt Zellen, die Informationen verarbeiten und weitergeben.

Einsteins Gehirn, sein eigenes Universum, ist wissenschaftlich zerstückelt, wie er das seit Newton geschlossene Weltbild der Physik wissenschaftlich quasi in seine Bestandteile zerlegt hat. „Der normale Erwachsene denkt über die Raum-Zeit-Probleme kaum nach“, sagte er. „Das hat er seiner Meinung nach bereits als Kind getan. Ich hingegen habe mich geistig derart langsam entwickelt, dass ich erst als Erwachsener anfing, mich über Raum und Zeit zu wundern. Naturgemäß bin ich dann tiefer in die Problematik eingedrungen als normal veranlagte Kinder.“ Ernst Peter Fischer hält in „Einstein für die Westentasche“ fest: „Die Lichtgeschwindigkeit taucht in der berühmten Einstein-Formel E=mc2 nicht zufällig auf. Sie bekommt in seiner Physik die Doppelrolle, eine Naturkonstante zu sein und eine obere Grenze darzustellen. Nichts kann sich schneller als Licht bewegen, was auch heißt, dass die Übertragung von Information nicht beliebig schnell sein kann, sondern so viel Zeit braucht wie das Licht. Auch die Information über die Zeit selbst braucht Zeit, die daher nicht absolut sein kann, wie es sich der gewöhnliche Menschenverstand denkt. Einstein erkennt, dass sie nur relativ zum Ort ihrer Messung (einer Uhr) bestimmbar ist, und die genaue Darstellung dieser Zusammenhänge heißt heute Relativitätstheorie.“ Einstein selbst wusste keine Antwort auf die Frage: „Was macht die Zeit, wenn sie vergeht?“ Und fragte ihn jemand nach dem Wesen der Zeit, pflegte er ihn mit dem Satz abzuspeisen: „Zeit ist, was man an der Uhr abliest.“


In den drei Etagen mit den 19 Ausstellungsräumen des Uhrenmuseums finden sich unter den 1000 Uhren die bemerkenswertesten Stücke. Übrigens sind noch weitere 3000 bis 4000 Objekte in den Depots vorhanden. Es ist allerdings unmöglich, auch nur alle „bemerkenswertesten Stücke“ zu beschreiben oder anzuführen, wir würden uns dabei verirren wie in einer unbekannten Galaxie, in der die Zeit in Form von Buchstaben auf Bäumen wächst, als sich sekündlich verändernde Farbe der Erscheinungen sichtbar wird oder sich in flirrende Musik verwandelt, die das Gehirn betäubt.

In der ersten Etage finden sich in sieben Räumen neben Sand- und Sonnenuhren vor allem astronomische Uhren, an denen man den Lauf der Gestirne ablesen kann, Empire- und japanische Uhren, die Uhrensammlung der Schriftstellerin Marie vonEbner-Eschenbach, Uhren des Barock und die alte Turm- beziehungsweise die Türmeruhr des Stephansdomes.

In der zweiten Etage, verteilt auf fünf Räume, sind Uhren aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgestellt: Bilderuhren, die kleinsten Pendeluhren der Welt oder die Uhr zu Ehren des Uhrmachers Jacob Degen, eines unglücklichen Flugpioniers, zeit seines Lebens „der fliegende Uhrmacher“ genannt, dessen etwas umständlicher Flugkörper jedoch als Unikum im Gedächtnis bleibt. Außerdem befindet sich in diesemStockwerk die Uhrmacherwerkstatt.

Die dritte Etage zeigt in sieben Räumen Objekte aus dem 19. und 20. Jahrhundert: Wanduhren, Standuhren, Kuckucksuhren, Taschenuhren – wie etwa ein schwarzes Gehäuse, das nach dem Ringtheaterbrand bei einem der Leichname gefunden wurde –, Armbanduhren und Automaten: das Perpetuum mobile, das es eigentlich nicht gibt, ferner einen Mohren, in dessen Händen ein Pendel schwingt, oder eine Zimmerorgel, die behäbige Leierkastenmusik ertönen lässt.


Das Uhrenmuseum selbst also ist ein kompliziertes Räderwerk aus 1000 Uhren, dieunabhängig voneinanderfunktionieren und doch alle das Gleiche tun. – Die japanischen Pfeileruhrenin der ersten Etage stellen selbst versierte Besucher des Museums vor ein Rätsel. Sie weisen kein rundes Ziffernblatt auf, alles ist linear, weshalb die Zeitfür einen Nichteingeweihten auch nicht ablesbar ist. Überdies müssen die Stundenmarkierungen auf den Skalen verschoben werden, um die je nach Jahreszeit unterschiedlichen Tages- und Nachtstunden einstellen zu können. Im Winter sind demnach die Tagesstunden kurz und die Nachtstunden lang, im Sommer die Tagesstunden lang und die Nachtstunden kurz. Der Stundenzeiger selbst ist an einem Gewicht befestigt und zeigt beim Abwärtsgleiten die Stunden an. Dieses fragmentarische, mir selbst nicht ganz verständliche Wissen über japanische Pfeileruhren, welche man eher für Barometer oder Seismografen hält, beziehe ich aus der DVD „Das Uhrenmuseum“, die an der Kassa erhältlich ist. Herr Kerschbaum, der Direktor mit Bart, Brille und weißen Handschuhen, erinnert mich darauf an das Weiße Kaninchen aus Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, weshalb ich ihm neugierig durch die verschiedenen Zeitebenen seines „Baus“ gefolgt bin.

Einmal hatte ich sogar das Glück, zu einer seiner Führungen zu stoßen, und ich benutzte sogleich die Gelegenheit, mich ihr unauffällig anzuschließen. Dabei waren wir, so kam es mir vor, von einer Atmosphäre desIrrationalen umgeben. Wir befanden uns gerade im zweiten Raum der ersten Etage, in dem die kostbaren Stücke aus der josephinischen Zeit um 1800 ausgestellt sind, und Herr Kerschbaum zeigte mit einem weißen Handschuh auf die sogenannte Kanonenuhr, eine Kommodenstanduhr in Form einesGeschützes. Das Wichtigste an einer Uhr, erklärte Herr Kerschbaum dazu, sei damals das Gehäuse und nicht die Präzision des Werkes gewesen. „In dieser Kanonenuhr“, sagte er, „ist die Uhr tatsächlich so in einem der Räder versteckt, dass man sie leicht übersehen kann.“ Andererseits, dachte ich mir, erzielte die Platzierung auch eine elegische Wirkung wie bei einer nebenstehenden Uhr mit Damenfigur. Die Dame lehnte beim Lesen eines Buches so auf den alabasternen Säulchen, die das Kleinod stützten, als trauerte sie auf einem Friedhof am Grab ihres Geliebten. Ganz bestimmt hatte sie längst die Zeit vergessen, die ihr die Uhr vergeblich Sekunde für Sekunde vortickte. Die Ausgrabungen in Pompeji und Herculaneum, fuhr Herr Kerschbaum fort, hätten dazu geführt, dass auch die Gehäuse der Uhren Tempel, Vasen, Urnen und Lyren nachahmten. Herr Kerschbaum wies sodann auf die Objekte in den Vitrinen und bezeichnete sie als „Bronzegolduhren“, die „feuervergoldet“ seien, weswegen ihr Glanz selbst nach 200 Jahren noch immer strahlend sei.

Hierauf betrat er den angrenzenden Raum,eigentlich eher ein Zimmer, stellte sich vor eine holzgerahmte Vitrine und wies auf die seltsamsten Taschenuhren, um nicht zu sagen, die verträumtestenTaschenuhren: Taschenuhren, die sich in Din-
ge verwandelt zu habenscheinen, oder Taschenuhren für einen Taschenuhrenkarneval in Venedig. Die Gehäuse sindzumeist bunt emailliert und verkleinerte Modelle von Gegenständenoder Früchten: Birnen,Geigen, Glocken. Es sindFantasieuhren aus dem 19. Jahrhundert, sogenannte Formuhren, die Marie von Ebner-Eschenbach sammelte und mit denen sie sich in ihrem Arbeitszimmer umgab. Das muss ein merkwürdiger Raum gewesen sein, in dem die Zeit herrschte und zugleich gezähmt war, dachte ich. Man finde überall, erklärte inzwischen Herr Kerschbaum – ei- nes der Ührchen in den Handschuhen haltend –, einen verborgenen Knopf, den man drücken müsse. Ein Deckel springe dann auf, und man könne die Zeit ablesen. Mir kamen die Taschenuhren vor wie schöne Käfige für kleinste Vögelchen, noch kleiner als ein Zeisig, vielleicht sind es auch nur die Bruchteile von Sekunden, die darin gefangen gehalten werden.

Marie von Ebner-Eschenbach ist auf einemÖlgemälde zu sehen, mit einer Haube auf dem wohlgeformten Kopf, und ich stellte mir vor, wie die Automaten sie zum Schreiben anregten. Wiesen die Taschenuhren sie auf den Tod hin? Erfreuten sie das Kind in ihr? Oder verhalfen sie ihr zu Einfällen? Ist es nicht so, dass beim Schreiben die Zeit und die eigene Person sich auflösen und es gerade dieser Zustand der Selbstauflösung ist, das Sich-Verwandeln in Sprache, der süchtig danach macht, es immer und immer wieder von Neuem zu beginnen, ähnlich einer Uhr, die ja auch immer und immer wieder die Stunden zählen muss? Im Laufe der Zeit sammelte Ebner-Eschenbach 270 Exemplare, über die sie in ihrem „Inventar“ mit der Beschriftung „Meine Sammlungen alter und moderner Taschenuhren“ penibel Buch führte.

Die Schriftstellerin sei eine ausgebildete Uhrmacherin gewesen, erläuterte jetzt Herr Kerschbaum, der selbst ein Meister der Uhrmacherkunst ist. Er zog ein Etui aus einer Lade, öffnete es und zeigte uns die erhalten gebliebenen edlen Werkzeuge auf grünem Samt. Ebner-Eschenbach sei 1900 in die Zunft der Wiener Uhrmacher aufgenommen und 1908 sogar „Fahnenmutter“ der Innung geworden. Alle ihre Sammelstücke habe sie selbst gewartet und repariert. In ihrem Werk habe sich ihre Leidenschaft in der kurzen Abhandlung „Meine Uhrensammlung“ und der langen Erzählung „Lotti, die Uhrmacherin“ niedergeschlagen.

Von ihrer umfangreichen Sammlung, die nach ihrem Tod zur Gänze im Uhrenmuseum ihren Platz fand, seien aber nur 40 Stück erhalten geblieben, der Rest sei „im Zweiten Weltkrieg“, wie Herr Kerschbaum sagte, „verloren gegangen“. Mich hätte es brennend interessiert, auf welche Weise die wertvollen Stücke und mit ihnen ihre gegenständliche Zeit verloren gegangen waren, und ich erfuhr später, dass alle Objekte des Museums in ein sicheres Depot – Schloss Stixenstein im Weinviertel – gebracht worden seien. Bei der Rückführung nach 1945 habe sich herausgestellt, dass eine größe-
re Anzahl wertvoller Stücke fehlte, darun-
ter 230 Uhren aus der Ebner-Eschenbach-Sammlung. Es könne jedoch nachträglich nicht mehr festgestellt werden, sagte man mir, wer die unersetzlichen Stücke geraubt habe. Diese Zurückhaltung legt allerdings die Vermutung nahe, dass außer russischen Soldaten auch abziehende SS-Einheiten und einheimische Ehrenmänner für die Plünderung in Frage kommen. Zuvor waren außerdem Uhren jüdischer Besitzer vom Museum günstig „angekauft“ und der Sammlung einverleibt worden, wie der Restitutionsberichtauf der Homepage wienmuseum zeigt. Der Schätzung nach handelte es sich um 70 bis 80 Objekte, in einem Fall waren es allein 40. Aber die Uhren liefen, wie man weiß, anders, als man damals dachte.

Ebner-Eschenbachs Sammelleidenschaft sei jedoch noch von einem Mann übertroffen worden, fährt Herr Kerschbaum fort, dem das Uhrenmuseum eigentlich seine Existenz verdanke: Rudolf Kaftan. Herr Kerschbaum legte eine kurze Pause ein und erklärte dann, dass Kaftan als „Supplent“, als Lehramtskandidat für Physik und Mathematik an mehreren Wiener Mittelschulen „beruflich tätig gewesen“ sei. Der 1870 als Sohn eines Lehrers geborene Kaftan habe sich bereits als Kind für mechanische Räderwerke interessiert und in der Volksschule begonnen, Uhren zu sammeln. Als Mittelschüler habe er eine Institutsuhr repariert und 1903 eine Uhr für den Unterricht konstruiert, die die Pausen signalisierte. Als Kaftans Sammlung 9000 Objek-
te sowie eine umfangreiche Fachbiblio-
thek umfasste, habe ihm 1916 die Räumung
aus dem Wohnhaus in der Billrothstraße gedroht.

Das „Neue Wiener Tagblatt“ habe jedoch unter dem Titel „Ein obdachloser Sammler“ seine Not und die „dicht gefüllte Uhrenkammer“ beschrieben, mit all ihren kleinen mechanischen Wunderwerken und emsigen Geräuschen, und Herrn Kaftans Mikro-Universum aus knarrenden, ratternden, klingelnden und läutenden Zahnrädern, Schrauben, Federn, Aufziehrädchen, Glöckchen und anderen Bestandteilen, das im Kleinen versuchte, es dem Großen gleichzutun, als einzigartig bezeichnet. Der schöne Wahn Herrn Kaftans wurde bald darauf belohnt. Am 4. Mai 1917 beschloss der Wiener Gemeinderat den Ankauf der Uhrensammlung und ernannte zugleich Herrn Kaftan zum Direktor des geplanten Uhrenmuseums, das er, wie Herr Kerschbaum sagte, „bis zu seinem Tod 1961 leitete“. An dieser Stelle wies Herr Kerschbaum mit seinen weiß behandschuhten Händen auf die Wände, wie um die Gene-
se des Uhrenuniversums gebührend abzuschließen.

Auch in der Zeit des Tausendjährigen Reichs, erfuhr ich, huldigte Herr Kaftan seinem schönen Wahn und war als kleines Zahnrädchen dem Räderwerk des Nationalsozialismus dienlich. Mit Eifer gelang es ihm, wie schon festgehalten, die Sammlung durch günstige „Ankäufe“ von jüdischen Besitzern, die emigrieren mussten oder später deportiert wurden, zu erweitern.


Die astronomische Kunstuhr des Augustinerfraters David A Sancto Cajet?no im vierten Raum der ersten Etage verdient das Attribut „Kunst“ tatsächlich. Der Mönch, ein gelernter Tischler aus dem Schwarzwald, stellte sie vor mehr als 230 Jahren in sieben Jahren Bauzeit her. Sie besteht aus 120 Rädern mit über 50.000 Zähnen und hat nicht weniger als 21 Zeigerspitzen, die exakt die Sekunden, Minuten, die Umlaufzeiten der Planeten Mars, Venus, Jupiter und Saturn um die Sonne und die Umlaufzeit des Mondes um die Erde anzeigen. Ferner berechnet das Messingwerk mit Gewichtszug, das eine Laufzeit von einem Monat hat, Tierkreiszeichen, die Sonnenzeit, die Zeit der täglichen Erdumdrehung, die richtige Zeit für 83 Orte, die Römerzinszahl, den Sonnenzirkel, Sonnen- und Mondfinsternisse und den Schaltjahreszyklus. Das Jahr ist
in vier kleinen Fenstern bis 9999 abzulesen, dann beginnt dieUhr wieder mit dem Jahr 0000. Der langsamsteZeiger braucht unvorstellbare 20.904 Jahre für eine Drehung undfür einen einzigen Millimeter nicht weniger als 107 Jahre. Er zeigt diejeweilige Änderung desFrühlingsbeginns an, die „dadurch entsteht, dass die Erdachse sich taumelnd im Weltall bewegt“, wie Herr Kerschbaum auf der DVD erläutert. „Wenn die Uhr weiter betreut wird von allen Uhrmachern, die nach uns kommen“, schließt er, „wird sie unbegrenzt weiter funktionieren.“


Vor diesem Wunderwerk der Mechanik denke ich an die Zeit, als ich im Rechenzentrum Graz mit dem Computer, einer UNIVAC 490 und später einer UNIVAC 494, arbeitete. Die Großrechenanlagen besaßen eine Bandstation mit sechs Servos, eine sogenannte Trommel, einen Lochstreifenleser, zwei Lochkartenleser und drei Drucker. Zehn Jahre, von 1966 bis 1976, pilgerte ich täglich zu der Maschine hin und studierte jeden Morgen die Schichtbücher, in denen die Operators die aufgetretenen Fehler festhielten. Ich war selbst ein Jahr Operator gewesen und hatte im Dreischichtbetrieb gearbeitet: eine Woche von 7 bis 15 Uhr, eine von 15 bis 23 und eine von 23 Uhr bis 7 Uhr früh. Um 7 Uhr kamen die „Techniker“ und, wenn nötig, auch die „Systemprogrammierer“, um den Computer zu warten. Am AnAnfang war ich in der Nachtschichtzeit al-
lein mit der Anlage gewesen und den auf kleinen Transportwägen aufgeschichteten Lochkarten und Magnetbändern. Die Maschine konnte theoretisch bis zu 14 Programme parallel verarbeiten und protokollierte auf einer elektrisch gesteuerten Console, einer Art Schreibmaschine, die Zeit, die dafür benötigt wurde, sie protokollier-
te sämtliche Arbeitsschritte, sodass jeder Eingriff eines Operators nachträglich überprüft werden konnte.

Die Arbeit war immer ein Wettlauf gegen die Zeit gewesen, denn das Rechenzentrum verkaufte Computerzeit, die sehr teuer war. Ich zog zu Schichtbeginn Turnschuhe an und lief die ganze Nacht von einem Gerät zum anderen, wie das Weiße Kaninchen von Lewis Carroll, um alle Jobs bis zum Morgen zu erledigen. Wir rechneten für Verwaltung und Wissenschaft, darunter auch astronomische Daten. Nach einem Jahr wurde ich in die Organisationsabteilung versetzt und später Leiter dieser Abteilung mit 30 Mitarbeitern. Den halben Tag beschäftigten wir uns mit der Aufklärung vertrackter Fehler, die im Schichtbuch festgehalten worden waren. Ein Teil konnte von den Technikern als Hardwarefehler, ein Teil von der Systemprogrammierung und den Programmierern als Softwarefehler, ein weiterer Teil von der Organisation als Fehler eines Operators, der Locherei oder als Unaufmerksamkeit bei der Zusammenstellung der Jobs nachgewiesen werden, aber ein Teil blieb ungeklärt. Die Maschi-
ne tyrannisierte uns, sie ließ nicht die geringste Ungenauigkeit zu, undgleichzeitig geriet beiden notwendigen Wiederholungen von abgebrochenen Jobs der gesamte Maschinenzeitplan, den ich an jedem Donnerstag für die folgende Woche erstellte, durcheinander, sodass wir Tag für Tag daran arbeiteten, verlorene Zeit aufzuholen. Es herrschte deshalb immer eine gewisse Gereiztheit zwischen den einzelnen Gruppen, die sich gegenseitig für Verspätungen verantwortlich machten. Oft genug mussteauch das Wochenende durchgearbeitet werden, was nicht selten als Strafe aufgefasst wurde.

Da wir Zeit verkauften, standen wir ständig unter Zeitdruck. Ich beschäftigte mich zwangsläufig mit dem Computer selbst und der Kybernetik von Norbert Wiener, der Booleschen Algebra sowie der Geschichte der Rechenmaschinen, die ja mit Uhren und Automaten begann.
Das wichtigste Merkmal der Uhr, der Zeitgeber, ist für die Sonnenuhr die Erdrotation, für Kerzenuhren die Geschwindigkeit, mit der die Kerze abbrennt, für die Sand- und Wasseruhr die konstante Strömung von Sand und Wasser durch eine enge Passage. Auch durch Beobachtung der Himmelsgestirne wurde von jeher die Zeit gelesen. Sonnenuhren waren schon den Babyloniern bekannt, Feueruhren den Chinesen, Wasseruhren den Ägyptern und Sanduhren in der Antike. Unabhängig von der Zeitmessung mit Hilfe der Elemente, kann man die Zeit auch an der Natur selbst ablesen: an den Jahresringen und der Dicke der Bäume, die von den Klimaschwankungen abhängen, oder an der Schichtung von Sedimenten, die anhand einschneidender Ereignisse – wie Meteoritenfälle oder Vulkanausbrüche – miteinander verglichen und zeitlich eingeordnet werden können. Ryszard Kapu?ci?ski schreibt in „MeineReisen mit Herodot“über „die vielfältige Art,die Zeit zu messen“: „Die einfachen Bauernmaßen sie nach den Jahreszeiten, die Menschen in der Stadt nach Generationen, die Chronisten antiker Staaten nach der Länge der Herrschaft einer Dynastie.“ Und: „Gewöhnt an die mechanische Zeitmessung, sind wir uns nicht bewusst, was für ein Problem die Zeitrechnung für den Menschen früher darstellte, wie viele Schwierigkeiten, Geheimnisse, Rätsel in ihr steckten.“

Die ersten mechanischen Uhren wurden wohl im späten Hochmittelalter gebaut. „Wikipedia“ gibt an, dass der Begriff „Uhrmacher“ zum ersten Mal 1269 auf einer Bierrechnung für das Kloster Beaulieu erwähnt worden sei. Die erste urkundliche Erwähnung einer mechanischen Uhr datiere aus dem Jahr 1335 und beziehe sich auf ein Gerät in der Kapelle des Palastes Visconti in Mailand. Bei den ersten mechanischen Uhren handelte es sich um große Instrumente, die in Kirchen und Klöstern aufgestellt wurden und dem Klerus die Zeit für die sieben Tagesgebete, die Horen, läuteten. In den meisten großen europäischen Städten gab es gegen Ende des 14. Jahrhunderts bereits eine Räderuhr. Sie galt als Symbol für den Reichtum einer Stadt. Allgemein griff man jedoch noch immer auf Sanduhren zurück, die sowohl in Kirchen und Bürgerhäusern als auch in der Schifffahrt verwendet wurden. 1427 erfand Heinrich Arnold die Uhrfeder. Und als die Uhren immer kleiner hergestellt werden konnten und sogar in der Tasche Platz fanden, wurden sie zuerst zum Schmuckstück und im Laufe der Zeit zu Alltagsgegenständen. Der Niederländer Christiaan Huygens fertigte 1657 die erste Pendeluhr an. Die wichtigsten Zentren der Uhrmacherkunst befanden sich damals in Augsburg, Nürnberg, Genf und London. Die Industrialisierung verwandelte dann die Uhrin ein Massenprodukt, und eine weitere Miniaturisierung des Uhrwerkes Anfang des 20. Jahrhunderts ermöglichte die Herstellung von Armbanduhren. 1923 entwickelteschließlich John Harwood die Automatikuhr.


Längst bin ich an den eisernen Wanduhrendes 16. bis 19. Jahrhunderts mit ihren aufdringlichen, messerscharfen Ticktack-Geräuschen vorbeigegangen, die anfangs nach allen Seiten hin offen waren und später „eingehaust“ wurden und mit ihrem vor demZiffernblatt hin- und herschwingenden Kuhschwanzpendelchen bedrohlich darauf hinzuweisen scheinen, dass sich mit jeder ihrer Bewegungen das Leben des Betrachters um eine Sekunde verkürzt. Inzwischen stehe ich schon vor dem riesigen, 700 Kilogramm schweren Turmuhrwerk vonSankt Stephan, das imJahr 1699 von dem Wiener Mechaniker Joachim Oberkircher erbaut undim Mai 1700 in Betriebgenommen wurde. 1860versuchte der Turm esdem namensgleichenBauwerk in Pisa gleichzutun, zumindest wasseine Spitze betraf, die plötzlich schief stand. Als Ursache wurde das zu schwere Uhrwerk eruiert und daher nach 160 Jahren Laufzeit entfernt. Es blieb bis Anfang der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts im Domgebäude und wurde dann in das Uhrenmuseum überstellt.

Es war bereits die zweite Uhr auf dem Turm, die erste wurde 1417 errichtet. Allerdings ließ ihre Genauigkeit zu wünschenübrig, sie ging am Tag 20 bis 30 Minuten zu schnell oder zu langsam, das ergibt immerhin zwei bis drei Stunden Differenz in einer Woche. Daher musste sie, wie die meisten Uhren ihrer Zeit, regelmäßig überprüft und nachjustiert werden. Dazu dienten mehrere Sonnenuhren, die an der Außenwand des Stephansdomes angebracht waren.


Überhaupt: die Kirche und die Zeit! Zahlreiche Kleriker beschäftigten sich im 18. Jahrhundert mit Mechanik, Mathematik und Astronomie. „Als die bürgerliche Wiener Uhrmacherei noch in der Bedeutungslosigkeit verharrte“, lese ich in „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde“, „erlangten die beiden Augustinerpatres David A Sancto Cajet?no und Michael Fras im 18. Jahrhundert auf dem Feld des Uhren- und Instrumentenbaus einen herausragenden Ruf. Nachdem im 16. und 17. Jahrhundert noch die Vorstellung von Gott als Kunstdrechsler geherrscht hatte, worauf sich vermögendeAdelige und selbst einige Kaiser in der Kunst des Drechselns unterweisen ließen, wandelte sich die Ansicht unter dem Einfluss des mechanistischen Weltbildes Isaac Newtons, der das All als eine gigantische und präzise Maschine beschrieb, zur Vorstellung Gottes als des unübertrefflichen Uhrmachers. Dieastronomischen Uhren waren daher theologische Gottesbeweise, die die Schöpfung anschaulich machten, und zugleich Huldigungen an den Schöpfer.“ Bereits im Mittelalter spielte auch eine streng geregelte zeitliche Gliederung des Alltags in den Klöstern eine große Rolle, und in den nachfolgenden Jahrhunderten waren Zeitvorgaben ein unverzichtbares Mittel, um breitere Bevölkerungsschichten der Uhrzeit unterzuordnen. Übrigens handelte die Kirche bis dahin schon selbst erfolgreich mit Jenseitszeit. Für einen entsprechenden Geldbetrag in irdischer Währung konnte man eine Verkürzung der Buße im Fegefeuer erkaufen, ein einträgliches Geschäft, das unter dem Begriff „Gewährung des Ablasses“ lief.

Für die große Masse der Wiener blieb bis weit in das 18. Jahrhundert die von der Kirche vorgegebene Zeit das entscheidende Ordnungselement des täglichen Lebens. Ausführlich schildert ein Beitrag in „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde“ das zeitliche Korsett, das den Wiener Alltag umgab. „So hielten etwa die Franziskaner täglich 33 Messen ab 5.30 Uhr früh in halbstündigen Abständen ab. In der Michaelerkirche fand sogar jede Viertelstunde eine Messe statt, im Stephansdom wurden neben den regelmäßigen Gottesdiensten zu jeder vollen Stunde noch circa 80 Privatmessen und drei Rosenkränze um 9, 11.45 und 14.30 Uhr abgehalten.“ Friedrich Nicolai berichtet in „Eine Reise durch Deutschland und in die Schweiz“über seinen Wienaufenthalt 1781: „Die erste Messe in allen Kirchen ist um 5 Uhr, und hernach bis 12 Uhr ohngefähr jede halbe Stunde eine andere.“ Erst Joseph II. schränkte die ausufernde Anzahl von Messen und das sie begleitende vehemente Glockengeläute ein.


Auch in der zweiten Etage, im ersten Raum, findet sich eine astronomische Kunstuhr eines geistlichen Herrn, des Pfarrers Michael Krofitsch aus Leutschach, der sie in fünf Jahren von 1810 bis 1815 hergestellt hat, ein früher Vorläufer von „Gsellmanns Weltmaschine“, jenem seltsamen mechanischen Kunstwerk, das der Feldbacher Bauer zum Teil aus weggeworfe-
nen und ausrangiertenMaschinenteilen in derzweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hergestellt hat. Es verfolgt keinen anderenZweck, als „sinnlos“ zufunktionieren, und istdarum umso menschlicher, da es nicht von etwas überzeugen will,sondern nur die Vorstellung des genialisch veranlagten Herrn Gsellmann vom „Atomium“, welches er in Brüssel selbst gesehen hat, zum Ausdruck bringt.

Im zweiten Raum der zweiten Etage sind in einem braunen Biedermeierschrank mit Glastüre die kleinsten Pendeluhren der Welt zu sehen. Sie haben etwas Insektenhaftes an sich, etwas von Käfern, die nicht fliegen können und mit ihrem hin- und herzappelnden Stachel Drohgebärden vollführen. Für einen Uhrmacher sind es nur Messingwerke mit Röllchengang, deren Hemmungsart schnelle Pendelbewegungen sind. Das kleine Pendel vor dem Ziffernblatt schwingt so rasch hin und her, dass man den Uhren den Namen „Zappler“ gab. Überhaupt hat dieser Raum eine märchenhaft-idyllische Atmosphäre. Manche Uhren stehen unter Glassturz, andere haben Spielwerke oder sind mit Figuren geschmückt: einer Cellospielerin, einem Kind mit Tschinellen, ei- nem vergoldeten Reiterhusaren.
An der Uhrmacherwerkstätte vorbei – und hinauf in die dritte Etage steigend, bin ich in Gedanken bei Jorge Luis Borges und seinen beiden Essays „Eine neue Widerlegung der Zeit“, in denen ihm so etwas wie eine literarische Anatomie der Zeit in Form eines Möbiusbandes oder einer Möbiusschleife gelang. Die Klebestellen am Anfang und am Ende des Papierstreifens lauten: „Im Laufe eines der Literatur und (gelegentlich) der metaphysischen Verblüffung gewidmeten Lebens habe ich eine Widerlegung der Zeit erahnt oder vorausempfunden, an die ich selber nicht glaube, die mich aber bei Nacht und in der matten Dämmerung immer wieder heimsucht mit der illusorischen Kraft eines Axioms“; und am Ende des zweiten Essays, einer revidierten Fassung des ersten: „Die zeitliche Sukzession leugnen, das Ich leugnen, das astronomische Universum leugnensind scheinbare Verzweiflung und geheimer Trost. Unser Schicksal – im Unterschied zur Hölle Swedenborgs und der Hölle der tibetanischen Mythologie – ist nicht wegen seiner Unwirklichkeit entsetzlich, sondern es ist entsetzlich,weil es unumkehrbarund eigen ist. Die Zeit ist die Substanz, aus der ich gemacht bin. Die Zeit ist ein Fluss, der mich davonreißt, aber ich bin der Fluss; sie ist ein Tiger, der mich zerfleischt, aber ich bin der Tiger; sie ist ein Feuer, das mich verzehrt, aber ich bin das Feuer. Die Welt, unseligerweise, ist real; ich, unseligerweise bin Borges.“ Dazwischen liegt das ganze anregende und wunderbare Werk des argentinischen Dichters, das mit seiner spielerischen Gewissheit erst die Schleife im literarischen Möbiusband bildet.

Und auch an Einstein denke ich angesichtsder Vorstellung kaputter, vor- oder nachgehender Uhren in der Reparaturwerkstatt des Museums. In der Speziellen Relativitätstheorie bewies er, dass in Bewegung befindliche Uhren langsamer ticken, und bei der Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie, dass die Zeit im Gravitationsfeld eines schweren Körpers ebenfalls langsamer vergeht. Dies ist durch ein Experiment belegt, bei dem ein Präzisionsinstrument ausder Physikalisch-Techni-schen Bundesanstalt in Braunschweig auf demNordturm des KölnerDoms fixiert wurde und nach einer Woche mit der Referenzuhr im 80 Meter tiefer gelegenen Braunschweig verglichen wurde.„Die näher im Wirkungsbereich des Erdgravitationsfeldes positionierte Uhr in Braunschweig“, heißt es, „war tatsächlich um sieben Milliardstel Sekunden langsamer gelaufen, ein unvorstellbar kurzes, von Menschen nur messbares Zeitintervall.“ Abervielleicht gibt es Wesen, deren gesamtes Leben nicht länger dauert, und vielleicht kommt dieses ihnen ebenso lang oder kurz vor wie uns das eigene.


In der dritten Etage,die ich nun schon müdeerreiche, gehe ich mit großer Unruhe, welche ja auch ein Teil der Uhr ist, durch die sieben Räume. Meine Aufmerksamkeit hat nachgelassen, aber gerade dieser Umstand vermittelt mir die anregendsten Eindrücke, und außerdem ist es der lebendigste und verrückteste Teil des Uhrenmuseums. Unübersehbar und wie eine tropische blau- undbronzegoldene Pflanze und doch auch wie eine Karikatur auf den in sich selbst verliebten Adel steht die Bodenstanduhr aus der Rokokozeit an einer Wand. Sie soll sich in der Bad Ischler Villa von Katharina Schratt befunden haben, der Geliebten des alten Kaisers Franz Joseph, könnte aber auch zum Hof der Spielkartenkönigin aus „Alice im Wunderland“ gehört und dort die Funktion einer etwas einfältigen und lächerlichen Hofdame ausgeübt haben. Mit all meinen Gedanken habe ich jetzt das Gefühl, mich selbst in das Weiße Kaninchen zu verwandeln. Herr Kerschbaum, erfahre ich später, hat die Porzellanuhr für den Transport in das Museum in vier Teile zerlegt und mit Seifenwurzellösung gereinigt, „eine Harakiri-Aktion“, wie er sagte, „weil man im-
mer im Hinterkopf hat, dass das Gehäuse zerbricht“. Lewis Carroll hätte bestimmt ei- ne hübsche kleine Szene aus dem Zerlegender Uhr gemacht.

Vom dritten bis zum siebenten Raum deklamiert die Zeit die Ursonate von Kurt Schwitters,Lautgedichte von Gerhard Rühm oder ErnstJandls philosophischeNonsenspoesie. Vorbeian geschnitzten Kuckucksuhren und „Surrern“, an Automaten, in denen ein Soldat Schritt für Schritt vor einem Tor Wache schiebt, einem Mohren, der zur vollen Stunde den Mund öffnet, die Zunge herausstreckt und dabei die Augen rollt, und weiter vorbei an Raritäten, wie einer Erdkugel, auf der ein am Nordpol pausenlos sich drehender Stift die vergehenden Sekunden sichtbar macht, oder einem Gehäuse, das römische Ziffern bewohnen, die sich, wenn die Reihe an sie kommt, zeigen und gleich wieder verschwinden, um den nachfolgenden Platz zu machen, erreiche ich die außergewöhnliche Kugellaufuhr des Wieners Johann Voggenberger aus dem Jahr 1920. Die Kommodenstanduhr hat den Künstlernamen Perpetuummobile, unter dem sie arglose Besucher in die Irre führt. Längst weiß jedes Kind, dass es ein Perpetuum mobile nicht geben kann, aber dieses eine ist wohl die Ausnahme. Sein Antrieb erfolgt durch Kugeln, die auf einer Schiene zu einem Rad mit Fächern laufen und dort zur Ruhe kommen. Dadurch dreht sich das Rad weiter und macht so Platz für das nächste Fach. Hierauf folgt eine weitere Kugel, während zugleich am Rad unten eine andere wegrollt. Jeder, der nicht ahnt, dass die Kugeln über einen versteckten Aufzug wieder nach oben transportiert werden, um von dort auf die Schiene zu rollen, steht vor einem Rätsel. Erst wenn er den Mechanismus durchschaut hat, weiß er, dass der Transport über eine Feder läuft, die wiederum selbst aufgezogen werden muss – denn ohne Eingriff von außen würde das Werk zum Stillstand kommen. Trotzdem ist es ein Vergnügen, dem Lauf der magischen Kugeln zu folgen.


Alles, was entsteht, ist wert, dass eszugrunde geht“ den Mephisto aus Goethes „Faust“zitierend, fährt Friedrich Engels in seiner „Dialektik der Natur“ fort: „Millionen Jahre mögen darüber vergehn, Hunderttausende von Geschlechtern geboren werden und sterben; aber unerbittlich rückt die Zeit heran, wo die sich erschöpfende Sonnenwärme nicht mehr ausreicht, das von den Polen herandrängende Eis zu schmelzen, wo die sich mehr und mehr um den Äquator zusammendrängenden Menschen endlich auchdort nicht mehr Wärme genug zum Leben finden, wo nach und nach auch die letzte Spur organischen Lebens verschwindet und die Erde, ein erstorbner, erfrorner Ball wie der Mond, in tiefer Finsternis und in immer engeren Bahnen um die ebenfalls erstorbne Sonne kreist und endlich hineinfällt.“

Zuvor jedoch: Kann man die verlorene Zeit suchen wie Marcel Proust? Wird sie ei- nes Tages zerrinnen wie die Uhren von Dali? Und komponiert die Zeit selbst Musik wie Joseph Haydns „Die Uhr“? Was geschieht mit ihr, wenn die Erde nicht mehr existiert? Denn wenn sie niemand mehr wahrnimmt, vergeht nicht auch sie dann?

In Jorge Luis Borges' „Neuer Widerlegung der Zeit“ habe ich eine mögliche Antwort gefunden. Sie stammt aus dem „Cherubinischen Wandersmann“ von Angelus Silesius und erlaubt mir zum Schluss, das Zeitliche selbst zu segnen: „Freund, es ist auch genug. Im Fall du mehr willst lesen, / so geh und werde selbst die Schrift und selbst das Wesen.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2009)

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