Der letzte Schrei

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Die einlullende Phrase des Journalisten. Das jüngste Fachdidaktik-Chinesisch des Bildungsexperten. Die „gegenderten“ Gesetzestexte und Schulbücher sehr korrekter Menschinnen. – Über sprachliche Ablenkungsmanöver, die dem Ruhebedürfnis der Machthaber schön zupasskommen.

Von Karl Kraus stammt der Satz: „Meine Sprache ist die Allerweltshure, die ich zur Jungfrau mache.“Kraus nimmt sich der Sprache an, die von allen gesprochen, missbraucht, besudelt wird, und macht sie durch höchstpersönlichen Gebrauch rein und unschuldig: Er macht sie zu seiner Sprache.Dieses Selbstbewusstsein muss heute als Anachronismus erscheinen: ein Einzelner, der mit seiner „Fackel“ die Menschheit zum wahren Glauben an die Heiligkeit der Sprache bekehrt. Aber zugleich hat die Vorstellung, es könne so etwas wie eine Läuterung der abgenutzten Alltagssprache geben, etwas Verlockendes. Und es gibt eigentlich nur eine Sphäre, in der wir uns ein solches Wunderwerk der Katharsis denken können: die Sphäre der Dichtung, der Literatur.


1. Literatur als Kläranlage
Das Bedürfnis nach Sprachkritik ist da, esbricht sich immer wieder in öffentlichen Debatten Bahn. Dass Sprache nichts Neutrales, kein Mittel zum Zweck,sondern stets Ideologie ist,gilt mit Roland Barthesheute beinah als Gemeinplatz. Deshalb ist Sprachkritik naturgemäß immer Gesellschaftskritik. Und es gibt ganz unterschiedliche Positionen, von denen aus die Sprache kritisiert wird.

Wenn ich von der Kraftder Literatur spreche, die Sprache in einer Art Säurebad von Schlacken und Versinterungen zubefreien, dann geht es nicht um sprachpolizeiliche Maßnahmen. Die Sehnsucht nach Reinigung, nach Purifikation hat auch nichts mit einer puristischen Sprachauffassung im engeren Sinn zu tun, die etwa die Fremdwörter aus dem Deutschen oder (wie ich) die Germanismen aus dem Österreichischen tilgen wollte. Hier geht es vielmehr um ein Kontrastprogramm zum vorgestanzten Sprechen. Und da steht wiederum Karl Kraus Pate, der durchaus eine Art Sprachchauvinismus vertrat: „Die deutsche Sprache ist die tiefste, die deutsche Rede die seichteste.“

Vom Schriftsteller erwarten wir, dass erseiner Sprache ein Feiertagsgewand anzieht, jedoch nicht in dem Sinne, dass er mit Wortprunk etwas bemäntelt und beschönigt, sondern indem er zweifelt, wählerisch ist, nicht das nächstliegende Wort verwendet, nicht einfach etwas mitteilen will, sondern all seinen Ehrgeiz für das Wie der Darstellung in dieWaagschale wirft, den Satzbau, den Rhythmus, den Klang. Im besten Fall erliegen wir beim Lesen dem Reiz des Neuen, Überraschenden.

Literatur wird genau dadurch zur Literatur, dass sie sich vom sprachlichen Alltagskleid abhebt, das macht ihre „Literarizität“ aus. Am augenfälligsten gilt das für die Lyrik: So spricht niemand, wie Friederike Mayröcker und Ann Cotten und Maja Haderlap schreiben, so hat niemand gesprochen, wie Goethe schrieb oder Trakl oderCelan. Das Gedicht stellt den Gipfel dessendar, was neben und über der bloßen Mitteilung sagbar ist, und das moderne Gedicht liebäugelt mehr oder weniger offen mit dem Unverständlichen als einem Gegenprogrammzu den Anforderungen totaler Kommunikation. Man kann auch sagen: Das moderne Gedichtliebäugelt auf paradoxeArt mit dem Schweigen. Das Schweigen, das – sieht man von Christian Morgensterns „Fisches Nachtgesang“ ab – in der Poesie kein Schweigen sein kann, sondern nur ein Sprechen über das Schweigen, es ist die adäquate Antwort der Dichtung auf Geschwätz und Gemeinplatz. – Gerade im Gedicht tritt das Schweigen oder Verstummen auch als existenzielle Notwendigkeit auf: namentlich wenn es um das Aussprechen des Unaussprechlichen geht, um die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, um die Erfahrung des Judenmordes, die Paul Celans Wunde und Schreibantrieb war. Es gibt kaum ein Thema, mit dem in der zeitgenössischen Literatur, Biografik, Redenschreiberei und Gedenkjournalistik mehr Schindluder getrieben, mit dem schamloser die Klaviatur des Klischees bedient wird. Celan schlug sich als Dichter damit herum, er entfernte sich vom „Metapherngestöber“ und hielt doch an der deutschen Sprache fest: „Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; und durfte wieder zutage treten, ,angereichert‘ von all dem.“

Celan gelangt von der Vorstellung eines von Schrecken gesättigten Sprachflusses zu einer kryptischen Sprache der Tiefe, zurReinheit des Kristalls. „Unten“ heißt ein Gedicht aus dem Band „Sprachgitter“ – ein Gitter ist etwas, was zugleich trennt und Kontakt zulässt. Allein in drei Versen daraus ist Wesentliches komprimiert, die Spannung zwischen Ich und Du, Redner und Zuhörer, die Ohnmacht der Rhetorik, das organische Wachstum der Erkenntnis: „Und das Zuviel meiner Rede: / angelagert dem kleinen / Kristall in der Tracht deines Schweigens.“Auch dies ist eine Form der Sprachkritik, gekleidet in ein Lob des Schweigens, mit allen schillernden Bedeutungen der Tracht: als Bürde, als Kleid, als Bemühung, als Gewicht der Prügel, als Fachterminus aus der Mineralogie für die Form eines Kristalls. So kann man das in keinem Feuilleton lesen und in keinem Traktat, so kann das nur Paul Celan sagen. Jeder, der redet oder schreibt, meinte Jacques Derrida, Celans Einzigartigkeit anerkennend, habe das „Begehren, auf idiomatische, das heißt unersetzliche Weise seine Signatur zu hinterlassen“.

In diesem Sinn ist literarische Rede per seSprachkritik, weil sie, anders als der Gebrauchstext, ihre eigene Sprache hat. Literatur fungiert als Kläranlage, sie setzt eine Prozedur der Reinigung, der Klärung, aber, auf manchmal verzweigtem Weg, auch der Aufklärung in Gang.


2. Journalismus und Akademia
Die Sehnsucht nach Erfrischung im Jungbrunnen der Literatur ergibt sich nicht zuletzt aus dem Versagen des Journalismus, das Karl Kraus schon vor hundert Jahren konstatiert hat. Der Journalismus der Gegenwart ist inzwischen so vordringlich mit dem eigenen Überleben beschäftigt, dass er Probleme der Sprache als Luxusprobleme begreift. Gegenüber Fragen des Stils, aber auch banalen Grammatik- und Rechtschreibfehlern herrscht eine lähmende Gleichgültigkeit. Nichts ist wirklich peinlich, auch nicht in „Qualitätszeitungen“. Der schreibenden Zunft ist die Zunftehre abhandengekommen.

Auch fehlen fast gänzlich jene Gegenstimmen, die sich stets in den Chor des Einverständnisses gemengt haben; sichtbar wirddies in einer kollektiven Kapitulation vor der Phrase, dem Modewort, dem Jargon. Denn die bequeme sprachliche Uniformierung ist nicht allein aus Gründen des Geschmacks fragwürdig, sie ist ein Symptom für geistige Stromlinienform, für das Mitschwimmen im Mainstream, für den Verzicht auf eigene Denkarbeit. Die Polemik und das Pamphlet haben nicht gerade Konjunktur, Widerspruch ist anstrengend. Dort, wo man sich selber nichts denkt, übernimmt man das Vorgedachte, das heißt: das von der Macht einem Zugedachte. In diesem Sinne ist Sprachkritik demokratische Geistesschärfung, sie nährt die gesunde Skepsis gegen das gesunde Volksempfinden.

Das Credo von Karl Kraus, dass die schiefe Formulierung die schiefe Gesinnung verrate, möchte ich nicht absolut setzen, vor allem gilt nicht der Umkehrschluss: Der tadellose Stil bürgt nicht für einen tadellosen Charakter. Und doch bin ich überzeugt, dass wir uns beim Sprechen und Schreiben verraten, dass Unwissenheit, Halbherzigkeit, Inhaltsleere, Opportunismus und Gemeinheit sich durch eine glatt polierte Oberfläche meist nicht kaschieren lassen. Letzten Endes ist das Engagement gegen das Sprachvergehen ein politisches, ja sogar ein ethisches im Sinne von Kraus, der postulierte: „Die Phrase und die Sache sind eins.“

Gegen die Allmacht der Phrase ist Literatur, richtige Literatur, aber nicht das einzige Gegengift. Jeder, der mit Sprache zu tun hat, fände ein weites Feld der Betätigung vor, von der Presse bis zum Gesetzestext, vom Parteiprogramm bis zur privaten E-Mail. Es ist ja keineswegs so, dass die sprachliche Äußerung heute allenthalben kürzer und fragmentarischer würde, es gibt auch die Tendenz zur aufgeblasenen Großform,zum elaborierten Nichts. Dass etwas „auf gutDeutsch“ zu sagen bedeutet, es kurz und klar oder auch: klipp und klar zu sagen, zeigt in der Redewendung, dass manPrägnanz auch früherschon zu schätzen wusste. Georg Christoph Lichtenberg ist hier ein zuverlässiger Zeuge: „Meine Sprache ist allzeit simpel, enge und plan: Wenn man einen Ochsen schlachten will, so schlägt man ihm grade vor den Kopf.“

Dass Lichtenberg mit der Anwendung seiner Sprache – er verwendet das Possessivpronomen genauso selbstverständlich wie Kraus – ein brachiales Bild verbindet, kommt nicht von ungefähr, seine Aphorismen sind nicht nur Nachdenklichkeiten über Wörter und Bücher und Menschen, sondern auch Attacken. Sprache kann und muss auch treffend sein, das schlagende Argument ist wörtlich zu nehmen.

Im Alltag der politischen Verlautbarung, der Pressemeldung und des Feuilletons, aber auch des akademischen Umgangs herrscht dagegen ein Jargon, dessen Hauptzweck es ist, mangelnde Substanz durch eine klangvolle Hülle zu verdecken: dünne Suppe aus goldenen Schüsseln. Als Germanistin, die ich auch bin, leide ich wie ein Hund unter der neuen Lingua franca: dem Fachdidaktik- Chinesisch.

Da hat zum Beispiel die Österreichische Gesellschaft für Germanistik einen sehr verdienstvollen Brief an die Unterrichtsministerin verfasst, in dem sie für eine stärkere Berücksichtigung literarischer Themen bei der neuen Zentralmatura plädiert. Und zwar mit diesen Argumenten: „In der Auseinandersetzung mit literarischen Texten werden vielfältige Kompetenzen vermittelt, die in einer kulturell dynamischen und globalisierten Welt von hoher Bedeutung sind.“ Bedientsich hier die Partei der Literatur der Sprache des Feindes, um zum Ziel zu kommen? Denn die strohtrockenen Gedankengebäude der universitären Pädagogik und Didaktik fungieren als Barrieren für die Sache der Kunst an der Schule. Man kann es aber auch so sehen: Die Sprache des Feindes hat sichlängst der Partei der Literatur bemächtigt, und diese hat es nicht einmal bemerkt.

Gerne würde ich verlangen, dass jeder, der das Wort „Kompetenz“ eitel im Munde führt, einen goldenen Philharmoniker für einen guten Zweck spenden möge. Kompetenz muss heute alles ersetzen, was früher im Schulwesen wichtig war: Lektüre, Lernstoff, Wissen, Bildung. Konrad Paul Liessmann behauptet in seiner jüngsten Streitschrift, „Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung“, geradewegs: „Wo Kompetenzen vermittelt, Tests ausgefüllt, im Team geteacht, international verglichen und modular studiert wird – dort ist die Praxis der Unbildung am effizientesten.“ Ein Kapitel trägt die Überschrift „Der Bildungsexperte. Zur Psychopathologie eines Sozialcharakters“.

Wer leeres Stroh immer noch fester drischt, wird deshalb auch kein Körnlein draus gewinnen. Mit der Übernahme des feindlichen Wortschatzes geht die Übernahme des feindlichen Gedankengutes einher: Literaturwissenschaftler gehen ganz automatisch davon aus, es wäre die Aufgabe von Literatur, „vielfältige Kompetenzen“ zu vermitteln, „die in einer kulturell dynamischen und globalisierten Welt von hoher Bedeutung sind“. Was aber, wenn der Erkenntnisgewinn aus Literatur einen gerade dazu befähigte, auf solche Kompetenzen zu pfeifen? Und der „kulturell dynamischen und globalisierten Welt“ ein ganz privates Widerstandsnestchen entgegenzusetzen?

Die vereinten Germanisten geben immerhin zu bedenken, dass der „Kern dieser Kompetenzen in einer intellektuellen Beweglichkeit“ bestehe, „die sich der ,standardisierten‘ Überprüfbarkeit“ entziehe. Aber sie lassen nicht davon ab, dass „Kompetenzorientierung und Standardisierung“ wichtig seien, wenn es darum gehe, die Schülerinnen und Schüler „zur Teilhabe am kulturellen Handlungsfeld Literatur zu befähigen“. Wenn Literatur keine Kunstgattung sein darf,sondern nur als „kulturelles Handlungsfeld“ akzeptabel erscheint, bekommt dasModefach „Deutsch als Fremdsprache“ eine ganz konkrete und für Germanisten wenig schmeichelhafte Bedeutung. Karl Krauswar da streng, er verurteilte die verbale Entgleisung nicht nur, er übte gegen die Vertreter dertechnokratischen Worthülse soziale Exklusion: „Mit Leuten, die das Wort ,effektiv‘ gebrauchen, verkehre ich in der Tat nicht.“

Apropos leiden wie ein Hund. Georg ChristophLichtenberg hat den schönen, allerdings wenig hundefreundlich anmutenden Ausdruck „Verhunzdeutschen“ erfunden, für jene, welche die Sprache wie einen Hund, also nicht gut behandeln: „Er hat es verhunzdeutscht.“

3.
Kritik der Korrektheit
Sprachkritik kann sich an der unkorrekten Verwendung sprachlicher Elemente entzünden, aber auch an der vermeintlich oder tatsächlich überkorrekten. Im Sommer erregte ein „Offener Brief zum Thema ,Sprachliche Gleichbehandlung‘“ die Gemüter, der von 800 teils prominenten Sprachkritikerinnen und -kritikern, darunter auch Linguisten, unterzeichnet war. Sie forderten die „Rückkehr zur sprachlichen Normalität“, worunter sie insbesondere die Verwendung maskuliner Formen für kollektive Begriffe meinten, aber auch den Verzicht auf das Binnen-I, auf geschlechterdifferenzierende Schrägstriche, Klammern im Wortinneren, weil sie „schriftliche Verunstaltungen“ – oder: Verhunzungen – darstellten. Als wesentliche Begründung nannten die Unterzeichner des Briefes eine funktionale: „Sprache dient sowohl in mündlicher als auchin schriftlicher Form einzig der problemlosenVerständigung und nicht der Durchsetzung partikulärer Interessen.“

Es ist leicht, ja wohlfeil, diesen Ansatz zu kritisieren. Zuerst fällt mir unweigerlich wieder ein Satz von Karl Kraus ein: „Am unverständlichsten reden Leute daher, denen die Sprache zu nichts weiter dient, als sich verständlich zu machen.“ Gerade Sprachwissenschaftler sollten indes wissen, dass Sprache niemals bloß Mitteilung ist und alles andere als neutral oder gar ideologiefrei. Sprechen heißt Handeln, Sprache bildet Wirklichkeit nicht bloß ab, sondern gestaltet sie mit. Der gemeinschaftliche Protest gegen den „Transport feministischer Anliegen“ dient selbstverständlich genauso der „Durchsetzung partikulärer Interessen“, auch wenn er sich auf die überwältigende Mehrheit der Sprecher beruft. Andererseits finden sich in dem Schreiben Argumente, die nicht von der Hand zu weisensind: die Unverständlichkeit „gegenderter“ Gesetzestexte oder Schulbücher, die nicht selten die Grenze des Lächerlichen überschreitet; die Vergötzung der äußeren Form, die vom Inhalt ablenkt; die undemokratischeNeigung, den Prozess der Sprachentwicklung gleichsam von oben zu steuern.

Auf diesen Brief haben wiederum „Mitarbeiterinnen und Studierende des Instituts für Germanistik der Universität Wien“ reagiert, „Mitarbeiterinnen“ mit „Unterstrich“, dem neuesten Schrei der „geschlechtersensiblen Sprache“. Er soll „darauf verweisen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt“. Der Gegenbrief, ein Musterstück des vom „Brief der 800“ attackierten Jargons, rückt einiges zu Recht zurecht, betont jedoch den Unterschied zwischen dem natürlichen und dem grammatischen Geschlecht („die Kollegin“, feminin, ist „ein Mensch“, maskulin), um daraus den für das Lesepublikum jedenfalls verwirrenden Schluss zu ziehen, die Zweigeschlechtlichkeit, die der Neusprechdes Gender Mainstreaming ja forciert, sei längst überholt; der Brief der „Mitarbeiterinnen“ leugnet dievon den Kritikern behauptete „sprachfeministische Dominanz“ undwirft wiederum diesen vor, ihr „partikulares Interesse“ bestehe darin, „patriarchale und asymmetrische Strukturen in der Gegenwartssprache weiter aufrechtzuerhalten“. AmSchluss legen die Unterzeichnerinnen ein Bekenntnis zur deutschen Sprache ab, das allerdings die grammatischen Regeln ebendieser Sprache verletzt. Es lautet: „Als germanistische Literatur- und Sprachwissenschaftlerinnen ist uns nicht nur die deutsche Sprache in all ihren Varietäten ein zentrales Anliegen, sondern auch die Menschen, die in und mit dieser Sprache leben.“ Der Fall- wie der Zahlfehler desavouieren just die in diesem Satz bekundete Wichtigkeit des Anliegens Sprache. Programmatik statt Grammatik. Wie überhaupt auffällt, dass für emanzipierte Literaturwissenschaftlerinnen in Bezug auf Sprache Fragen der Ästhetik keine Rolle zu spielen scheinen.

Das mag man beklagen, es ist aber kein neues Phänomen. 1847 wandte Jacob Grimmsich in seinem Vortrag „Über das Pedantischein der deutschen Sprache“ gegen die „unnatürlichsten, verschrobensten formen der rede“ und gegen übereifrige Sprachverbesserer, die etwa unlogische Zusammensetzungen aus dem Wortschatz tilgen wollten. So hatte Jean Paul protofeministisch gefordert, es müsse statt „Eselsmilch“ doch „Eselinnenmilch“ heißen.

Bei aller Gespaltenheit tendiere ich zur Skepsis gegen den Versuch einer ethischen Säuberung auf dem Gebiet der Sprache. Ich bin für die Verwendung dualer Formen dort, wo es ohne Brechstange, ohne stilistische Verrenkung möglich ist, und ich lege Wert darauf, das jeweils aus freien Stücken zu tun. Ich glaube, dass das, was sich sprachkritisch im fortschrittlich-privilegierten Milieu der Schulen und Universitäten tut, eine Überreaktion und Überkompensation für die jahrhundertelange sprachliche Repression des Weiblichen darstellt. Das „sprachfeministische“ Reformbestreben dominiert deshalb den Diskurs, weil es von oben, von der Politik, vor allem von sozialdemokratischen und grünen Meinungsführern, gestützt wird und in die Redaktionen der Zeitungen und Rundfunkanstalten ausstrahlt. Es ist nach wie vor ein Jargon der Happy Few, ein Jargon von Eingeweihten, die sich sprechend und schreibend beständig selbst auf die Schulter klopfen. Eine „geschlechtersensible“ oder jedenfalls: sensiblere Sprache populär zu machen kann so nicht gelingen, weil deren übersteuerte Anwendung das Anliegen nicht nur punktuell dem Gespött preisgibt. Ich glaube nicht daran, dass, wer die Sprache quasi mit Gewalt inein neues Gewand zwingt, damit auch schon die Wirklichkeit verändert, er hilft höchstens mit, sie zu verschleiern.

Ingeborg Bachmann hat sich in ihrenFrankfurter Poetikvorlesungen (1959) für denumgekehrten Weg ausgesprochen: „Mit einerneuen Sprache wird der Wirklichkeit immer dort begegnet, wo ein moralischer, erkenntnishafter Ruck geschieht, und nicht, wo man versucht, die Sprache an sich neu zu machen,als könnte die Sprache selber die Erkenntnis eintreiben und die Erfahrung kundtun, die man nie gehabt hat. Wo nur mit ihr hantiert wird, damit sie sich neuartig anfühlt, rächt sie sich bald und entlarvt die Absicht. Eine neue Sprache muss eine neue Gangart haben, und diese Gangart hat sie nur, wenn ein neuer Geist sie bewohnt.“ – Sobald die Errungenschaft im Geistigen sich im Sozialen niedergeschlagen hat, wird sie sich auch in einem neuen Antlitz der Sprache widerspiegeln. Es ginge also darum, einen Teil der Energie, mit der zurzeit Sünden wider die sprachliche Emanzipation von Frauen und tatsächlichen Randgruppen verfolgt werden, auf die Bekämpfung der wirklichen, der strukturellen und ökonomischen Benachteiligung zu verwenden. Der Sprachkampf spielt sich auf einem Nebenkriegsschauplatz ab. Was, wenn die emanzipatorisch engagierten Sprachkritikerinnen und -kritiker unbewusst und in bester Absicht einem Ablenkungsmanöver dienen, das dem Ruhebedürfnis der Mächtigen durchaus zupasskommt?

Das gilt auch für andere Spielarten des Gebots politischer Korrektheit. Vorgeschriebene Bezeichnungen dienen nur allzu oft der Verschleierung der Tatsachen wie der wahren Machtverhältnisse. Wer allzu schön spricht, der beschönigt. Politisch korrekte Rede korrigiert die Verhältnisse nur in der Rede, nicht im Verhalten. Sie ist unangreifbar in sich selbst. Sie ist entweder naiv oder gefährlich oder beides zugleich. Politisch korrekte Rede begünstigt Selbstgerechtigkeit, Heuchelei. Das Schöne am Korrektsein ist: Man steht immer auf der richtigen Seite, der der Guten. Verstöße begehen stets die anderen, gegen die sich ein Apparat der Bezichtigung in Gang setzen lässt. So ist es etwa Sibylle Lewitscharoff ergangen, die in ihrer Philippika gegen die Reproduktionsmedizin in der Tat viel Angreifbares gesagt hat: Wenn die Maschinerie der Aburteilung einmal in Gang gesetzt ist, ist aber kein Raum mehr für Differenzierung.

Diese Einförmigkeit der Meinungswalze hat ebenso etwas Beängstigendes wie die Autorität der sprachlichen Vorschrift. Inzwischen sind die Lehrer an den Schulen und Universitäten nach ministerieller wie interner Vorgabe angehalten, von ihren Schülern und Studenten „gendergerechtes“ Schreiben zu verlangen. Wenn es de facto unmöglich wird, anders zu sprechen als vorgeschrieben, weil man sich andernfalls als reaktionär-patriarchalisch-undemokratisch gebrandmarkt sieht, dann haben sich frühere Verhältnisse konservativer Enge einfach umgekehrt. Auch die „richtige“ Ideologie ist aber nichtsdestoweniger Ideologie. Konformitätsdruck bleibt Konformitätsdruck. Von oben verordneteSprachregelungen sind immer autoritär, sind immer antidemokratisch. Von der Französischen Revolution bis zum Dritten Reich hat man diesbezüglich Druck auf Bildungseinrichtungen und Medien ausgeübt.

Die Literatur ist der Ort und das Mittel, Widerspruchsgeist zu entwickeln. Wenn sie heute aus den Maturaaufgaben eliminiert, wenn sie aus den Lehrplänen unserer Schulenund Universitäten und dem Programm der öffentlich-rechtlichen Sender gedrängt wird, zugunsten von Entertainment und kompetenzorientiertem Wasweißichwas, dann ist das keine Entwicklung, die halt passiert, es hat vielmehr Methode. Bürgerinnen und Bürger, die „kompetent“ sind statt nachzudenken,die stellen keine unangenehmen Fragen nachdem Zustand der Welt und nach dem, wie sie sein könnte.

Ingeborg Bachmann hat über „Literatur als Utopie“ gesagt: „Denn dies bleibt doch:sich anstrengen müssen mit der schlechten Sprache, die wir vorfinden, auf diese eine Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aberunsere Ahnung regiert und die wir nachahmen.“ Eine Sprache, könnte man mutmaßen,im Zustand der Jungfräulichkeit und der Unschuld: „Es gilt weiterzuschreiben.“ ■

Geboren 1964 in Wien. Dr. phil. mit einer Dissertation über Theodor Kramer. Literaturkritikerin, Essayistin. Als Taschenbuch ist bei List lieferbar: „,Wahrscheinlich bin ich verrückt . . .‘ Marlen Haushofer. Die Biografie“. Ihr Beitrag basiert auf der Eröffnungsrede beim Literaturfestival „Blätterwirbel“ im Landestheater St. Pölten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2014)

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