Leere beim Schreiben: Das weiße Blatt

Leere beim Schreiben: Das weiße Blatt
Leere beim Schreiben: Das weiße Blatt(c) Michaela Bruckberger
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Ich muss einen Text schreiben. Ich bin viel zu spät dran. Über die Nöte und über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben.

Ich muss einen Text schreiben. Wie immer bin ich viel zu spät dran, was mir nicht schlimm erscheint, weil ich ja weiß, was ich schreiben will. Ich habe eigentlich alles im Kopf, ich muss es nur hinschreiben. Und dann ist es irgendwie weg. Ich weiß genau, was ich sagen will, aber ich weiß nicht genau, wie ich es sagen will, schon weil nicht alles in einen Satz passt.“

Die Nöte des Soziologen Armin Nassehi kann wahrscheinlich jeder bestätigen, der schon einmal versucht hat, einen Gedanken, eine Idee, eine Argumentation, eine Beschreibung, einen etwas verwickelteren Hinweis, eine Analyse zu Papier zu bringen. Man glaubt, dass man ungefähr weiß, was man schreiben will, kennt gleichsam den Inhalt und sucht nun nach einer Form, nach den richtigen Worten, nach klaren Sätzen, einer stimmigen Abfolge dieser Sätze. Und scheitert. So, als ob die Worte und Sätze, mit denenman dieses versucht, sich dagegen sperrten, nur als ein Gefäß aufgefasst zu werden, in das man seine Gedankeninhalte füllen könnte. Denken und Schreiben verhalten sich offensichtlich anders zueinander als Inhalt und Form, als Botschaft und Medium.

Ein grandioser Text Heinrich von Kleists ausdem Jahre 1805 trägt den merkwürdigen Titel „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Anhand eines Beispiels – der Rede des Grafen Mirabeau im Jahre 1789 vor den Generalständen, die in der Proklamation der Nationalversammlung endete – versucht Kleist zu zeigen, was es im äußersten Fall bedeuten kann, wenn vielleicht erst während einer Rede ein Einfall formuliert wird, der entgegen Absichten und Erwartungen alles ganz anders werden lässt. Aus einer höflichen Antwort auf eine königliche Anfrage wird dann plötzlich der Aufruf zur Revolution – durch einen Gedanken, der dem Redner erst während des Redens kommt, einen Gedanken, der in keinem Manuskript stand, den kein Ghostwriter vorgab, den niemand auswendig gelernt und dann aufgesagt hat. Kleist macht klar, was rhetorische Spontaneität in einer politischen Situation bedeuten kann: „Ein solches Reden ist wahrhaft lautes Denken. Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen nebeneinander fort, und die Gemütsakte, für eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes Rad an seiner Achse.“

Reden und Denken ergänzen sich nicht nur, finden nicht nur zu einer Übereinstimmung, sondern im Reden bilden sich die Gedanken, und im Denken formen sich Worte. Auch wenn wir in der Regel in Worten zu denken scheinen, ist die Artikulation dieser Worte nicht einfach die Verlautlichung des stumm Gedachten. Natürlich: Man kann sichetwas im Kopf so genau zurechtgelegt haben, dass man es nur noch aussprechen muss. Kleist kannte auch diesen Fall: „Etwas ganz anderes ist es, wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist. Denn dann muss er bei seiner bloßen Ausdrückungzurückbleiben, und diesGeschäft, weit entfernt ihn zu erregen, hat vielmehr keine andere Wirkung, als ihn von seiner Erregungabzuspannen. Wenn dahereine Vorstellung verworren ausgedrückt wird, sofolgt der Schluss noch gar nicht, dass sie auch verworren gedacht worden sei; vielmehr könnte es leicht sein, dass die verworrenst ausgedrückten gerade am deutlichsten gedacht werden.“ Die emotionalisierende Wirkung einer Rede – für den Redner und für seine Zuhörer – resultiert also daraus, dass die entscheidenden Gedanken erst während der Rede „verfertigt“ werden. Es ist nicht die Kalkulation, die diese Wirkung erzielt, sondern die Spontaneität, die Erregung, die sich im Sprechen als Denken erweist.

Umgekehrt: Findet man für etwas klar Durchdachtes nicht die richtigen Worte, dannmuss das, was als Ungegliedertes, Unvollständiges, Abgebrochenes, Sprunghaftes diese Rede kennzeichnen mag, nicht unbedingt Indiz dafür sein, dass vorher zu wenig überlegt worden wäre; aber das Suchen nachrichtigen Worten ist etwas anderes als die redende Entwicklung von Gedanken, dieeinen wirklich hervorbringenden, kreativen Akt darstellt.

Kleist kennt also eine Dynamik des Ineinander von Denken und Reden, von Wortund Idee, die sich nicht auf eine eindeutige kausale oder temporale Beziehung reduzieren lässt. Weder muss immer zuerst der Gedanke da sein, bevor man ihn aussprechen kann, noch geht es immer darum, für einen Gedanken das rechte Wort zu finden. Die Pointe besteht darin, dass sich im Akt des Sprechens, in der Suche nach Wörtern, in der Artikulation der Silben, in der gelungenenoder misslungenen Vervollständigung eines Satzes die Gedanken modifizieren, vielleicht überhaupt erst einstellen. Es geht geradenicht nur um den adäquaten Ausdruck für einen Gedanken, um die angemessene Verbalisierung eines fertigen Konzepts, sondern dieses wird erst im Akt der Verbalisierung fertig – oder auch nicht: Kleists Text endet mit dem natürlich nie eingelösten Versprechen „Die Fortsetzung folgt“.

Nun, wer eine mehr oder weniger freie Rede hält, wird diese Erfahrung bestätigen können – auch der Volksmund weiß davon: Ein Wort ergibt das andere, und am Ende hat man etwas gesagt, was man vielleicht gar nicht hatte sagen wollen. Die Dynamik des Redens als emotionaler und sozialer Akt, in dem abseits eines Manuskripts Raum für eine gewisse Spontaneität bleibt, die vielleicht nicht gleich zu Revolutionen, hin und wieder aber doch zu überraschenden Gedanken und damit auch Situationen führt, lebt dann auch von diesem Risiko des Unabsehbaren. Manchmal lässt man sich ja auch zu Formulierungen hinreißen, für die man sich wortreich entschuldigen muss. Und nicht immer ist das, was in dieser Spontaneität sich entwickelt, überhaupt ein Gedanke. Möglich, dass im Spiel mit den Worten ein Gedanke Gestalt gewinnt; möglich aber auch, dass diese Gestalt keine Konturen erhält und sich im Beiläufigen, Schwammigen, Unausgegorenenoder gar Unsinnigen verläuft.

Was aber bedeutet dieses Konzept, wenn man keine Rede hält, sondern eine solche, oder etwas anderes, schreiben will? Gibt esauch so etwas wie eine allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben? Im Gegensatz zur freien Rede gilt das Schreiben ja als ein kontrollierter und kontrollierender Prozess, der viel weniger Raum für unerwartete Wendungen und Entwicklungen zu geben scheint. Wer immer etwas schreibt, kann es durchlesen, korrigieren, schärfen oder entschärfen, mögliche Reaktionen antizipieren, Unklarheiten bereinigen, Sätze verknappen oder erweitern. Durch die digitalen Technologien der Texterstellung sind diese Möglichkeiten exzessiv erweitert und vor allem vereinfacht worden. Aber auch wer mit der Hand schrieb, hatte die Möglichkeit, manches durchzustreichen, zu verschieben, ein Wort durch ein anderes zu ersetzen und nach einem langen Prozess des Veränderns alles „ins Reine“ zu schreiben. Die klassischen Manuskripte und auch noch die Typoskripte des mechanischen Schreibmaschinenzeitalters erhalten ihre Aura nicht zuletzt durch diese Ein- und Umarbeitungen. Textvarianten, die im Zuge solch eines Schreibprozesses entstehen können, haben nicht zuletzt der Literaturwissenschaft einen Teil ihrer Legitimation verschafft.

Der Computer erweitert diese Möglichkeiten der Arbeit an einem Text zwar, er macht diese Arbeit gleichzeitig aber auch unsichtbar. Wenn nicht – was eher selten der Fall sein dürfte – alle Korrekturen und Veränderungen markiert und gespeichert werden, erscheint am Bildschirm jeder Text so, als wäre er in einem Zuge geschrieben worden. Wir sind – im Gegensatz zum Manuskript und zur Handschrift, die keine nachträgliche Veränderung verbergen können – inder digitalen Schreibwelt immer schon mit fertigen Resultaten konfrontiert, nie mit den Spuren, die den Akt des Schreibens – und damit vielleicht auch den Akt des Denkens – einst als Prozess sichtbar machten.

Dass Schreiben immer die Möglichkeit gibt, noch einen prüfenden Blick auf das Geschriebene zu werfen, gibt diesem Akt prinzipiell einen anderen Status als der freien Rede. Deren Spontaneität erlaubt keine Zurücknahme des Gesagten mehr, die Gedanken, die in der Rede „verfertigt“ werden, entschlüpfen gleichsam dem Mund, sind nicht zurückzuholen. Der Verbindlichkeitscharakter eines geschriebenen Textes ist dann auch von dem einer improvisierten Rede oder eines Diskussionsbeitrages zu unterscheiden. Das gesprochene Wort darf von der Flüchtigkeit leben, die es auch kennzeichnet, es wird gesagt, kommentiert, ungenau weitererzählt, verschwindet vielleicht irgendwann, außer die Situation und die Reaktionen verleihen ihm Macht und Dauer. Es ist daher eigentlich eine Unsitte, jede Rede, jede Bemerkung, die in einer Debatte fällt, festzuhalten, zu publizieren und so zu behandeln, als wäre es ein wohlüberlegter, geschriebener Text. Die Lebendigkeit und damit auch die Erkenntnismöglichkeit eines Streitgesprächs hängen davon ab, dass eben nicht jedes Wort, das in der Hitze des Gefechts fällt, auf die Waagschale gelegt wird. Übertreibungen, polemische Zuspitzungen, anzügliche Anspielungen und zynische Einwürfe dürfen dann schon einmal vorkommen, ohne dass gleich alle beleidigt sein müssen. Anders bei einem geschriebenen Text:Hier kann und muss man davon ausgehen, dass auchdann, wenn sich der Autor im Moment des Schreibens in einem emotionalangespannten Zustand befand, er sich der Unverrückbarkeit des schriftlich Niedergelegten zumindest im Ansatz bewusst war. – Auch wenn die Spuren eines Schreibprozesses und die damit verbundenen Unsicherheiten, Varianten, inneren Kämpfe am Ende getilgt scheinen, stellt sich die Frage, was diesen Prozess kennzeichnet und strukturiert. Wie werden die Gedanken im Schreiben verfertigt? Lässt der kontrollierte Schreibprozess wirkliche Spontaneität, den unmittelbaren Einfall, die situative Lust an dem, was einem gerade in den Kopf kommt, überhaupt zu?

Schreiben, zumal professionelles journalistisches oder wissenschaftliches, erscheint in unserer nüchternen Zeit eher als mechanischer Produktionsprozess denn als Mischung von Intuition und Spontaneität. Da werden Ideen, Informationen und Materialien gesammelt, Konzepte und Gliederungen erstellt, Recherchen vorgenommen, Argumente und Belege gesucht, Abschnitte strukturiert, Zitate kopiert, montiert und eingefügt, Thesen formuliert und Schlussfolgerungen gezogen. Von Schreiben in einem emphatischen Sinn als Prozess, der eine eigene Dynamik entfaltet, kann da eigentlich nicht mehr die Rede sein, lieber spricht man ja auch von Texterstellung oder Textproduktion. Für manche Textsorten hat dann auch schon der Computer mit entsprechender Schreibsoftware diese Aufgabe übernommen. Und soll das Ergebnis solcher Bemühungen eine „Präsentation“ sein, reduziert sich dieser Prozess überhaupt auf das mehr oder weniger sinnige Zusammenstellen von Bildern, Grafiken, Zitaten und Verweisen, diemit knappen Kommentaren versehen werden. Von einem Schreibfluss kann da keine Rede mehr sein. Diese Verfahren sind dann oft auch redundant und plakativ, Gedanken werden dabei kaum mehr verfertigt.

Allerdings: Es gibt – nach wie vor – ein Schreiben, durch das sich die Gedanken überhaupt erstim Prozess des Schreibens entwickeln. Dann stehtkeine Idee, keine Anregung, keine vorgegebeneFrage, keine strukturierte Projektbeschreibung, kein Satz von Textbausteinen am Anfang, sondern eine große Leere: ein noch unbeschriebenes Blatt Papier, in seiner materiellen oder virtuellen Erscheinungsform. Und diese Leere will gefüllt werden: mit einem ersten Satz. Und dieser erste Satz zeitigt den zweiten Satz. Ein Wort gibt das andere, vielleicht hat man sogar Ideen gehabt, auch was man schreiben wollte, schien klar, nun aber steht etwas ganz anderes da. Denn die Formulierung, die man gewählt hat, erträgt eine vorher anvisierte Fortsetzung einfach nicht mehr, der Begriff, den man verwendet, erfordert eine andere Argumentationals die, die man schon für stichhaltig hielt, aufgrund der Lesbarkeit, der Eleganz und desEffekts liegt es vielleicht nahe, eine andere Satzkonstruktion zu verwenden, und schon steht etwas da, was man weder gemeint noch beabsichtigt hat.

Anders als in der Rede speist sich die Dynamik des Schreibens dabei weniger vom Klang der Worte als von der Sichtbarkeit der Zeichen, ihrem Erscheinungsbild. Es steht geschrieben – das verweist immer auch darauf, wie etwas, was nun da ist, auch aussieht. Wer soeben Geschriebenes noch einmal durchliest, artikuliert nicht nur stumm die Worte, sondern lässt seinen Blick auch über diese und die Sätze streichen, es ist dieser Blick, der dann an der einen oder anderen Formulierung sich stößt, dem ein Wort nicht gefällt, der eine unvollständige Satzperiode entdeckt. Das Schreiben korrespondiert auchbeim Akteur mit dem Auge, nicht nur beim Lesenden.

Wenn der Prozess des Schreibens selbst kreativ ist, dann weiß man in dem Moment, in dem man den ersten Satz formuliert, nicht,wie der letzte Satz lauten könnte. Schreiben in diesem avancierten Sinn heißt nicht, Gedanken, Argumente, Überlegungen, Theorien in eine angemessene sprachliche Form zu bringen, sondern im Vertrauen auf die mögliche Eigendynamikdes Schreibens darauf zu bauen, dass aus dem Fortschreiben der Wörter die Gedanken und Ideen überhaupt erst entstehen. Die Voraussetzung dieses Vertrauens aber ist eine Freiheit, die den Schreibenden an keinerlei Vorgaben bindet – ein Thema mag vielleicht vage imRaum stehen, mehr muss es nicht sein. Schreiben in diesem Sinne heißt, ohne schon eine plausible Kette von Gedanken, die zu Papier gebracht werden sollten, im Kopf zu haben, dennoch die Leere einer Seite füllen zu wollen. Nicht Ideenreichtum ist deshalb der eigentliche Anspornfür eine Verfertigung von Gedanken beim Schreiben, sondern Ideenarmut. Die Hand, die Worte niederschreibt oder in eine Tastatur tippt, wird zum eigentlichen Organ des Denkens. Wer sich diesem Verfahren überlässt, wird mitunter erstaunt sein, was am Ende tatsächlich dasteht. Ohne solch eine Offenheit ist das Denken aber das Papier nicht wert, auf das es gebannt wird.

Was bedeutet dies für die Realität eines Schreibunterrichts? Schreiben ist kein linearer, einförmiger Prozess, sondern speist sich aus vielen Momenten, Anregungen, Überlegungen und Verfahren, die im ausführenden Akt selbst dann zusammengefügt und in eine Abfolge gebracht werden müssen. „Es bedarf“, so Armin Nassehi, „einer Architektur der verteilten Motive, Formen, Gedanken, um sie hinschreiben zu können – und meistens ist es ja so, dass man die Ordnung der Gedanken erst wirklich kennt, wenn man sie hingeschrieben hat.“ Man könnte nun meinen, dass es einer sinnvollen Schreibdidaktik genau um die Ermöglichung dieser Erfahrung geht – und Nassehi ist überzeugt davon, dass es gar nicht anders sein kann: „Unser ganzes Bildungssystem lebt letztlich davon, Schülerinnen und Schüler, Studierende und alle, die etwas lernen sollen, mit Selbstgeschriebenem zu konfrontieren, weil sie nur so auf die Ordnung stoßen, die in ihrem Kopf herrscht, wobei diese Ordnung nur ein Effekt des Schreibens ist und nicht das Schreiben ein Effekt der Ordnung.“

So sinnvoll dieser Ansatz wäre – er entsprichtwohl nicht mehr den derzeit herrschenden normativen Vorstellungen, die das Bildungssystem kennzeichnen. Schreiben wird in der Regel unter pragmatischen Gesichtspunkten gesehen, bei denen es genaudarum geht, bekannte Informationen oder andere Vorgaben textsorten- und adressatengerecht aufzubereiten. Eine der meistverbreiteten Formen des Schreibens im Unterricht hat mit Schreiben im eigentlichen Sinn gar nichts mehr zu tun: das Ausfüllen und Ankreuzen. Dass nicht nur im Sachunterricht, sondern auch im Sprachunterricht immer mehr mit Aufgaben gearbeitet wird, wo es nur noch darum geht, ein Wort einzusetzen, zu unterstreichen, zu ergänzen oder aus einervorgegebenen Liste eine Auswahl zu treffen, mag zwar die eine oder andere Kompetenz schulen, der Prozess des Schreibens wird dadurch systematisch sabotiert.

Das allerdings gilt nicht nur für die Erarbeitung grundlegender Fähigkeiten, sondern setzt sich auch in der Sekundarstufe, ja an den Universitäten fort. Was dabei verloren geht, ist die Fähigkeit, überhaupt ein Gefühl dafür zu entwickeln, was es heißt, zusammenhängende Sätze zu bilden, die zumindest einer basalen Logik folgen. Dass auch an Universitäten bei Klausuren immer mehr Studenten erschrecken, wenn sie erfahren, dass sie Fragen oder Themen in „ganzen“Sätzen beantworten oder behandeln sollen, zeigt dies nur allzu deutlich. Dass sich Argumente und Gedanken, Begründungen und Schlussfolgerungen nur in Sätzen, nicht in Stichworten oder vagen Begriffen darstellen und gewinnen lassen, will vielen nicht mehr so recht einleuchten. Kein Wunder, sie haben es nicht anders gelernt.

Es geht nicht darum, unterschiedliche Formen und Möglichkeiten des Schreibens – der Produktion von Texten, wie es übertrieben nüchtern heute heißt – gegenseitig auszuspielen. Aber Schreiben als organischer, durch keine Vorgaben unterbrochener Prozess, an dem die Hand ebenso beteiligt ist wie der Kopf, hat an Bedeutung dramatisch verloren. Aber, so könnte eingewandt werden, es gibt doch das sogenannte kreative Schreiben, das dieser Eigendynamik Rechnung trägt. Das stimmt wohl. Aber damit ist nur eine Nische für subjektive Befindlichkeiten etabliert, in der zwar alles, damit aber auch wieder nichts möglich ist. Nicht alles, was irgendwie zu Papier gebracht wird, ist Ausdruck einer kreativen Freiheit, die nicht selten als Vorwand benutzt wird, um sich mit dem Geschriebenen gerade nicht mehr auseinandersetzen zu müssen.

Die Herausforderung bestünde darin, dasSchreiben selbst als einen Akt des Denkens zu sehen, das sich dann auch dessen Kriterien zu stellen hätte. Es geht nicht nur um eine Kommunikationstechnik, mit der man durch bestimmte Strategien bestimmte Adressaten erreicht, nicht um eine Textsortenerstellungskompetenz, sondern tatsächlich um eine Möglichkeit, allmählich Gedanken zu verfertigen. Viel wäre schon gewonnen, wenn man dieser Variante des Schreibens im schulischen Schreibunterricht, aber auch an Universitäten hin und wieder eine Chanceeinräumte und jungen Menschen die Gelegenheit böte, ohne umfangreiche Materialien, ohne Arbeitsaufträge, ohne Gliederungsvorgaben, ohne Textsortenbeschränkung, ohne Adressatengerechtheit einfach im Schreiben einem Gedanken seinen Lauf zu lassen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2014)

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