Denken oder feiern?

Vor fünf Jahrhunderten warf Martin Luther der katholischen Kirche seine Thesen gegen den Ablasshandel vor die Tür. 31. Oktober: Reformationstag. Über protestantisches Profil und ökumenischen Geist.

Was fällt Ihnen zum 31. Oktober ein? In Österreich denken die meisten vermutlich an den Weltspartag, der erstmals 1925 begangen wurde. Seitdem die Zinsen in Europa einen historischen Tiefststand erreicht haben, will an diesem Tag freilich keine rechte Feierlaune mehr aufkommen. Dann wäre da noch Halloween, die Nacht vor Allerheiligen. Ursprünglich in Irland beheimatet, hat sich das Fest mit seinen Bräuchen, wie man sie aus den USA kennt, inzwischen auch in Österreich ausgebreitet. Im heurigen Jahr, das ganzim Zeichen des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg steht, erinnern sich manche vielleicht auch daran, dass die Habsburgermonarchie mit dem 31. Oktober 1918 Geschichte war. An diesem Tag erklärte das Königreich Ungarn seine Realunion mit Österreich für beendet.

Dass der 31. Oktober auch als Reformationsfest begangen wird, ist hierzulande kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert. Die um 1580 einsetzende Gegenreformation hat die geschichtliche Erinnerung daran verblassen lassen, dass sich weite Teile des heutigen Österreich schon früh der evangelischen Bewegung angeschlossen haben. In Ober- und Niederösterreich konnte sich die Reformation bis ins frühe 17. Jahrhundert halten, bis die Glaubensfreiheit schließlich auch hier beseitigt wurde. Erst das Toleranzpatent Josephs II. im Jahre 1781 ermöglichte wieder evangelisches Leben, das zuvor nur im Untergrund hatte weiterbestehen können.

Pluralisierung des Christentums

Für die Reformation als europäisches Ereignis ist der 31. Oktober ein Datum mit Symbolcharakter. Um Allerheiligen herum veröffentlichte Martin Luther im Jahr 1517 seine Thesen gegen den Ablasshandel. Ob er sie, wie überliefert, tatsächlich an die Tür der Wittenberger Schlosskirche genagelt hat, ist historisch nicht gesichert. Tatsache bleibt aber, dass Luthers Ablassthesen grundlegende Veränderungen von Theologie, Kirche und Gesellschaft in ganz Europa zur Folge hatten, die schließlich auch zum Entstehen evangelischer Kirchen führten.

Die Festlegung des Reformationsfestes auf den 31. Oktober erfolgte übrigens erst 1667 im Kurfürstentum Sachsen anlässlich der 150. Wiederkehr des Thesenanschlags. Bis dahin hatte man der Reformation meist am jeweiligen Jahrestag ihrer Einführung in den verschiedenen Territorien oder auch am 25. Juni gedacht, dem Tag der Übergabe der Augsburger Konfession auf dem Reichstag 1530. Die Reformationsjubiläen 1617, 1717 und 1817 trugen wesentlich dazu bei, dass sich der 31. Oktober als einheitliches Datum des Reformationsgedenkens durchsetzen konnte. Nun rüsten sich die protestantischen Kirchen zur 500-Jahr-Feier im Jahr 2017. In Österreich wollen die drei evangelischen Kirchen – die lutherische, die reformierte und die methodistische Kirche – das Jubiläum gemeinsam begehen. Ausdrücklich sind auch die übrigen Kirchen dazu eingeladen. Gemeinsam mit ihnen wollen die evangelischen Kirchen bedenken, was aus der reformatorischen Erneuerung der Kirche für die Zukunft und das Miteinander der christlichen Kirchen folgt und wie der Welt von heute das Evangelium verkündigt werden kann. Eingeladen ist ferner die gesamte Öffentlichkeit zum Dialog über die gesellschaftlichen und kulturellen Impulse, die bis heute von der Reformation für die Gestaltung einer humanen Welt ausgehen.

Anders als in der Vergangenheit wird die ökumenische Dimension des bevorstehenden Ereignisses betont, handelt es sich doch um das erste Reformationsjubiläum nach dem Jahrhundert der Ökumene. Wie aber vertragen sich ein klares protestantisches Profil und ökumenische Weite? Und was könnte es für die katholische Kirche zu feiern geben, wenn sie an die Reformation denkt? Steht ihr nicht vor allem die bis heute fortdauernde Spaltung der abendländischen Christenheit vor Augen?

Erinnern wir uns an die wichtigsten Stationen der jüngeren Geschichte der ökumenischen Bewegung: 1948 wurde in Amsterdam der Ökumenische Rat der Kirchen gegründet, 1959 fand in Dänemark die erste Vollversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen statt. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil von 1962 bis 1965 öffnete sich die römisch-katholische Kirche der Ökumene – unumkehrbar, wie sie seither immer wieder betont hat. 1973 wurde auf dem Leuenberg bei Basel die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa unterzeichnet, durch welche die Lehrgegensätze der Reformationszeit zwischen Lutheranern und Reformierten ihre kirchentrennende Bedeutung verloren haben.

Heute gehören der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) die meisten lutherischen, reformierten, unierten, methodistischen und vorreformatorischen Kirchen Europas an. 1999 wurde in Augsburg die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre vom lutherischen Weltbund und dem Päpstlichen Rat zur Einheit der Christen unterzeichnet. Die beteiligten Kirchen sind davon überzeugt, in der Frage der Rechtfertigungslehre, die seit der Reformation zu den wichtigsten Streitfragen zwischen Protestanten und Katholiken gehört, einen tragfähigen, wenngleich differenzierten, Konsens gefunden zu haben.

Erinnern wir uns an die dramatischen historischen Veränderungen, die zwischen dem letzten Reformationsjubiläum und den bevorstehenden Feierlichkeiten 2017 eingetreten sind. Das Reformationsjubiläum 1917 fiel mitten in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Es war im Wesentlichen eine deutsche Angelegenheit und konzentrierte sich auf Martin Luther als deutschen Nationalhelden. Beschworen wurden das Bündnis von Thron und Altar und die Synthese von Luthertum und Deutschtum. Der sich gegen die katholische Kirche richtende Kulturkampf, der die Gründerjahre des Deutschen Reiches von 1871 geprägt hatte, lag erst 40 Jahre zurück. Zwischen damals und heute liegen nicht nur zwei Weltkriege mit mehr als 67 Millionen Toten, Holocaust, Gulag und Kalter Krieg, sondern auch die Gründung der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, das Ende des Ost-West-Konflikts und der Fall des Eisernen Vorhangs.

Anders als noch vor hundert Jahren ist uns heute bewusst, dass die Reformation keineswegs nur ein deutsches, sondern ein europäisches Ereignis mit weltweiter Ausstrahlung bis in die Gegenwart war. Es hat nicht nur die Kirchengeschichte, sondern auch die politische und die Kulturgeschichte tiefgreifend geprägt. Seine Prägekräfte sind weiterhin lebendig, auch dort, wo die direkte Verbindung zu den religiösen Wurzeln nicht mehr gesehen oder empfunden wird. Die Reformation war in ihrem Kern eine Freiheits- und Emanzipationsbewegung, ohne welche der moderne Freiheitsgedanke nicht zu verstehen ist. Auch wenn die neuzeitlichen Freiheits- und Menschenrechte keineswegs das alleinige Erbe der Reformation sind und zwischen modernem Autonomieverständnis und reformatorischem Freiheitsbegriff gewichtige Unterschiede bestehen, gehören doch Glaubens- und Gewissensfreiheit zum Kern reformatorischer Überzeugungen.

Mit Recht stellt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in einem vor einigen Monaten veröffentlichten Vorbereitungstext Rechtfertigung und Freiheit in den Mittelpunkt des bevorstehenden Reformationsjubiläums. Die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders beziehungsweise des Gottlosen allein durch den Glauben an Jesus Christus bildet das Herzstück reformatorischer Theologie. In ihr gründet das evangelische Verständnis christlicher Freiheit wie auch das evangelische Kirchenverständnis und sein Kerngedanke vom Priestertum aller Gläubigen.

Ohne die historische Schlüsselrolle Luthers schmälern zu wollen, ist freilich die historische und theologische Vielfalt der reformatorischen Bewegung zu würdigen. So ist neben Luther auch an Persönlichkeiten wie Zwingli, Melanchthon und Calvin zu erinnern, aber auch an den Straßburger Reformator Martin Bucer, der als Wegbereiter der Ökumene im Zeitalter der Reformation gilt und auch in England wirkte.

Die Reformation hat eine Pluralisierung des abendländischen Christentums hervorgerufen, die es grundsätzlich zu bejahen gilt. Die mit der Reformation eingetretene Pluralisierung beschränkt sich nicht auf das Entstehen unterschiedlicher Konfessionskirchen. Vielmehr hat im weiteren Verlauf der Geschichte auch innerhalb der Konfessionen eine bis heute andauernde Pluralisierung von Glaubensüberzeugungen und Richtungen, von Gottesdienst- und Frömigkeitsformen, vom Gestalten kirchlichen und gemeindlichen Lebens stattgefunden.

In gewisser Hinsicht kann man sogar von einer Protestantisierung des katholischen Christentums sprechen. Pluralität und Pluralisierung des Christentums reichen letztlich bis in seine Anfänge zurück. Man spricht heute nicht nur von den verschiedenen Kirchen, sondern auch von unterschiedlichen Christentümern. Die Pluralität innerhalb des Christentums ist keineswegs nur die Folge politischer, gesellschaftlicher und kultureller Faktoren. Sie hängt vielmehr mit den Grundeigentümlichkeiten des christlichen Glaubens zusammen. Als geschichtlicher Glaube, der sich auf Jesu Leben, Tod und Auferstehung als Heilsereignis gründet, ist er geschichtlich vermittelt und bedarf somit immer wieder neu der Interpretation. Die Kirchen bilden unterschiedliche Interpretationsgemeinschaften, deren Vielfalt als Reichtum gesehen werden kann.

Pluralisierungsprozesse haben allerdingsauch immer wieder zu Trennungen geführt. Sie haben der Gemeinschaft der Glaubenden schweren Schaden zugefügt und stehen dem gemeinsamen Zeugnis und der gemeinsamen Feier des Abendmahls entgegen, bis dahin, dass Christen einander ihr Christsein bestreiten und Kirchen von anderen Kirchen ihr Kirchesein abgesprochen wird. Man denke hierbei nicht nur an die gegenseitigen Verwerfungsurteile von Protestanten und Katholiken, sondern auch an die Verfolgung der Täufer in der Reformationszeit, die auch von lutherischer und reformierter Seite geschah. Die Reformation lässt sich weder einseitig als Sieg des religiösen Individualismus feiern noch einseitig als Kirchenspaltung und Beginn einer fortschreitenden Zersplitterung des abendländischen Christentums beklagen. Die Licht- und Schattenseiten der Reformation sind vielmehr gleichermaßen anzusprechen.

Gedenken oder feiern, ist das tatsächlich die Frage? Wird hier nicht eine falsche Alternative aufgestellt? Im Grundlagentext „Reformation und Freiheit“ erklärt die EKD mit Recht, es wäre verfehlt, das Jahr 2017, wie von katholischer Seite gefordert, lediglich als Gedenken an die verlorene Einheit zu begehen. Die evangelischen Kirchen hätten sehr wohl allen Grund, sich an den geistlichen Gaben der Reformation zu freuen und in dieser Freude das Reformationsjubiläum in ökumenischer Weite zu feiern. Wäre nicht dies ein Ansatz für ein gemeinsames Reformationsgedenken und – warum nicht? – auchein gemeinsames Feiern: dass sich die römisch-katholische Kirche fragen könnte, was sie positiv der Reformation zu verdanken hat, auch wenn sie sich ihr bis heute nicht anzuschließen vermochte.

Aus gutem Grund evangelisch...

Auch die evangelischen Kirchen hätten Anlass zu prüfen, was sie der Geschichte und der Gegenwart der katholisch gebliebenen römischen Kirche für das eigene Evangelischsein zu verdanken hat. Was bedeutet es für das eigene Verständnis des Evangeliums, des Christseins und der Kirche, dass sich nicht die ganze abendländische Christenheit der Reformation angeschlossen hat? Welche Impulse gehen vom Erbe der Reformation für den gemeinsamen ökumenischen Weg in die Zukunft aus? Stellt man sich gemeinsam diesen Fragen, dann lässt sich vielleicht ein ökumenisches Verständnis von Katholizität entwickeln, das zugleich gut evangelisch ist.

Seit Jahren ist von einer Differenzökumene beziehungsweise einer Ökumene der Profile die Rede. Sie trägt der grundlegenden Pluralität des Christentums Rechnung, indem sie bewusst macht, weshalb man evangelisch, katholisch, orthodox oder in anderer konfessioneller Ausprägung Christ sein kann – und zwar jeweils aus gutem Grund. Es gilt nun meines Erachtens keineswegs nur, aber sehr wohl auch, zu feiern, dass man im Zeitalter der Ökumene aus gutem Grund evangelisch sein kann. Das Entstehen evangelischer Kirchen war keineswegs ein bedauerlicher Betriebsunfall der Kirchengeschichte, vielmehr dürfen evangelische Christen für das evangelische Gestalten von Kirche und gottesdienstlichem Leben zutiefst dankbar sein und sich an ihrem geistlichen Reichtum erfreuen.

Erosionserscheinungen im gegenwärtigen Protestantismus nötigen zu neuen Antworten auf die Frage, wozu nach evangelischem Verständnis die Kirche da ist, und weshalb auch evangelische Christen für ihren persönlichen Glauben die Kirche brauchen. Die reformatorische Idee vom Priestertum aller Gläubigen setzt die Existenz und Notwendigkeit der Kirche voraus. Das ist längst nicht mehr selbstverständlich. So sollte das bevorstehende Reformationsjubiläum auch zum Anlass genommen werden, sich auf die guten Gründe für evangelisches Kirchesein zu besinnen, das nicht in splendid isolation, sondern nur in ökumenischer Verbundenheit gelebt werden kann. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2014)

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