Wenn alle ja, dann ich nein

Ein Leben ohne Widerspruch ist möglich, aber sinnlos. Und man braucht das richtige Besteck. Am 6. Dezember begeht Nikolaus Harnoncourt seinen 85. Geburtstag. Eine Hommage.

Es war ein Radio-Interview, irgendwann Ende der Siebzigerjahre. Nikolaus Harnoncourt wurde zu seiner Leidenschaft für alte Instrumente und Spielweisen befragt, und er äußerte einen Satz, der gewissermaßen mein Leben veränderte. Bei seiner jahrzehntelangen Pionierarbeit auf dem Gebiet der Aufführungspraxis, so sagte Harnoncourt sinngemäß, habe er ein Fernziel vor Augen gehabt. Es sei ihm darum gegangen, sich der Musik Mozarts aus der historisch „richtigen“ Richtung anzunähern, seine Werke nicht mit dem Wissen um die Entwicklung der Musik im 19. Jahrhundert im Rückblick zu betrachten und zu interpretieren, sondern, aus Mozarts Vergangenheit kommend, darauf zuzugehen.

Das war ein Argument! Ich war musikalisch in Wien sozialisiert, eine begeisterte Anhängerin der populären Passionsaufführungen von Karl Richter und überhaupt ein deklarierter Fan der bereits in vielen Facetten keimenden Barockmusikszene, vom Ensemble Musica Antiqua über Les Menestrels bis zu den Affetti Musicali. Die Bestrebungen des „Darmsaitenritters“, als den man Harnoncourt in Wien damals bespöttelte, hatte ich bislang distanziert und skeptisch beobachtet; die wenigen Konzerte des Concentus Musicus, die ich im Mozart-Saal des Konzerthauses gehört hatte, waren mir als spröde in Erinnerung. Doch mit dieser souveränen Aussage hatte er mich gewonnen. Bislang hatten mich weder Mozart noch die Oper sonderlich interessiert. Bald folgten regelrechte Erweckungserlebnisse. „Idomeneo“ und „Lucio Silla“, in den legendären Zürcher Produktionen mit Jean-Pierre Ponnelle zu Gast bei den Wiener Festwochen, eröffneten mir nicht nur den Zugang zu einem vollkommen anderen Mozartbild, sondern auch zu einer Form von Musiktheater, so aufregend, so unmittelbar berührend, wie ich es im gängigen Opernbetrieb bisher nicht kennengelernt hatte. Für beides kann ich nicht dankbar genug sein.

Über Harnoncourts Mozart-Interpretation sind seither einige Bücher veröffentlicht worden. Dass sein Zugang speziell zu diesem Komponisten bis heute nicht unumstritten ist, belegen die reichlich durchwachsenen Kritiken zur „Zauberflöte“ der Salzburger Festspiele 2012. Aber dass ein Künstler, der bereits im achten Lebensjahrzehnt steht, in der öffentlichen Wahrnehmung nicht ausschließlich Objekt legendenbildender Imagepolitur ist, sondern weiterhin mit Widerspruch und Schelte bedacht wird, kannman im heutigen Jargon wohl als „cool“ bezeichnen.

Ein cooler Hund, der alte Nikolaus, möchte man – mit allem gebotenen Respekt – ausrufen, wenn er, wie jüngst im Musikverein, die selbstbewussten Wiener Philharmoniker mit seinen Ansichten zu Schubert wieder einmal aus dem gepflegten künstlerischen Gleichgewicht bringt. Die Opposition ist sein Lebenselixier. Sie resultiert aus einer unstillbaren Neugier, gespeist von dem Bedürfnis nach Überraschung, wobei er zu allererst sich selbst überraschen möchte. Frei nach Loriot könnte sein Motto lauten: Ein Leben ohne Widerspruch ist möglich, aber sinnlos. Allerdings, und diese Unterscheidung ist wichtig, geht es Harnoncourt ausschließlich um den eigenen oppositionellen Standpunkt. Die Irritation, die er damit bei anderen auslöst, wird gar nicht einkalkuliert, geschweige denn vorsätzlich angestrebt. Das wiederum ist auf wunderbar altmodische Weise „uncool“, und das flotte Epitheton, das auf den ersten Blick so passend scheint, wird völlig obsolet.

Die eigene Existenz als Ausschnitt

„Wenn alle ja, dann ich nein.“ Das war der Leitsatz, den Nikolaus Harnoncourt als Halbwüchsiger für sich wählte, um in der unerträglichen, unüberschaubaren, von Gewalt, Willkür und Zwang zum Konformismus bestimmten Atmosphäre seiner Jugendzeit einen inneren Kompass zu haben. Nicht mitmachen konnte nur die bessere Alternative sein, in der Hitlerjugend. Auch wenn man dafür bestraft wurde, indem man eine ganze Nacht lang einen Berghang hinauf- und hinunterrennen musste. Nikolaus hatte beschlossen, allgemein herrschenden Ansichten grundsätzlich zu misstrauen und sich in jedem Fall ein eigenes Urteil zu bilden. Der Querdenker Egon Friedell mit seinen unkonventionellen Ansichten zur „Kulturgeschichte der Neuzeit“ war ihm ein leuchtendes Vorbild. Die Familie mit dem kunstbesessenen, hoch emotionalen Vater, der klugen, ironischen Mutter und den sechs, großteils jüngeren, Geschwistern war das ideale Terrain, um diese Fähigkeit zu trainieren.

Gleichzeitig hat der Halbwüchsige aber auch gelernt, das eigene Urteil zu relativieren. „Dazu haben wir nicht das Besteck.“ Das war die standardmäßige Replik seiner Eltern, wenn sich Nikolaus' Widerspruchsgeist zu verheddern, sein kritischer Verstand über das Ziel hinauszuschießen drohte. Ein Satz, über den nachzudenken sich lohnt, gerade heute, wo es auf allen erdenklichen Gebieten von selbst ernannten Expertinnen und Experten wimmelt. Kommt da noch jemand auf die Idee, dass der exklusive Anspruch auf ein Thema unangemessen oder anmaßend sein könnte?

Die Eltern, mit ihrer Herkunft aus alten Adelsgeschlechtern, begriffen die eigene Existenz als Ausschnitt in einem Kontinuum von Jahrhunderten, und sie lehrten den aufmüpfigen Sohn, dass die eigene Meinung zwar wichtig ist, dass sie aber zugleich ihren Platz in einem Koordinatensystem behaupten muss, in dem sie auch ihre Begrenzung findet. Es war gewissermaßen ein dualer Prozess der intellektuellen Selbstfindung, der sich in legendären, mit größter Heftigkeit und Lautstärke geführten Streitgesprächen am häuslichen Mittagstisch vollzog. Ausgetragen unter der Voraussetzung, dass die Grundlage für einen ernsthaften Streit die selbstverständliche Wertschätzung des Gegners ist, dass es nicht um einen Angriff auf die Person geht, sondern um ein Messen der Kräfte und Argumente um einer Sache willen, das auf keinen Fall zu einem ernsthaften Zerwürfnis führt, sondern auf Liebe und Vertrauen beruht. „Ich kann nur streiten, wenn ich weiß, dass es kein Streit ist.“ Der Schlussakkord muss harmonisch sein, wie in der Musik.

Im Bach-Jahr 1985, als ich für einen Artikel über die Veränderungen in der Barockmusikinterpretation recherchierte, konnte ich mein erstes Interview mit Nikolaus Harnoncourt führen. Da gab es viele Überraschungen. Zunächst die unkomplizierte Art, in der es zustande kam. Großzügig, ohne Formalitäten. Als ich im Anschluss einer Podiumsdiskussion mit meinem Anliegen auf ihn zukam, deutete er auf eine blonde Frau, von Menschen umringt. „Da müssen Sie sie fragen!“ Und schon war ich in Kontakt mit Alice, der Schlüsselfigur in seinem Leben, deren verständnisvolle Umsicht fast alles ermöglicht hat, was sich in den folgenden Jahrzehnten an Projekten ergab.

In der persönlichen Begegnung entsprachHarnoncourt überhaupt nicht dem grimmigen Bild, das in der Öffentlichkeit von ihm kursierte. Er war charmant und lustig – und eloquent: „Sie müssen mich unterbrechen. Wenn man einander nicht unterbricht, ist es keine spannende Unterhaltung.“ Diesen Satz habe ich mir für den Umgang mit Interviewpartnern zu Herzen genommen. Und die berühmte Harnoncourt'sche Streitkultur, die ich immer wieder erleben konnte, hat mich zutiefst beeindruckt.

Überhaupt, Harnoncourts Privatsprache, diese individuelle Deutung einzelner Wörter oder Floskeln, die man achtlos benutzt. „Sehr interessant“, murmelte ich einmal respektvoll nach einem Konzert – und schaute in große traurige Augen. „Interessant? Nicht schön?“ – Wie hätte ich damals wissen können, dass er selbst etwas als „interessant“ zu bezeichnen pflegt, was er grauenvoll findet?

Die umfangreiche Familiengeschichte hat ihn übrigens nie sonderlich interessiert, selbst seinen bemerkenswerten Vorfahren Erzherzog Johann nahm er eher anekdotisch zur Kenntnis. Wer vor einer solchen Ahnengalerie steht, muss sich wohl in besonderem Maße auf das eigene Leben konzentrieren, damit ihn die Last der Vergangenheit nicht erdrückt. Harnoncourt hat sich über weite Strecken das konsequente Vorwärtsgehen verordnet, den Blick strikt in die Zukunft gerichtet, oder zumindest auf das nächste Abenteuer, wie Don Quijote, sein Lieblingsheld in der Literatur. In der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg, als er sich auf eigene Füße stellte, war Abhaken und Weitermachen wohl auch die Einstellung, die der allgemeinen Aufbaumentalität entsprach. Und für Abenteuer war reichlich Platz.

Den strengen moralischen Prinzipien, mit denen er aufgewachsen war, konnte und wollte er sich aber nicht verweigern. Die Auffassung von Pflicht und Verantwortung, die sein künstlerisches Tun bestimmt, ist für Außenstehende kaum nachvollziehbar. Die Redlichkeit, mit der er den Willen des Komponisten zu ergründen und ihm Rechnung zu tragen sucht, die Skrupel, die seine Arbeit stets begleiten, waren einer raschen und steilen Karriere nicht dienlich.

Dem Fernziel Mozart nahegekommen

Die Karriere war ihm auch kein vordergründiges Anliegen. Vielmehr die persönliche Entwicklung und Reifung, das eigene Lernen, das Sammeln von praktischen Erfahrungen im Kreis sorgfältig ausgewählter Mit-Streiter. Sieht man sich seinen Werdegang heute im Rückblick an, ist man verblüfft: Wie mühselig verlief sein Weg durch die Instanzen! Wie lang hat es gedauert, bis er sich erstmals an das Dirigentenpult stellte! Er ging schon auf die fünfzig zu, als er begann, mit großen Symphonieorchestern zu arbeiten, er war fast Mitte sechzig, als er sein Debüt bei den Salzburger Festspielen gab. Erst jenseits der siebzig ist sein Lebenswerk richtig aufgegangen.

Dem eingangs erwähnten „Fernziel Mozart“ ist Harnoncourt in all den Jahrzehnten auf vielfältige Weise nahegekommen. Seine Intentionen auf diesem Gebiet wurden zuletzt auf bislang unübertroffene Weise plastisch, weil er Schlüsselwerke wie etwa die Da-Ponte-Opern und die drei letzten Symphonien, Mozarts geheimnisvolles „Instrumentaloratorium“, endlich auch mit dem Concentus Musicus erarbeitet hat. Mit dem Aufbau und der konsequenten Weiterentwicklung dieses Ensembles über mehr als sechzig Jahre ist etwas gelungen, das in der wechselhaften Geschichte der historischen Aufführungspraxis einzigartig dasteht. Und wie immer die Zukunft dieser auf Harnoncourts Arbeits- und Musizierstil eingeschworenen Truppe aussehen mag – die Tondokumente bleiben und setzen Maßstäbe.

„Erreicht“ hat Harnoncourt Mozart nach seinem eigenen Verständnis deshalb freilich nicht. „Ein Ziel kann man nicht erreichen.“ In diesem Sinne ist er weiterhin unterwegs. Die musikalischen Ereignisse, mit denen er uns beschenkt, werden zwar seltener, rücken dafür zuverlässig in den Rang des Exemplarischen. Die Bedeutsamkeit der Werke, die er gegenwärtig wählt, geht zu Herzen. Abschiedsgesten.

Dreieinhalb Jahre ist es her, dass Nikolaus Harnoncourt auf die Frage, was er mit fünfundachtzig machen werde, in düsterem Tonfall brummte: tot sein. Da hat er sich jedoch gründlich geirrt. ■

Geboren 1955 in Wien. Kulturpublizistin und Dramaturgin. Bei Residenz erschienen: „Nikolaus Harnoncourt. Vom Denken des Herzens“ und (gemeinsam mit Milan Turković) „Die seltsamsten Wiener der Welt“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.11.2014)

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