Nie mehr allein

Wer ihn früh für sich entdeckte, gewann damit auch ein widersprüchliches Amerikabild jenseits von Konformismus und glatter Modernität. Zur frühen Bob-Dylan-Rezeption in Österreich: Hinweise eines Fans.

Die Amerikanisierung durchdrang nach 1945 alle Lebensbereiche, von Politik bis Kultur, von Lebensstil bis Medien. Amerika stand für das Neueste, für Modernität, für Beschleunigung, für nicht hinterfragten Fortschritt: „amerikanische“ Küche mit Kühlschrank und Mixer, chromblitzende Straßenkreuzer, Supermarkt statt Greißler. Kaum ein Amerikaimport, der nicht Kontroversen auslöste und die Verteidiger des Abendlandes auf den Plan rief – vor allem bei Novitäten, die der Jugend Spaß machten: Coca-Cola, Kaugummi, Comics, Jukebox, „Tschinbumm-Filme“, Jazz, Rock 'n' Roll. Der Begriff „Negerkultur“ schrieb den Rassismus der Nazis ungebrochen fort. Und fast eine Million Österreicher unterschrieben in den Fünfzigerjahren eine von allen Parteien unterstützte und von antiamerikanischen Ressentiments befeuerte Kampagne gegen „Schmutz und Schund“.

Mit der Amerikabegeisterung wurde aberauch eine zumindest in Ansätzen systemkritische und einfordernde Gegenkultur importiert, die zum Wertewandel der Nachkriegsgeneration wesentlich beitrug. Mit dem Rock 'n' Roll manifestierte sich zum ersten Mal eine spezifische Jugendkultur, zu der die Erwachsenen keinen Zugang hatten. Von nun an gab es einen adäquaten Soundtrack für Generationenkonflikte. Mit dem Jazz wurden erstmals Schwarze wie Charlie Parker oder Miles Davis zu Kulthelden in den Musikkellern, durch die amerikanische Bürgerrechtsbewegung gegen den Rassismus in den Südstaaten erfuhr man, dass Auflehnung gegen Ungerechtigkeit und politisches Engagement erfolgreich sein können: „We Shall Overcome“ wurde zu einer internationalen Parole und zum Prototyp der neuen Gattung „Protestsong“. Deviante Beatliteraten wie Jack Kerouac oder Allen Ginsberg bastardisierten die Sprache und standen für gegenkulturelle Provokation.

Bob Dylan war die Quersumme all dieser renitenten Milieus und wurde zum Prototyp des gegenamerikanischen Amerikaners mit dem Nimbus eines Dissidenten. Wer ihn früh für sich entdeckte, gewann damit auch ein widersprüchliches Amerikabild jenseits von Konformismus und glatter Modernität. Dass Dylan weltweit die Herzen einer Generation im Aufbruch erreichen konnte, lag auch daran, dass er von Anfang an erfolgreich war und seine Songs nicht auf Nischenwirkung beschränkt blieben. Schon sehr früh ließ er die New Yorker Folkszene hinter sich, beständig erweiterte er sein Territorium. Zur Popularisierung von „Blowin' in the Wind“ setzte Dylans Management ganz bewusst auf das allseits beliebte und gefällige Folktrio Peter, Paul and Mary, dessen Single in den USA auf Platz zwei der Hitparade kam und bald darauf um die Welt ging. Und so war das auch bei „Mr. Tambourine Man“, das über den Umweg modischer Einkleidung im neuen „Folkrock“-Stil der Byrds 1965 zu einem Bestseller wurde. Bob Dylan kam durch die Vordertür, er nahm den Weg über die Hitparade. So kam er auch ins popkulturell entlegene Österreich.


Natürlich war die Einführung des Popsenders Ö3 im Herbst 1967 eine wichtige Zäsur in der österreichischen Musikversorgung. Doch man sollte die Radiojahre davor nicht unterschätzen. In der damals populärsten Sendung, „Autofahrer unterwegs“, konnte man inmitten einer breiten Palette von Unterhaltungsmusik manchmal auch aktuelle englischsprachige Hits hören, ob von den Beatles oder von Manfred Mann. Die einzige moderierte Popsendung mit internationalen Singles war in den mittleren Sechzigerjahren Evamaria Kaisers Frühabendreihe „Gut aufgelegt“. Es ist anzunehmen, dass 1965 auch Bob Dylans „Mr. Tambourine Man“ in der Fassung der Byrds auf dem Spielplan stand. Für fortgeschrittene Fans, die Weltanschluss suchten, war es jedoch unumgänglich, auf Radio Luxemburg auszuweichen.

Doch sogar amerikanische Folkmusik und „engagierte Lieder“ konnte man zumindest ab 1965 im Österreichischen Rundfunk kennenlernen. In diesem Jahr wurde die Jugendsendung „Hallo Teenager!“ entstaubt und in „Magazin für Teens und Twens“ umbenannt. Hier war Martin Luther King ebenso Stammgast wie Joan Baez, hier hatte Bob Dylan vor dem Start der Ö3-„Musicbox“ seine einzige österreichische Medienbühne. Das Klima war emanzipatorisch; ein nach Orientierung suchender Gymnasiast wie ich erfuhr, dass es eine bessere, gerechtere Welt geben könnte. Zwischen den Wortbeiträgen liefen auch Lieder, die ethisch-moralische Haltungen vermittelten und utopische Sehnsüchte ebenso spüren ließen wie widerständige Energie. Wichtig war, dass auch Nummern von Langspielplatten gespielt wurden.

Viele Mitarbeiter des frühen Jugendfunks(aus denen sich die spätere Jugendredaktion und damit auch das Team der „Musicbox“ rekrutierte) hatten reformkatholischen Hintergrund – mit Querverbindungen zur kritischen katholischen Jugendzeitschrift „Aspekte“. Es war die Zeit der „Jazzmessen“ und der sich öffnenden nachkonziliaren Kirche. Lokale Beatbands, die Stücke aus der englischenoder amerikanischen Hitparade nachspielten, konnte man nicht nur auf Schulpartys hören, sondern auch in Pfarrsälen. Dieses katholische Milieu war in den österreichischen Sechzigerjahren für Neues offener undgeistig beweglicher als das der zumeist angepassten und linientreuen parteipolitischen Jugendorganisationen.

Bob Dylan mit seinen von Empörung befeuerten apokalyptischen und mitunter von biblischer Sprachmacht getragenen Protestsongs wie „Masters of War“ oder „With God on Our Side“ passte perfekt ins Sendungsprofil. Speziell „Blowin' in the Wind“ war ein ideales Gemeinschaftslied des von Idealismus getragenen Aufbegehrens gegen Lüge, Gleichgültigkeit und moralische Lauheit. Die beim frühen Dylan omnipräsenten Pathosformeln und der suggestive Einsatz starker Worte wie „Freiheit“ prädestinierten ihn zur moralischen Instanz. Der Schwerpunkt der Dylan-Rezeption lag eindeutig auf den Texten. Diese wären jedoch ins Leere gegangen, wäre da nicht diese Stimme gewesen.


Wie die kontinentaleuropäische Rezeption eines Künstlers wie Bob Dylan vor sich ging, hing vor allem von zwei Parametern ab: Wie stark, identitätstragend und jugendkompatibel war die eigene Populärkultur? Und: Wie gut waren die Englischkenntnisse? Zur ersten Frage lässt sich sagen, dass speziell in Frankreich und Italien Musik dominierte, die auf intakten Traditionen beruhte, glaubhaft und damit für angloamerikanische Einflüsse weniger offen war. In Deutschland und Österreich hingegen waren Volkslied und Schlager konservativ bis reaktionär konnotiert und politisch belastet. Traditionslinien mussten gekappt werden, Folk und Pop boten die Chance, neue zu begründen. Erst ab den Siebzigerjahren kam es in Österreich zu einer eigenen Folkrenaissance. Beim Niveau der Englischkenntnisse gab es (und gibt es noch immer) enorme Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa. Vor allem in Holland, Dänemark oder Schweden sprach man gutes Englisch, um über die Landesgrenzen hinaus kommunizieren können. Das war Voraussetzung, um einen Songpoeten wie Bob Dylan nicht nur zu hören, sondern auch in sein Universum tiefer eindringen zu können. Miserabel waren die Englischkenntnisse in den romanischen Ländern, weshalb man in Italien die Rolling Stones kurioserweise als „I Rolling“ bezeichnete. Die Englischkompetenz österreichischer Jugendlicherlag irgendwo dazwischen.

Dass ich mich für Popmusik und Bob Dylan intensiv zu interessieren begann und später, 19-jährig, als Mitarbeiter der „Musicbox“ mit meiner Obsession sogar Geld verdienen konnte, hing ursächlich mit der Bedeutung des Englischunterrichts zusammen. Um mein Englisch zu verbessern, wurde ich 1965 als 16-Jähriger nach England geschickt. Für Tausende österreichische Schüler und Schülerinnen vermittelte damals das Österreichisches Komitee für internationalen Studentenaustausch, kurz Ökista, Aufenthalte bei Familien. Ich hatte Glück: Der Sohn meiner Gastgeberfamilie, er hieß Martin, war ein Stubenhocker. Deshalb versäumte ich im August 1965 keine Folge der TV-Popsendungen „Top of the Pops“ und „Ready Steady Go!“. Da sah man neben tanzenden „Girls“ im Minirock auch Live-Auftritte der aktuellen Hitparadenstars. Und damit hatte ich im muffigen Wohnzimmer von Familie Lewis erstmals Zugang zu einem Universum, das in der Lage war, alle Sinne durcheinanderzubringen.

Ich hatte auch deshalb Glück, weil dieser Spätsommer 1965 ein magischer Moment der Popgeschichte war. Nie vorher, nie nachher gab es in den Top Ten eine derartige Ballung von epochalen Singles. Unter den ersten zehn der englischen Hitparade rangierten Ende August, Anfang September unter anderem die Nummer-eins-Hits „Help“ von den Beatles und „Satisfaction“ von den Stones, die Animals, die Kinks, die Walker Brothers, Barry McGuire mit dem Antikriegssong „Eve of Destruction“ oder Joan Baez mit „There But For Fortune“ von Politfolknik Phil Ochs oder die Byrds, die damals gleich zwei Dylan-Kompositionen in die Charts brachten: „Mr. Tambourine Man“ und „All I Really Want To Do“. Und erstmals in den Top Five: Bob Dylan mit „Like a Rolling Stone“. Wenig später kam ein vierter Dylan-Song auf Platz zwei, „If You Gotta Go, Go Now“ in der Fassung von Manfred Mann. Innerhalb weniger Hitparadenwochen also viermal Bob Dylan, dazu zwei weitere amerikanische Politsongs. Bob Dylan war als Popstar angekommen, seinlässiger Habitus faszinierte ebenso wie sein mit üblichem Pop inkompatibler Gesangsstil. Noch Jahre später sollte ein namhafter Jazzmusiker bei einer Programmsitzung im ORF fordern, Bob Dylan nicht im Radio zu spielen, weil er nicht singen könne.

Zwei Singles erstand ich gleich nach der Rückkehr nach Österreich: das grenzgeniale „I Got You Babe“ von Sonny & Cher und eben „Like a Rolling Stone“. Immer stärker mischte sich in der Folge die B-Seite in mein Leben ein, das ebenfalls überlange und vor mysteriösen biblischen Bildern strotzende „Gates of Eden“. Das freie Fließen der Dylanschen Assoziationspoesie überforderte und faszinierte. Doch nach und nach blieben Zeilen hängen, die sich in den Kopf einbrannten und dennoch ihr Geheimnis bewahrten, Zeilen wie „motorcycle black madonna / two-wheeled gypsy queen“. Da wurde man in eine mythische Welt gezogen, die mir als bravem Beamtensohn aus Mödling völlig unbekannt war.


Was Jugendliche in der deutschenSchlagersprache vorfanden, taugte nicht, um ihre Gefühle auszudrücken, erschien korrumpiert, verlogen und verkitscht. Der eigentliche Lackmustest waren Liebeslieder. Auch den bestand Bob Dylan, mit zärtlichen Zeilen wie „Ramona, come closer, shut softly your watery eyes“ oder mit umstandsloser Direktheit: „I want you, so bad, honey, I want you“. Das war nicht mehr Teenager-Love wie im Mainstreampop, da ging es nicht um Petting, sondern um Begehren und Sex. Das gilt auch für das auf Ö3 häufig gespielte „Lay, Lady Lay“ von 1969: „Lay across my big brass bed / I long to reach for you in the night.“

Vor allem aber drückte seine Songpoesie ein Lebensgefühl drängender Rastlosigkeit aus. Mit Bob Dylan war man unterwegs auf mythisch illuminierten Highways, auf denen man Outlaws und Gaukler treffen konnte, Heilige und Sünder. Man gelangte in Gebiete, die gefährlich und mysteriös waren. Von dem Augenblick an, in dem sie Bob Dylan gehört hatte, so Patti Smith in einem Interview, sei sie „nie mehr“ allein gewesen. Dennvon nun an gab es immer eine Stimme, die artikulierte, was sie fühlte. ■

Geboren 1949 in Mödling. Dr. phil. Kulturhistoriker. Seit 2003 Direktor des Wien Museums. Sein Beitrag erscheint in erweiterter Form Ende November in dem Band „AustroBob – Österreichische Aneignungen von Bob Dylans Poesie und Musik“, herausgegeben von Eugen Banauch, Alexandra Ganser und Martin Blumenau im Falter Verlag, Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2014)

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