Der Krieg um den freien Wald

Wilderei gab es nicht nur in den Bergen, sondern auch im flachen Land östlich von Wien. Eine Ausstellung gibt Einblick in das weitgehend vernachlässigte Leben der Lobau-Wilderer.

Gelegenheit macht auch Wilddiebe: „Auf Grund einer anonymen Anzeige, dass in dem kaiserlichen Jagdreviere am linken Donauufer nächst der Stadlauer Brücke Wilddiebstähle verübt worden seien, wurde durch fortgesetzte Nachforschungen konstatiert, dass diese Wilddiebstähle von vier Anstreichergehilfen, welche zur kritischen Zeit bei den Anstreicherarbeiten an der Stadlauer Brücke beschäftigt waren, verübt worden sein dürften. Die vier Verdächtigten wurden in Haft genommen...“ Das meldete die Polizeidirektion Wien im Oktober 1885 an das „hochlöbliche“ k. k. Oberstjägermeisteramt. Nachdem vor Ort zahlreiche Drahtschlingen gefunden worden waren „und die Verdächtigen gestanden hatten, in den kaiserlichen Revieren eine alte Rehziege gefangen zu haben, wurden die vier zum Teil geständigen Genossen dem k. k. Kreisgericht Korneuburg übergeben“.

„Best of Wilderer-Geschichten“ nennt der passionierte Lokalhistoriker und Lobau-Experte Robert Eichert seine Ausstellung, in der Geschichten von Wilderern und Jägern aus der Gegend östlich von Wien erzählt werden – bisher kaum bekannte Facetten des Wilderns und der Wiener Sozialgeschichte. Die Originale der historischen Texte stammen aus dem Österreichischen Staatsarchiv und beruhen auf der Korrespondenz der Forstdienststellen untereinander respektive mit dem k. k. Oberstjägermeisteramt aus den Jahren 1810 bis 1919. Eichert hat diese Wildererakten zum Teil in eine heute leichter verständliche Form gebracht, thematisch zusammengefasst und mit Zeichnungen und Fotos aus der Zeit illustriert.

Das kaiserliche Jagdgebiet im Osten von Wien erstreckte sich über die heutige Lobau, die Auengebiete am gegenüberliegenden Donauufer und das angrenzende Marchfeld. Um dieses Jagdrevier kümmerten sich die k. k. Hofjäger und ihre Gehilfen. Im 19. Jahrhundert waren Kagran, Stadlau oder Kaisermühlen – heute Teile von Wien-Donaustadt – noch kleine, von Feldern und Wäldern umgebene Ansiedlungen in Niederösterreich. Die heutige Lobau war bis zur großen Donauregulierung 1870 bis 1875 eine Insel zwischen mäandernden Donauarmen, durch Hochwässer und Überschwemmungen veränderten sich die Flussauen ständig. Die Gewässer waren reich an Fischen, in den Wäldern gab es jede Menge Wild – das vor allem der Jagdleidenschaft des Adels dienen sollte.

Bis zum Mittelalter durften alle freien Gemeindemitglieder den Wald nutzen, so hatte jeder Freie auch das Recht zu jagen. Das änderte sich rund um das Jahr 1000: Als der Adel begann, die Jagd als sportliche Herausforderung und Zeitvertreib zu entdecken, wurde den Bürgern dieses Recht entzogen. Illegale Jäger wurden fortan als Verbrecher angesehen, verfolgt und je nach Ermessen des Landesherrn bestraft.

Weite Teile der Bevölkerung hatten jedoch ein anderes Rechtsempfinden. Für sie blieben Wald und Wiesen weiterhin Allgemeingüter, die Nahrung, Brennholz und Baumaterial für alle liefern konnten. Wildern galt als Kavaliersdelikt, und häufig war es die einzige Möglichkeit, wenigstens ab und zu etwas Fleisch auf den Teller zu bekommen.

Wilddieberei und Holzfrevel

So schrieb der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl 1853: „Es gibt ganze Dörfer, ganze Landstriche, wo die Sitte heute noch Wilddieberei und Holzfrevel scharf unterscheidet von gemeinen Verbrechen. Einen Hasen in der Schlinge zu fangen ist für diese Bauern so wenig etwas Entehrendes als für einen Studenten, den Nachtwächter zu prügeln. Darin steckt der uralte Hintergedanke des Krieges um den freien Wald.“

Zusätzlich litten die Bauern an den Schäden, die das oft allzu reichlich vorhandene Wild verursachte. Von der Hofjagdverwaltung erhielten sie jährlich nur eine äußerst geringe Entschädigung. Einfriedungen und Gehege wurden zum Teil während der Jagd zerstört. „Als die Bauern sich Hunde anschafften, um das Wild zu vertreiben, wurden diese Hunde von den Forstbeamten niedergeschossen, damit die Jagden ihren fröhlichen Verlauf nehmen können“, berichtet der Soziologe und Wilderer-Experte Roland Girtler. „In extremen Notzeiten, etwa vor dem Revolutionsjahr 1848“, ergänzt Robert Eichert, „hat die Bevölkerung sehr wohl auch offen aufbegehrt. Da sind bei den Treibjagden der hohen Herrschaften Gruppen von 50 Leuten hinter der Jagdlinie gegangen, und sobald ein aufgescheuchtes Reh vorbeigeprescht ist, wurde es mit vereinten Kräften mit Knüppeln erschlagen. Da fanden sich etliche Schreiben, man möge endlich etwas dagegen tun, weil es sonst den Adeligen bald keinen Spaß mehr mache, auf die Jagd zu gehen.“

Während die Wilderer aus dem Alpenraum zu romantischen Rebellen hochstilisiert wurden, dienten die Flachlandwilderer auf dem Gebiet der Donau-Auen und des Marchfelds kaum als Motiv für Künstler. Flink wie eine Gämse, ortskundig, zielsicher mit der Flinte und immer schlauer und schneller als Jäger und Förster, das ist das typische Bild eines Wilderers. Doch geschossen wurde im Osten von Wien eher selten. Die Jagd mit der Schlinge, auch „Maxeln“ genannt, war wesentlich häufiger. „Zugleich gibt sich die gefertigte Herrschaft die Ehre, freundschaftlichst zu eröffnen, dass – wie die abgeführten Untersuchungen zur Genüge zeigen – die wenigsten Wilddiebstähle durch Feuergewehre geschehen. Die meisten geschehen durch Schlingenlegen, wozu größenteils Messing- oder Eisendraht verwendet wird, welcher bei allen Kaufleuten und Krämern frei und ohne Anstand zu haben ist.“ Also forderte die k. k. FamilienherrschaftOrth und Eckartsau, „den freien Verkauf einzuschränken“.

Mehr als 1200 Schlingen wurden etwa 1881 im Revier Aspern gefunden. Wie viele unentdeckt blieben, aber auch wie viele Rebhühner, Hasen oder Fasane damit tatsächlich gefangen wurden, kann man aus diesen Zahlen nur erahnen. Allerdings: Die k. k. Jäger erhielten Prämien für aufgefundene und abgelieferte Schlingen. Es darf vermutet werden, dass zur Aufbesserung des meist eher kargen Salärs so manche Schlinge vom Jäger selbst gebastelt wurde, wodurch das reale Ausmaß der „Schlingenpest“ heute nicht mehr wirklich ermessen werden kann.

Auch tätliche Auseinandersetzungen zwischen Wilderern und Jägern werden in den Korrespondenzen immer wieder erwähnt. Waren Wilderer tatsächlich bewaffnet, so kam es manchmal sogar zum Schusswechsel mitHofjägern und Jagdgehilfen. „Aus der Berichterstattung des Jagdadjunkten Wenzel Trunetz geht hervor, dass dessen Dienstjung Wenzel Sladek einen Raubschützen im Schwadorfer Revier angeschossen hat, undda nun derselbe wiederum genesen ist, androht, dem Dienstjung gleiches mit Gleichem zu vergelten. Da nun hier Gefahr im Verzug ist, so wird um baldig hochbeliebige Versetzung des genannten Jägerjungen in ein anderes Revier hiermit gehorsamst gebeten.“ (Forstmeisteramt Prater, September 1844).

Die Donauregulierung brachte nicht nur wildernde Arbeiter in die Donauauen, sondern machte auch die frühere Insel Lobau „von allen Seiten zugänglich“. Gewildert wurde nicht nur von Taglöhnern, sondern auch von Bauern, Fischern, Knechten, Bettelweibern oder Jagdgehilfen. 1885 bat ein Hofjäger der k. k. Jagdinspektion „untertänigst, für das Revier Lobau gütigst und baldmöglichst einenzweiten Waidjung zu bestellen“, da sonst der Aufgabe „zur Hintanhaltung größerer Wilddiebstähle“ nicht mehr nachgekommen werden könne. Die vielen „in jeder Hinsicht verdächtigen Klaubholzsammler und im Inundationsgebiet arbeitsscheuen und sich scheinbar vom Fischfang ernährenden Menschen sind zu überwachen“.

Der Erste Weltkrieg brachte zwei neue Gruppen hungriger Menschen zum Wildern: Soldaten und Kriegsgefangene. Aus dieser Zeit werden in den Akten mehrere Fälle aufgezählt, in denen Unteroffiziere ihre Mannschaft direkt zum Wilddiebstahl aufforderten. Auch dass die Militärführung angesichts zunehmender Versorgungsengpässe erwog, aus Brennnesselfasern Kleidung herzustellen, löste bei den Jagdbehörden Besorgnis aus: „Was das Sammeln von Brennnesseln in der Lobau und der damit im Zusammenhange stehende Aufenthalt von 300 bis 400 Mann Militär für die Beunruhigung des Wildes mit sich bringt, dürfte nicht von der Hand zu weisen sein. Hinzu kommt, dass sich darunter auch ein gewisser Prozentsatz jagdlich unzuverlässlicher Elemente befinden, die das im Zivilkleide gelernte Schlingenlegen auch im bunten Rock nicht lassen können“, so ein gewisser Lienbacher von der k. k. Hofjagdverwaltung Aspern am 15. Juni 1916.

Die Strafen für Wilddiebe reichten je nach Landesherren und Zeitperiode von Arbeitsdienst oder Pranger (durchaus auch mit einem Geweih auf dem Kopf) über Galeerendienst bis zur Todesstrafe. Auch kirchliche Landesherren waren oft nicht zimperlich. Der Erzbischof von Salzburg etwa ließ einen Wilddieb auf dem öffentlichen Markt von Hunden zerreißen.

Nach 1848: bürgerliche Jagdherren

Die Revolution 1848 brachte die Bauernbefreiung, das Jagdrecht als aristokratisches Privileg wurde abgeschafft und mit dem Grundeigentum verbunden. Da es kaum Bauern mit ausreichend Landbesitz gab, waren die neuen Jagdherren oft kapitalkräftige Bürgerliche, deren Lebensstil sich kaum von dem des Adels vor der Revolution unterschied. Von der Justiz wurde Wilderei zwischen 1800 und 1975 wie gewöhnlicher Diebstahl geahndet. Durch das Mitführen einer Waffe oder wenn der Wilddiebstahl einen gewissen Wert überstieg, wurde daraus schwerer Diebstahl. Heute definiert das Strafgesetzbuch Wildern als Eingriff in fremdes Jagd- oder Fischereirecht, das mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden kann.

Wildern aus Not und als Zeichen des Aufbegehrens des „kleinen Mannes“ war bis nach dem Zweiten Weltkrieg auch im Osten von Wien an der Tagesordnung. Erst mit zunehmendem Wohlstand verlor das Phänomen an Bedeutung, trotzdem gab es noch Ende des 20. Jahrhunderts einen Todesfall. 1982 wurde Pius Walder im Osttiroler Villgratental von Jägern beim Wildern ertappt, verfolgt und schließlich durch einen Kopfschuss getötet. Für die vier Brüder des Wildschützen war es glatter Mord, für die Justiz Körperverletzung mit Todesfolge. Die Ereignisse rund um den Fall Pius Walder lieferten später Stoff für eine „Tatort“-Folge. ■


Robert Eicherts Ausstellung „Best of Wilderer-Geschichten“ wird am 20. November,
19 Uhr, in der VHS Wien-Donaustadt
(Bernoullistraße 1) eröffnet.

Seit rund 20 Jahren freiberufliche Journalistin mit den Schwerpunkten Gesundheit, Medizin, Ernährung, Innovationen, Soziales. Lebt in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2014)

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