Das Geheimnis des Albertus Rhon

Anton Wildgans war nahe dran. Stefan Zweig machte sich für Sigmund Freud stark. Karl Kraus wurde von der Sorbonne vorgeschlagen. Und keiner von ihnen hat ihn gekriegt, den Literaturnobelpreis. Demnächst wird er in Stockholm verliehen. Eine Bilanz aus österreichischer Sicht.

Alljährlich im Herbst hat die literarisch interessierte Gemeinde etwas zu munkeln. An wen geht der Nobelpreis für Literatur? Nach wie vor ist er der einzige Literaturpreis, der internationales Aufmerken verbürgt. Eine öffentliche Diskussion der Preiswürdigen gibt es nicht. Die schwedische Akademie tagt geheim. Immer ist die Überraschung groß. Die Prinzipien der Vergabe haben sich im Laufe der Jahre verändert. Während es zunächst die Anerkennung der besten Neuerscheinung des vergangenen Jahres im Sinne eines „idealistischen“ Kunstwerks sein sollte, will das Komitee zunehmend auf Autoren aus aller Welt hinweisen, die seiner Meinung nach gebührend hervorgehoben werden sollten. Dabei wird auf breite Streuung geachtet; es kommt heutzutage kaum mehr vor, dass eine Nation mehrmals hintereinander bedacht wird, wie es in Zeiten eurozentrischer Ausrichtung immer wieder geschah.

Vorschlagsberechtigt sind die nationalen Autorenvertretungen, etwa der PEN-Club, sodann Lehrstuhlinhaber für Literaturwissenschaft und die bisherigen Preisträger. Empfehlungen nicht derart befugter Gremien und Personen oder gar der journalistisch verbreiteten „öffentlichen Meinung“ werden nicht berücksichtigt. Ein Umstand, der immer wieder zu Missverständnissen und Enttäuschungen führt.

Bis Ende Jänner eines jeden Jahres werden etwa 200 Namen gesammelt, von denen im Frühjahr 15 bis 20 auf eine Longlist kommen, die allmählich auf etwa fünf Kandidaten reduziert wird. Kriterien für die Wahl sind literaturkritische und -wissenschaftliche Wertschätzung. Nicht jedoch Auflagenhöhe und Selbsteinschätzung der Autoren.

Es ist müßig, mit dem Komitee zu rechten. Das beliebte gesellschaftliche Entrüstungsspiel, ob der jeweils Auserkorene den Preis auch verdient hat, ist obsolet. Ebenso die Aufzählung aller jener Würdigen, die den Nobelpreis nicht bekommen haben – die Liste reicht von Ibsen, Tolstoi, Strindberg, Proust und Joyce bis zu den großen amerikanischen Romanciers unserer Tage. Von solchen Vorwürfen zeigen sich die Juroren der Schwedischen Akademie weniger beeindruckt als von politischen Argumenten, die den Preis für Dissidenten und widerständige Schriftsteller in bedrängten Situationen nahelegen.

Es sei unüblich, heißt es, dass Autoren schon nach der ersten Nennung für preiswürdig gehalten würden. Die Vorschläge müssen also jedes Jahr wiederholt werden, was den einreichenden Institutionen und Personen eine gewisse Hartnäckigkeit abverlangt. Der Wiener Literaturwissenschaftler EmilReich gab auf, nachdem er zu Beginn des 20.Jahrhunderts vergeblich nacheinander Peter Rosegger, Marie von Ebner-Eschenbach und Karl Schönherr vorgeschlagen hatte. Erst im 103. Jahr nach der Stiftung des Preises kam eine Österreicherin an die Reihe. – Die beiden „humanisten“ in Ernst Jandls gleichnamigem „konversationsstück“ von 1976 geben sich als höchste Vertreter der Hochkultur in maliziös verrenkter Sprache zu erkennen mit den Worten „ich sein ein nobel preisen“ - „ich auch sein ein nobel preisen“. Womit die globale Wertschätzung bekräftigt wird: „ich sein ein groß deutschen und inder national nobel preisen kunstler“. Jandl legte spottend den Finger in die Wunde eines jeden österreichischen Schriftstellers, der sein Leben lang vergeblich nach dem renommiertesten und einträglichsten aller Literaturpreise gierte. Darunter auch Jandls Freund Heimito von Doderer, der wie dieser in den „humanisten“ den Namen Nobel beharrlich auf der ersten Silbe betonte. Er hatte vor, wie sein langjähriger Sekretär Wolfgang H. Fleischer erzählte, wenn er ihn denn bekäme, das Volkstheater zu mieten und Helmut Qualtinger die unappetitlichsten Stellen aus den „Merowingern“ lesen zu lassen. Es wurde nichts draus.

Am 10. Dezember 1981 sprach Elias Canetti in seiner Bankettrede bei der Verleihung des Nobelpreises von vier Vorbildern für sein Schreiben: Karl Kraus, Franz Kafka, Robert Musil, Hermann Broch. „Es wäre unmöglich für mich, heute nicht an diese vier Männer zu denken. Wären sie noch am Leben, so stünde wohl einer von ihnen an meiner Stelle da.“ Damit ordnete sich der in Bulgarien geborene und in der Schweiz lebende englische Staatsbürger Elias Canetti, der zeitlebens auf Deutsch – in der österreichischen Variante und im Wiener Dialekt – schrieb, in eine Reihe österreichischer Autoren ein und legitimierte damit das Anrecht, ihn als ersten „österreichischen“ Nobelpreisträger für Literatur zu betrachten.

Öffentlich als möglicher Kandidat wird Stefan Zweig von Hermann Bahr in einem Artikel im „Neuen Wiener Journal“ vom 29. Jänner 1931 genannt, den er dem Preisträger von 1930, Sinclair Lewis, vorziehen würde, allerdings neben einigen anderen: Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann, Felix Salten, Karl Schönherr, Anton Wildgans und Franz Werfel. Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke waren schon einige Zeit nicht mehr am Leben.

Von den Genannten war angeblich Wildgans nahe dran. Es geht das Gerücht, dass er 1932 den Preis nur deshalb verfehlte, weil er vorher verstarb. Werfel bemühte sich sehr, aber – so der Prager Publizist Willy Haas, der sich rühmt, in offizieller Funktion für ihn plädiert zu haben – das Komiteewollte in den 1930er-Jahren durch die Verleihung an einen Emigranten die Nazis nicht kränken, mit denen Schweden Wirtschaftsbeziehungen unterhielt. In diesen Zusammenhang gehören auchStefan Zweig und Joseph Roth. Von Joseph Roth ist der resignierte Ausspruch überliefert, dass er die Aufnahme eines Textes in ein österreichisches Lesebuch als Quasi-Nobelpreis empfand.

Stefan Zweig war wiederholt davon überzeugt, dass Émile Verhaeren den Preis bekomme – das hätte seinen Übersetzungen zu größerer Auflage verholfen. Von eigenen Nobelpreis-Ambitionen ist nichts bekannt. Als Zweig gedrängt wurde, sich für Upton Sinclair einzusetzen, lehnte er ab und schlug stattdessen Maxim Gorki vor, nicht ohne diesem eine Kopie seines Vorschlags zukommen zu lassen. Anderseits machte er sich für Sigmund Freud stark, wohl wissend, dass der einen Nobelpreis für Medizin nie bekommen würde; aber wissenschaftliche Prosa wurde immer wieder ausgezeichnet, etwa Theodor Mommsen, später Winston Churchill.

Karl Kraus hatte Bahrs Aufzählung in der „Fackel“ zitiert, hauptsächlich um seinen Spott über Salten auszuschütten, indem er überlegte, ob diesem eher der Preis für „Fünfzehn Hasen“ oder doch die „Josephine Mutzenbacher“ (für deren Verfasser er – vermutlich irrtümlich – Felix Salten hielt) gebühre. Er selbst, Karl Kraus, war wiederholt von den Germanisten der Sorbonne vergeblich vorgeschlagen worden. Wie intensiv er sich über seinen Mittelsmann Sigismund von Radecki um die Kandidatur bemühte, ist im Kraus-Nachlass der Wien Bibliothek dokumentiert. In der Schwedischen Akademie kam leiser Spott auf, dass die Franzosen irgend so einen ausländischen Journalisten für preiswürdig hielten, statt etwa einheimische Kandidaten zu nennen wie Roger Martin du Gard, André Gide, François Mauriac, die später alle drei den Preis bekamen.

Ebenso wenig wie Karl Kraus war der mehrmals vorgeschlagene Hugo von Hofmannsthal in Frage gekommen. Einen Bewerbungsbrief hatte Hofmannsthal selbst geschrieben und Max Reinhardt zur Unterschrift vorgelegt, notiert Schnitzler im Tagebuch. Aber der Vorsitzende der Jury verabscheute den „krankhaften und brutalen Sensualismus“ der „Elektra“, und als der schwedische Übersetzer der „Elektra“ seinerseits Vorsitzender wurde, war Hofmannsthal schon tot.

Einer von denen, für die sich Canetti als Platzhalter empfand – Karl Kraus – wurde genannt. Das Werk der anderen, Kafka und Musil, war zu Lebzeiten nicht ausreichend bekannt, um den Preis zu rechtfertigen. Musil jedoch war nicht davon abzubringen zu behaupten, dass Thomas Mann seine – Musils – Kandidatur verhindert habe. Ähnlichen Verdacht dürfte Hermann Broch gehegt haben, der 1947 vom österreichischen PEN-Club-Präsidenten Csokor (auf Anregung Rudolf Brunngrabers) vorgeschlagen worden war. Der um Unterstützung gebetene Nobelpreisträger Thomas Mann war zu höflich, sie abzulehnen, gab aber zu bedenken, dass Broch zu elitär sei.

Als Kuriosum sei nachgetragen, dass eine Grazer Tageszeitung im Sommer 1913 ganz bestimmt wusste, dass Peter Rosegger im Herbst den Preis erhalten würde. Das rief sofort Proteste der Tschechen auf den Plan, die befürchteten, dass Rosegger den Preis dazu verwenden würde, tschechische Kinder ihrer Muttersprache zu entfremden und zu Deutschen zu erziehen. Wiederum Spott aus Stockholm: Wer käme je auf die Idee, einen steirischen Provinzautor auszuzeichnen?

Ein Jahr später, im Sommer 1914, überraschte Berta Zuckerkandl die Schnitzlers, die in der Schweiz Urlaub machten, mit der Gewissheit, dass Arthur Schnitzler gemeinsam mit Peter Altenberg den Preis erhalten würde. Kein Zweifel daran, nur Unmut über die Teilung, die angeblich noch nie erfolgt war (aber 1904 war der Preis schon einmal geteilt worden). Schon am gleichen Nachmittag setzte sich Arthur Schnitzler hin und schrieb einen Brief an den dänischen Kritiker und Publizisten Georg Brandes, von dem er sich geschätzt wusste, er möge sich für ihn verwenden, damit es nicht beim Gerücht bliebe. Brandes aber war der falsche Adressat, wurde seinerseits als Kandidat von den Schweden boykottiert. Wenig später wusste er mitzuteilen, dass wegen des ausgebrochenen Krieges der Nobelpreis 1914 nicht vergeben würde. 1915 ging er an Stefan Zweigs Freund Romain Rolland.

Wie sehr sich Arthur Schnitzler aber schon Jahre zuvor für preiswürdig hielt, darauf deutet eine kleine Entdeckung hin: Verschiedentlich ließ er Figuren in mehreren seiner Werke auftreten, etwa einen Albertus Rhon in den Dramen „Zwischenspiel“ (1905) und „Das weite Land“ (1911). Das ist ein Dramatiker, der die Welt ausschließlich nach ihrer Tauglichkeit für dramatische Gestaltung betrachtet, von Schnitzler als zynischer Raisonneur eingesetzt. Albertus Rhon – ein auffälliger Name. Nicht des gravitätischen Vornamens wegen, die sind häufig beiSchnitzler anzutreffen: Aegidius, Medardus, Eligius. Auffällig ist der Nachname. Ja, es gibt den Namen „von Rhon“ in einem frühen Roman von Hermann Bahr, „Neben der Liebe“ von 1893, Arthur Schnitzler kannte ihn. Aber das dürfte ihn nicht zur Namenswahl veranlasst haben. Vielmehr will er aufhorchen lassen. Und siehe da: Wenn man den Namen Albertus Rhon anagrammatisch zerlegt, kommt heraus: „Arthur S Nobel“.

Solche verborgene Anspielungen und geheime Sehnsüchte sind Schnitzlers Spezialität – längst noch nicht alle entschlüsselt. So wie die Sehnsucht der meisten Autoren nach dem Nobelpreis im Verborgenen blieb. Als ich Gelegenheit bekam, Elias Canetti1981 zum Nobelpreis zu gratulieren, wehrte er in koketter Bescheidenheit ab: Den hätten 100 andere auch verdient. Kurze Pause: Na, sagen wir 80. ■

Geboren 1939 in Weimar. Dr. phil. Gründer des Literarischen Quartiers Alte Schmiede,Chefdramaturg am Burgtheater, danach, bis 2002, Direktor des Theaters der Jugend. Publikationen zur Literatur- und Theatergeschichte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.11.2014)

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