Die Frauen von Dolní Dvořiště

„Expedition Europa“: ein Böhmerwald-Bordell und der ostslawische Bruderkrieg.

Zum Glück muss ich keine Kolumne zu 25 Jahren Fall des Eisernen Vorhangs schreiben, denn da fiele mir nichts Rechtes ein. Damals, im Herbst 1989, erlebte ich nichts. Ich war 17, saß in meinem niederösterreichischen Elternhaus, 87 Kilometer vom nächsten Grenzübergang zur ČSSR, und sah das alles im Fernsehen. In Österreich war keine Revolution. Als Schulsprecher meiner Klosterschule musste ich für einen Cola-Automaten kämpfen. Ich selbst wollte keinen Cola-Automaten, meine Wähler wollten ihn. Bald darauf zog ich mich aus der Politik zurück.

Gewiss erlebte ich im Vierteljahrhundert seither genug für das etwaige Verfassen einer Jubiläumskolumne. So lebe ich seit 2004 auf der Naht des Eisernen Vorhangs, am slowakischen Ufer. Zu Jubiläumsjubel müsste ich mich aber zwingen: Seit die Erzählung vom Aufholen zum westlichen Lebensstandard nicht mehr geglaubt wird, spüre ich im ehemaligen Ostblock die Bereitschaft anschwellen, die Oligarchendemokratie auf den Misthaufen zu schmeißen. Für ein bisschen Stolz, Stabilität, charismatische Führung, für ein kleines Massaker vielleicht auch.

In diesem Herbst mache ich Halt in Marienborn. Der berüchtigte Grenzübergang an der innerdeutschen Grenze trug diesen Namen. Ich fahre von der Autobahn ab, will in dem hübschen Wallfahrtsort frühstücken, diese Ex-DDRler geben aber nur kauzige Antworten: „Außer dem Getränkestützpunkt gibt es nichts mehr“, „lohnt sich nicht mehr“, „nüscht“. An der verschlossenen Kirchentür hängt ein Zettel, die Kopie des Taufscheins eines schwedischen Kurden. Im Jahre 2007 kritzelte der Mann empört auf das Blatt: „Wenn Sie die Kirche schließen, dann werde ich im Wald beten. Sie aber zeigen damit, wer Sie sind.“ Ich frage mich: Lassen die Marienborner diese Anklage absichtlich hängen? Seit sieben Jahren?

Die Liebe zur russischen Sprache

Ich halte noch in Dolní Dvořiště. Das letzte tschechische Dorf vor der österreichischen Grenze, unverändert 87 Kilometer von meinem Elternhaus. Der Böhmerwald nach wie vor von gruseliger Hermetik, Nebelschwaden. Im Grenzdorf kleine Bordelle, Richtung Grenze große Casinos neueren Datums. Es ist spät in der Nacht. Müde von der langen Fahrt, brauche ich einen Kaffee. Als ich durch das Dorf spaziere, höre ich durch die Lüftungsklappe des Etablissements „La Paloma“ russische Frauenstimmen. Der Wahnsinn des Krieges hat mir die Liebe zur russischen Sprache noch nicht verleiden können. Ich bleibe stehen, lausche. Ich höre die gelangweilten Prostituierten fluchen, jede sucht bei einem „Sascha“ ihre russischen Lieblingsschlager durchzusetzen. Was ich nicht weiß: Nicht nur ich belausche die Frauen, die Frauen beobachten über vier Kameras auch mich. Schließlich holt mich eine üppige Blondine hinein.

Ich bekomme meinen Kaffee, sie ihren Piccolo. Sie stellt sich als Krankenschwester aus Dnjepropetrowsk vor. Auch die anderen sind Ostukrainerinnen, eine ist Russin. Ihre Haltung zum Krieg in der Heimat ist von buddhistischer Gleichmut: „Deswegen haben wir uns hier noch nie gestritten“, sagt die Krankenschwester, „das ist Politik, unverständlich, sinnlos.“ Sorgen macht sie sich um ihre Eltern: „Man hört, Putin braucht noch die Verbindung von Donezk auf die Krim“, auf dieser Verbindung leben ihre Eltern. Sie selbst wolle nicht zurück, „ich warte nur noch auf die Papiere, um in einem Linzer Spital anfangen zu können“. Ich wünsche ihr Glück und fahre weiter. Durchs ereignislose Mühlviertel rollend, frage ich mich, was ich im Grenzpuff gelernt habe. Wächst da zusammen, was zusammengehört? Erfährt die zurückgehende Grenzprostitution durch den ostslawischen Bruderkrieg Nachschub? Zum Glück muss ich keine Jubiläumskolumne schreiben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.