Frau und Mann unter keinem Hut

Die Debatte, ob und, wenn ja, wie Femininum und Maskulinum im Plural gleichberechtigt abgebildet werden sollen, geht weiter. Die „gegenderte Sprache“ als Landkarte und Wegweiser?

Gleich vorneweg: Sprache kann vielerlei. Sie kann andeuten, beweisen, hervorrufen, erfinden, verführen, lügen, irreführen, beleidigen, loben, klären und vieles mehr. Nur ein Teil der Sprache bezieht sich auf die konkrete Außenwelt mit ihren von der Natur gegebenen oder von Menschen gestalteten Erscheinungsformen.

Wer den Anspruch stellt, sich in dieser Außenwelt zu orientieren, braucht eine Sprache mit derselben Verlässlichkeit wie eine gut gezeichnete Landkarte. Niemand würde mit einer weiß gefleckten Landkarte unterwegs sein wollen, auf der zu allem Überdruss auch noch Autobahnen und Flüsse gleichermaßen rot eingezeichnet sind.

Sprache gibt Wege vor. Tief aus unbewussten Konditionierungen heraus und manchmal in bewusster Wahl folgen wir ihnen. Zu den „planetarischen Hiobsbotschaften“, die in Stephen Emmotts Buch „Zehn Milliarden“ genannt sind, meint Erich Kitzmüller: „Ohne drastische Änderungen auch im Steuerungssystem der Gesellschaften werden die programmierten Katastrophen wohl kaum abzuwenden sein.“

Dem stimme ich zu. Und eines der wesentlichen Steuerungssysteme der gesellschaftlich gestalteten Wirklichkeit ist die Sprache. Das biblische „Im Anfang war das Wort“ ist nicht nur eine religiös-philosophische Aussage, sondern auch alltägliche Erfahrung. Kein Planen, kein Erkennen kommt ohne Sprache aus. Warum auch sonst wäre den Diktaturen Zensur und Verbot des freien Wortes ein so vordringliches Anliegen? In Deutschland wurde bereits 1933 zwecks „geistiger Mobilmachung“ ein Ministerium für Propaganda eingerichtet.

Michel Foucault befindet, es werde „darauf ankommen zu wissen, in welchen Formen, durch welche Kanäle und entlang welcher Diskurse die Macht es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vorzudringen“. Und er kommt zu dem Schluss, „der Zugriff der Macht vollzieht sich in der Sprache“.

Sprache erzeugt Handlungsimpulse, indem sie Emotionen, Wertmaßstäbe und konkrete Inhalte in unserer Vorstellung aktiviert. Ihrem Einfluss können wir uns nicht entziehen. Sie ist eine ständig wirkende und wirkmächtige Kraft.

Ungezählte politische Veränderungen und Heilsversprechen, die historisch gesehen in vielerlei Katastrophen geführt haben, beweisen die Notwendigkeit für einen geschulten Blick zur Unterscheidung zwischen Illusion und Realität. Der besteht im Wesentlichen darin, sich das Gesagte als reales Geschehen innerlich vor Augen zu führen – und erst dann zu urteilen, zu wählen und zu handeln. Das setzt Verlässlichkeit der Wortbedeutungen ebenso voraus wie eine erlebte Verbundenheit von Sprache zu Wirklichkeit.

Dass die gesellschaftlichen Auswirkungen vieler erfolgreicher Projekte zu Nachhaltigkeit und Lebensqualität bis dato vergleichsweise gering sind, hat unter anderem mit einer Art Erlebnisblindheit gegenüber Wortbedeutungen zu tun. Wenn die Beziehung von Sprache zu Wirklichkeit „labilisiert“ ist, wie Rupert Lay das in seinem Buch „Manipulation durch Sprache“ nennt, erreicht verdeckte Manipulation oftmals ihr Ziel eher als bewusstes Gegensteuern wacher Bürgerinnen und Bürger.

Es ist wichtig, im Interesse von Demokratie, Nachhaltigkeit und Frieden aus dieser Erkenntnis zweckdienliche Schlüsse zu ziehen. Oft genügt das Präzisieren eines einzigen Begriffs, um eine Sichtveränderung zu erreichen. Das Wort Mitweltvergiftung aktiviert eher als Umweltvergiftung diejenigen Bilder und neuronalen Netzwerke in unseren Köpfen, die uns uns selbst als mitten in dieser Vergiftung stehend wahrnehmen lassen und die daher eher zu korrigierendem Handeln motivieren. Von islamischen Glaubensformen zu sprechen ermöglicht einen realistischeren Blick auf gesellschaftliche Prozesse, als wenn wir über den Islam befinden. Für christliche Glaubensformen oder Ausrichtungen versus Christentum oder für jüdische, hinduistische oder andere Glaubensformen gilt dasselbe.

Über die Dritte Welt zu diskutieren ist müßig. Es gibt nur eine Welt. Das ist klar. Aber die Formulierung tut, als hätten wir deren mehrere. Das ist zwar nicht so gemeint, aber es wird so gesagt. Eine wortentsprechende Wirklichkeit lässt sich damit nicht vor Augen führen. Das verlässliche Abbilden der Welt in Sprache braucht unverkennbare Begriffe. Wir bezeichnen ein bestimmtes Gebilde der Außenwelt mit dem Wort Haus. Sobald wir diesem Wort begegnen, taucht besagtes Gebilde der Außenwelt unmissverständlich und in annähernd gleicher Weise in unser aller Vorstellung auf. Ebenso geht es mit Baum, Straßenverkehrsordnung, Teilchenbeschleuniger und anderen. Sie, werte Lesende, sowie ich und andere erreichen mit solchen Worten übereinstimmende Inhalte.

Das funktioniert trotz der subjektiven Färbungen, die ein Baum, ein Haus für Sie oder für mich haben mögen. Vielleicht haben Sie eben anlässlich der Geburt eines Kindes einen Baum gepflanzt, vielleicht hat ein umstürzender Baum Sie einst bei einem Gewitter beinahe das Leben gekostet: Die Geschichten und Emotionen, die wir mit den jeweiligen Wirklichkeitsanteilen verbinden, sind unterschiedlich. Jedem dieser Wörter ist trotzdem ein Inhalt zugeordnet, der für alle ähnlich genug ist, um als Basis für verlässliche Kommunikation zu dienen. Solcherart ist Sprache eine praktikable Landkarte zur Verständigung. Gibt es hingegen keine genaue Anbindung der Sprache an entsprechende Teile der Außenwelt, so kommt das denen zupass, die ohne Rücksicht auf Verluste möglichst alles dem eigenen Machtgewinn dienstbar machen. Denn labile Sprachlandkarten nützen einer Irreführung, die steuerbar ist.

Bedauerlicherweise gibt es Grammatikformen, die per se die Sprache von der Wirklichkeit abkoppeln. Ein Denken entlang von Tatsachen ist mit ihnen gar nicht möglich. Eine davon ist das generische Maskulinum (paradoxerweise auch als Femininum und Neutrum vorhanden). Diese, die Wirklichkeit aggressiv verleugnende Sprachform war zur Zeit des Nationalsozialismus gang und gäbe: „Der Jude ist ...“, „der Russe hat ...“ Zur Charakterisierung von Menschengruppen gehört sie ersatzlos gestrichen, denn mit dem generischen Maskulinum sind ausschließlich Behauptungen möglich, die jeder konkreten Wirklichkeit entbehren und die daher für ein realitätsbezogenes Denken unbrauchbar sind. Es gibt ihn nicht, den Kärntner oder den Slowenen; und daher lassen sich über ihn keine wahren Aussagen machen. Es gibt Kärntnerinnen und Kärntner, Sloweninnen und Slowenen.

Das führt zur zweiten tradierten Grammatikregel, die den Vertrauensgrundsatz, dass Sprache Realität wiedergibt, torpediert, nämlich zu den männlichen Mehrzahlformen. Mit ihnen können die real vorhandenen Frauen „vaporisiert“ werden, wie es die Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch so treffend nennt. Sprachlich ergeben die realitätswidrigen, weil ausschließlich männlichen Mehrzahlformen einen diffusen Dampf, in dem das Gemeinte nicht von der Wortbedeutung bestimmt wird. Wenn vier Ausländerinnen und ein Ausländer fünf Ausländer genannt werden dürfen, steht das wie eine Nebelwand vor der Wirklichkeit. Auf diese können dann Unkorrektheiten aller Art projiziert werden.

Dort, wo männliche Mehrzahlformen auch für Frauen gelten sollen, ist Sprache einer Landkarte vergleichbar, auf der Flüsse und Straßen ununterscheidbar eingezeichnet sind. Angepeilte Ziele zu erreichen ist damit erheblich erschwert. Das Weglassen der Frauen in der Mehrzahl führt nicht nur das Denken von der Wirklichkeit fort, es ist zudem respektlos, diskriminierend, von symbolischer Aggressivität und verweigert den Frauen die Präsenz im so wichtigen Medium Sprache.

Wer realitätswidrige Mehrzahlformen bislang für okay oder entschuldbar gehalten hat, sollte die Sache mit Blick auf Logik, die ja für korrektes Argumentieren unabdingbar ist, noch einmal überdenken. Realitätswidrige Mehrzahlformen missachten nämlich folgendes Grundgesetz: „Ein Teilbegriff einer Menge darf nicht gleichzeitig deren Oberbegriff sein.“ So sind drei Geigen und zwei Klaviere zusammengezählt weder fünf Klaviere (Teilbegriff) noch fünf Geigen (Teilbegriff), sondern fünf Musikinstrumente (Oberbegriff). Vier Bürgerinnen und ein Bürger sind also keine fünf Bürger. Die Evidenz bestätigt das. Wer keine Paarformen (Bürgerinnen und Bürger) verwenden will und trotzdem keinen logischen Fehler machen möchte, wählt Bürger/innen, BürgerInnen, Bürger!innen, Bürger*innen oder Vergleichbares. Jede dieser Formen wird der Logik gerecht, denn sie führt einen formal unterscheidbaren Oberbegriff ein.

Es würde allerdings der Wunsch nach Einhaltung des verfassungsrechtlich verankerten Gleichheitsgrundsatzes genügen, um realitätsgerechten Mehrzahlformen den Vorzug zu geben. Dem Geist dieses Gesetzes gemäß ist alles zu ändern, was der Gleichbehandlung von Männern und Frauen zuwiderläuft; daher gegebenenfalls auch Denk-, Sprach- und Grammatikgewohnheiten. Vor etwa 2500 Jahren merkte Konfuzius an, dass es das Wichtigste bei der Neuordnung eines Staates wäre, die Sprache so zu organisieren, dass die Begriffe einen klaren Bezug zur Wirklichkeit haben. Denn, so setze ich fort, wird erst einmal die Verbindung der Worte zu entsprechender Wirklichkeit gewohnheitsmäßig ignoriert, dann leidet auch die Informationssicherheit. Mangel an Sicherheit begünstigt Hörigkeit. Unausgesprochene Inhalte können als tatsächlich gesagt und verpflichtend wahrgenommen werden.

Von der Wortbedeutung her ist einedeutsche Mutter eine Frau, die gleichzeitig Mutter und deutsche Staatsangehörige ist. Der Nationalsozialismus definierte eine deutsche Mutter hingegen als die Frau, die ihre „uralte und ewig neue Pflicht“ erfüllt, der „Familie, dem Volk, der Rasse Kinder zu schenken“. Deutsche Mutter war also nicht Bezeichnung für einen Aspekt der Wirklichkeit, sondern implizierte die Vorgabe eines Lebensentwurfes im Sinne des Nationalsozialismus. Sprache ist da keine Landkarte der Außenwelt, sondern wird Signalbündel für entmündigenden Terror.

Selbstverständlich sind wir alle das Produkt unserer kulturellen und individuellen Sozialisation. Neue Sprachformen lassen sich nicht von heute auf morgen etablieren. Mit Sprache ist es wie mit der Ernährung. Was die Umgebung „immer schon“ isst oder spricht und gutheißt, gilt uns als natürlich und wertvoll. Die berühmte Aufforderung „Erkenne dich selbst!“ braucht als Grundlage das Erkennen der Wirklichkeit. Erst das getreue Wahrnehmen der Innen- und Außenwelt ermöglicht real förderliche Maßnahmen. Immer exaktere Sprachlandkarten nähren die Aussicht, dass sich die unbewussten Steuerungssysteme der Gesellschaften allmählich – und hoffentlich rasch genug – auf den Erhalt von menschlichem Leben auf dem Planeten Erde ausrichten lassen. ■


Zu diesem Thema erschien im vorigen „Spectrum“: Daniela Strigl, „Der letzte Schrei“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2014)

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