„Vergiss die DDR!“

Der 9. November 1989. Während das Brandenburger Tor aufgeht, finden in Namibia die ersten freien Wahlen statt. Während hier die Genossen von der SWAPO siegen, fordern am Alexanderplatz in Berlin eine halbe Million Demonstranten freie Wahlen. Der Fall der Berliner Mauer unter dem Kreuz des Südens: eine Erinnerung.

Namibia im November 1989 – ein Wiedersehen mit Herzklopfen. Nach fünf Jahren des Einreiseverbots (ein „Language & Liberation“-Entwicklungsprojekt war den südafrikanischen Besatzern ein Dorn im Auge gewesen), kehre ich als Journalistin wieder. Zurück in der von Okkupationen und Kriegen geschundenen letzten – einstmals deutschen – Kolonie in Afrika. Die Signalfarben der Wahlplakate grüßen als Boten des ersten freien Volksentscheids. Die UNTAG, die United Nation Assistance Group, soll ihn ermöglichen – eine höchst heikle Mission. Im äußersten Südwesten Afrikas stoßen noch einmal alte Großmachtinteressen aufeinander: Die Sowjetunion stützt noch mit kubanischen und ostdeutschen Militärs die vom benachbarten Angola aus operierende namibische SWAPO, die South West African Peoples Organisation. Die USA und ihre Verbündeten – allen voran das von Helmut Kohl regierte Deutschland – forcieren die prowestliche, von Südafrika gepushte Demokratische Turnhallen Allianz, DTA.

Die Stimmung ist nach der Ermordung des prominenten SWAPO-Anwalts Anton Lubowski aufgeheizt. Kurz zuvor hatte mir der Bruno-Kreisky-Preisträger noch telegrafiert: „Komm! Wir sind fast am Ziel.“ Der Favorit (und spätere Sieger), die SWAPO, ist hypernervös, befürchtet nach dem Desaster des missglückten ersten Waffenstillstands vom 1.April, wo 300 ihrer Kämpfer von südafrikanischen Eliteeinheiten erschossen wurden, einen feindlichen Coup in letzter Minute. Die DTA und ihre deutschsprachige „Südwester-Fraktion“ mobilisieren gegen die im UN-Kontingent operierenden DDR-Vopos.

Durchatmen. Aus dem von UNTAG, Medien, NGOs belagerten Windhuk sind die ersten Liveeinstiege für die Ö1-Journale im News-Gerüchte-Prognosen-Gewirr geglückt. Die für fünf Tage anberaumten Wahlen laufen bisher ohne ernste Zwischenfälle. Jetzt, an diesem 9. November 1989, Ortswechsel: die Lage draußen erkunden. Afrika spüren. Dass für mich dieser Donnerstag nicht irgendwo zwischen Namib und Kalahari unspektakulär verlaufen, sondern im Abseits einen welthistorischen Kick bescheren würde, verdanke ich einer scheuen DDR-Heimkehrerin. Meine Gastfamilie stellt sie mir als Nangula vor. Die junge Frau will mitfahren, unterwegs einen Bekannten treffen. Sie scheint verloren, noch ohne Job, von den Parteigenossen wegen eines angeblichen politischen Verrats des verschollenen Vaters ein Outcast. Sie soll im September 1975 – wie Tausende – als Teenager in eines der überfüllten SWAPO-Lager im benachbarten Angola geflohen sein, nachdem ihre Mutter mit beiden Geschwistern bei einem Überfall der südafrikanischen Tarntruppe Koevoet ums Leben gekommen war.

Blauer Himmel, dunkle Konturen, trockene Hitze. Das archaische, 820.000 Quadratkilometer große Land zieht mit seinen Schirmakazien, Grasweiten, seinen wie Faustkeilen in der Erde steckenden Bergrücken an uns vorbei. Das schnurgerade Asphaltband mündet irgendwo am Horizont in einen Punkt. Ab und zu begegnen uns UNTAG-Trucks und Kleinbusse, aus denen „Viva SWAPO“-Rufende das V-Zeichen strecken. Nangula winkt ihnen verhalten zu – mehr nicht. Noch spricht die 29-Jährige nicht über ihren Zwiespalt gegenüber den „Volksbefreiern“, denen Dissidenten Folter und Mord in berüchtigten Strafcamps vorwerfen. Auch der unverfänglichen Frage nach den in der DDR erstmalig nachgewiesenen Wahlfälschungen weicht sie aus. Sie will auch nicht fotografiert werden. Seltsam... Unser Tagesziel heißt Omaruru. In dem verschlafenen, 1872 von einem rheinischen Missionar gegründeten Nest am Rande der Erongo-Berge sollen DDR-Polizisten Teil des UN-Stützpunkts sein. Dort will meine Reisegefährtin einen Bekannten aus Leipziger Tagen treffen. Die Mittagssonne taucht die von Hitze flirrende Landschaft in Silbergrau. Die endlosen Zäune riesiger, oft 10.000 Hektar großer Farmen wie „Voigtland“, „Mooidal“, „Deutsche Erde“ mahnen die Realität ein: Namen wie „Ovitoto“, „Otjituezu“, „Omaheke“ sind eine Phonetik des Elends – öde Reservate, ausgelaugte Böden, trostlose Unterstände, alkoholzerfressene Menschen.

Bei irgendeiner deutschen Farmtafel frage ich Nangula, ob ihr Heinrich Loth oder Horst Drechsler, die ostdeutschen Paradehistoriker wider den deutschen Kolonialismus, etwas sagen. „Ja, ich hab in der Bibliothek der Karl-Marx-Universität in Leipzig“, antwortet die Lehrerin mit sächsischem Akzent, „die Arbeiten von Loth und Genossen verschlungen. Sie haben mir die Ausbeutung meines Volkes in einer bisher nicht gekannten Weise nähergebracht. Klassenkampf, imperiale Entwicklung zur Unterentwicklung, dialektischer Materialismus, alles inklusive.“ Und der „Kontinentalsprung“, vom kriegsgepeinigten südwestlichen Afrika in die strikte Ordnung von Deutschland-Ost? Nangula nimmt ihre Hand aus dem kühlenden Fahrtwind, sagt zögernd: „Befreiend. Weg aus den überfüllten Lagern im Busch, wo jeder vor irgendetwas Angst hatte: vor Spitzeln, sexueller Willkür, Einzelhaft, aber vor allem vor den Gräueln der südafrikanischen Rassisten. Die Bruderstaaten nahmen aber erst nach dem Massaker von Kassinga im Mai 1978 viele von uns auf. Beim Anflug auf Berlin-Schönefeld lag Schnee. Die Jüngeren dachten, es sei Zucker. Für mich war es fremd und schön.“

Während sich manch Jung-PionierIn aus dem fernen Afrika im Paradies wähnte, flüchteten zwei Familien waghalsig via Ballon über den „antifaschistischen Friedenswall“ aus dem tristen, von Versorgungskrisen geschüttelten Stasi-Staat. Und – Ironie pur – gleichzeitig ließ die kranke KPdSU-Mumie Breschnew im 30. Jubiläumsjahr der DDR 20.000 Soldaten und 1000 Panzer abziehen.

All das und dass 5000 Jugendliche in einem Friedenscamp skandierten: „Schwerter zu Pflugscharen heißt Wehrersatzdienst jetzt“, bekamen die Teenies und Twens aus Namibia in ihren Ausbildungsheimen nicht mit. Dort galten Drill und Disziplin. „Manches war krass, aber wir hatten auch viel Spaß. Hörten heimlich die NDR-Hitparade, liebten im DDR-TV den ,Polizeiruf 110‘, verbrachten Ferien an der Ostsee“, sagt Nangula in makellosem Deutsch. Doch zwei Ereignisse im Herbst 1983 markieren einen persönlichen Wendepunkt: der Abschuss einer südkoreanischen Passagiermaschine durch die Sowjets; und dass zum Vater, einem SWAPO-Kommandanten, der Kontakt riss: „Plötzlich entpuppte sich die Ideologie von Gleichheit und Freiheit als eine Agentin unmenschlicherMethoden. Der Schmerzüber den gewaltsamenTod meiner Familie kehrte wieder. Aber mein Umfeld reagierte kalt. Über meinen Vater redete niemand. Es war schrecklich. Später, als immer häufiger Bekannte von heute auf morgen verschwunden sind, von Landesverrätern gesprochen wurde, die man an die Wand stellen sollte, wurde es unheimlich.“

Die Skyline von Omaruru liegt in einem purpur-goldenen Lichtwall: zwei Kirchtürme,ein überdimensionaler Wassertank, Satteldächer, umrahmt von den granitenen Skulpturen des Erongo. Stehen bleiben, staunen. Dann auf zur „Dampfbäckerei“ – der vereinbarte Treffpunkt mit den köstlichen Kuchen und dem altbackenen Gedöns ist leicht zu finden. Der Eingang ist mit DTA-Plakaten undhandgeschriebenen Anti-SWAPO-Parolen zugepflastert. Dass der Vorbesitzer viele Jahre am 20. April Hakenkreuz-Brötchen aus Mohnund Sesam gebacken hat, erfahren wir erst von Nangulas Bekanntem, den sie KHS, den „rasenden Reporter“, nennt. Der kreuzt abgekämpft auf, sagt keck: „Tag, Ihr Hübschen. Ist das nicht irre. Während hier die Genossen von der SWAPO siegen, fordern in Berlin am Alexanderplatz eine halbe Million Demonstranten freie Wahlen und den Rücktritt des Zentralkomitees der SED. Unseren James Bond, den General Wolf, haben sie ausgepfiffen, als der von der Reformierbarkeit der DDR gesprochen hat. Das Reiseverbot wackelt. Mann oh Mann, ich brauch jetzt ein ,Windhuk Lager‘.“

Bei kühlem Bier und saftigen Kudu-Steakslegt der Kollege eine Stresspause ein, dann erzählt er von den Menschenschlangen, die sich im nördlichen SWAPO-Stammland, der langjährigen Kriegszone Namibias, in der sengenden Hitze vor den Wahllokalen anstellen, lästert über die südafrikanische Generaladministration, die Tausende weiße Landsleute in Bussen und Flugzeugen an Wahlurnen verfrachtet. Zwischendurch versucht sich der Mittvierziger erfolglos an seinem Kurzwellengerät. Beim Bringen der dritten Runde Bier raunt der bärtige Wirt in Kaki-Montur: „Das ist die letzte, Ihr Kommunistenpack. Ich sperre.“ Jawohl doch. KHS will mit uns ohnedies ins Camp zu den UNTAG-Vopos – dort sollen unsere Schlafsäcke ausgerollt werden.

Die Nacht ist hereingebrochen. Wir folgen den Rückleuchten des Kleinwagens, biegen auf einen hügeligen Schotterweg ab. Die Biere haben Nangula entspannt, vertrauensvoll sagt sie: „Ich mag Karlheinz. Der glaubt seit dem Auftritt Gorbis in Ost-Berlin, dass die DDR keine Zukunft hat. Er will im freien Namibia mit mir ein ganz neues Leben beginnen, gute Radio- und Fernsehprogramme aufbauen.“ Mir stockt der Atem. Wenn das wahr ist, geht das Brandenburger Tor bald auf. Der Lichtkegel erfasst zwei starr stehendeImpala-Antilopen. Bald darauf taucht hinter Stacheldrähten hell erleuchtet ein weißer UN-Container auf. Ein Generator knattert. Niemand ist zu sehen. Es ist kurz nach halb elf. Die UNTAG-Mannen – ein ostdeutsch-asiatisch-arabischer Mix – sind im Kommunikationsraum, schauen gebannt auf die Telex-Maschine, hören Radio, einer hantiert am Funkgerät: Seit 19.04 MEZ senden westliche Agenturen Eilmeldungen, dass „ab sofort“ an allen Grenzstellen... – „dies teilte SED-Politbüromitglied Günter Schabowski in Ostberlin auf einer Pressekonferenz mit“.

KHS zückt sein Aufnahmegerät, fängt diese historische Zeitenwende akustisch ein. Als ich es ihm gleichtun will, zeigt mir der Volksgenosse genervt den Verbotsfinger. Offenbar tut sich am Grenzübergang an der Bornholmer Straße Dramatisches, Menschenmassen wollen raus, Schabowski soll im Stau stehen. Der ferne Radioreporter aufgeregt: „Die Grenzer wissen nicht, was sie tun sollen: Schießen, warten oder Schlagbaum hoch?“ Erst im Juni begrüßte das SED-Zentralkomitee – gleichsam als Warnung an die „Wir sind das Volk“-Rufer – die blutige Militäraktion der chinesischen KP am Tiananmen Platz. Ich höre den Vopo sagen: „Unsere Staatssicherheit agiert wie ein Mädchenverein. Das ist unser Untergang.“ Als ich den Satz verdeckt in mein Notizbuch schreiben will, fliege ich mit krudem Anschiss raus. Shit, dieser Stasi-Typ kappt mir jetzt das Liveerlebnis. Mit Schlafsack, Rekorder und Mikro verziehe ich mich unter eine Schirmakazie, schildere das unglaubliche Geschehen. Über all dem leuchtet am sternenübersäten Firmament das Kreuz des Südens.

Weit nach Mitternacht sucht mich KHS auf, berichtet seltsam bedächtig im Stehen: „Sie haben den Grenzübergang nicht mehr halten können. Seit 23.25 Uhr Berliner Zeit ist die Mauer auf. Tausende sind rüber, liegen sich in den Armen. Vergiss die DDR, sie war ein Irrtum der Geschichte, hat uns zu Phantomen gemacht!“ Wahnsinn! Bevor ich noch „Was redest du da?“ antworten kann, ist dieser undurchschaubare Mensch in die afrikanische Nacht verschwunden. Nangula und KHS – eine Begegnung mit Phantomen an diesem denkwürdigen Tag? Mag sein. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2014)

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