Samit, 21, lebt in Marseille

„Expedition Europa“: wie ich den vielleicht vollkommensten Europäer fand.

Am Ende werde ich den vielleicht vollkommensten Europäer kennenlernen, am Anfang aber habe ich Angst. Ich streife durch Marseille-Nord, durch Wohnblockgebirge, von denen immer dann berichtet wird, wenn die regierenden Drogen-Gangs wieder einen „Kalaschnikow-Ball“ ausgerichtet haben. Der Staat wirkt abwesend, in der fahrenden Métro rauchen Jugendliche Joints, unter den unfreiwillig Mitrauchenden haben die Vollverschleierten ihren Filter schon übergezogen. Wie in keiner anderen Großstadt nehmen einander die Menschen mit wacher Aufmerksamkeit wahr. Im Bus Nummer 38, der etliche Problem-Cités durchkreuzt, rauscht die Ethnogenese des ganzen Mittelmeerraums an mir vorbei. Wenige Italiener und Spanier, viele Algerier, Tunesier. Dazu Armenier mit Nationalsymbolen und ostafrikanische Komorerinnen, die nach Süßem riechen, wie nach türkischem Honig, nach Zimt. Sie müssen das Aroma in ihrer Kleidung haben, in ihren Einkaufssackerln kann ich keine Süßigkeiten entdecken.

Eigentlich will ich nachfragen, wie sich die französischen Muslime mit den von den Franzosen so gehassten Roma-Zuwanderern verstehen. Der Taxifahrer setzt mich bei einer Abfahrt der Küstenautobahn ab, wegen der verkehrsgünstigen Lage führt die Siedlung „La Castellane“ im Umsatz mit Drogen. 50 Dealer empfangen in Dreimalacht-Stunden-Schichten, Halbwüchsige stehen Schmiere und werden mit Trainingsanzügen geschmiert.

„Ein Bürgermeister von der EU“

Das versprochene Roma-Camp kann ich nicht finden. Da wandert an der Leitplanke ein alter Berber herbei. Der Zauberfußballer Zinedine Zidane ist hier aufgewachsen, der Alte kennt die Familie. „Sein Vater hat von Zinedine eine Villa gekriegt, seitdem lassen die sich kaum noch blicken.“ Am Rande eines Kreisverkehrs weist der Berber auf eine Grube: „Da leben sie. Ich kann nichts Gutes und nichts Schlechtes über sie sagen. Alles Gute!“

Ich finde ein Camp aus teils fahruntüchtigen Wohnwagen, ein mit Metallgerümpel beladener Pritschenwagen fährt soeben ein. Mein Besuch ist kurz. Der Vorsteher erklärt mir, dass seine Leute „nicht mit Polizei und Presse“ reden. Eine Roma-Familie serbischer Herkunft will aber reden. Besonders der junge Samit, schmal und sehnig, in eng anliegender Lederjacke. Ich erfahre, dass neulich eine Delegation ins Camp kam, „ein dicker Belgier, so ein Bürgermeister von der EU, zusammen mit dem Bürgermeister vom Bezirk“. Ein paar Tage später bekamen sie Strom. Samit, 21, will seine Autobiografie schreiben. Wir gehen auf einen Kaffee.

Wir wandern lang bergauf, kein Lokal nirgends. Samit hat einen Haufen Nationalitäten: Geburt in Deutschland, die Familie serbisch-muslimisch aus dem Sandschak und dem Kosovo. Kindheit in Italien, Bruder von Auto überfahren, „seitdem habe ich diesen Sprachfehler“. Eltern getrennt, Waisenhaus in Antwerpen, belgische Kochlehre. Die erste Freundin eine Bulgarin aus Deutschland, die verlorene Ehefrau Albanerin. Jede Tragödie hat ihm eine weitere Sprache eingebracht.

Alle paar Minuten ruft aus dem Camp sein zehnsprachiger Onkel an. Sie telefonieren auf Romanes, die Sprache hätte Samit gar nicht mitgezählt. Das grausamste Kapitel in Samits Buch wird das albanische. Der Schwiegervater wollte die Waise nicht, suchte der Tochter die Liebe bei einem Hodscha-Hexenmeister auszutreiben, schlug ihr Kind im Mutterleib tot. Die Liebenden flohen einige Male, schließlich fügte sich die Tochter. Samit zeigt mir auf Facebook ein Foto von ihr, daneben der gelackte neue Schwiegersohn, der grinsende Vater. Samit hat noch viel mehr zu erzählen, nur für die Sprache kann er sich nicht entscheiden. Deutsch, Holländisch, Serbisch, Romanes, Englisch? Verleger, rührt euch! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2014)

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