Herr Zenon und das Chaos

Jeder vierte Erwachsene, jeder zweite Jugendliche: arbeitslos. Die Verhältnisse: trostlos. Die staatlichen Dienstleistungen: immer schlechter, immer teurer. Was jetzt? Griechenland vor der Wahl.

Zeitenspiegel im Schatten der Akropolis. Zenon von Elea, der Vater der Dialektik, erlebte 438 vor Christus mit der Vollendung desParthenon eine Sternstunde hellenischer Hochkultur. In diesem Prunktempel der Pallas Athene obsiegte die Ordnung über das Chaos, die Vernunft über den Widersinn, nicht aber über das Paradoxe – die Denkpassion Zenons. Dieser hätte heute eine traurige Freude an der neuzeitlichen Praxis seiner Lehrsätze. Zu Beginn des 21.Jahrhunderts sind Kategorien wie das „zu widerlegende kontradiktorische Gegenteil“, der „unendliche Regress“, „Rückführung ins Absurde“ nicht Gegenstand philosophischer Spitzfindigkeiten, sondern Wirklichkeiten einer verkehrten Welt.

In dieser herrschen Deregulierung, Täuschung und Gier, werden Recht und Ordnung gebeugt, kollabieren überschuldete Systeme, werden Bürger in Tilgungshaft genommen. Und mittendrin wirkt die Paradoxie extra dry: Griechenland, die Wiege der Demokratie, ist zum infektiösen Krankenlager Europas mutiert. Milliardenschwere Eurotransfers heilen nicht, sondern prolongieren die Krise. Jetzt, im nationalen Delirium, im Wirrwarr von Sein und Schein, verkünden linke wie rechte Heilsbringer – von Syriza bis Goldene Morgenröte – die Rettung von Hellas: seine Befreiung von Bürden der Troika und Schamlosigkeiten der Konzerne, von Korruption und Armutsfallen. Ist das die Verheißung eines modernen Märchens, oder blüht Griechenland gar Aberwitziges?

Die abgetakelte Politclique versucht noch letzte Volten: warnt, droht, verspricht. Wie aber soll der frustrierten Wählerschaft Absurdes als Vernünftiges erklärt werden? Sparprogramme, Lohnkürzungen, Reformansätze haben kaum gewirkt. Im Gegenteil: Trotz des Sparens steigen die Schulden, explodiert die Arbeitslosigkeit, schrumpft die Wirtschaft, sinken die Löhne, legen Eltern ihre Kinder weg, sehen Verzweifelte immer häufiger als einzigen Ausweg jenen in den eigenen Tod. Das kümmert die global agierenden Günstlinge – Milliardäre, Oligarchen, Spekulanten – wenig: Sie werden immer reicher. An diesem Sonntag soll das von Europanik und Krisenschock geplagte Volk wieder einmal an den Urnen über sein politisches Schicksal entscheiden. Unterdessen steigt die Fieberkurve – auch im bedrängten Europa.

Der Blick von oben – ob von der Akropolis, oder von dem noch höher gelegenen Lykabettos – bringt einem die Dichotomien Athens, Griechenlands näher. Der Mythos der griechischen Antike, dieser Inbegriff klassischer Vollkommenheit, überfordert das nationale Selbstverständnis des neuzeitlichen Griechenlands durch überhöhte Ansprüche. In Wahrheit leidet die junge Nation aber am Dilemma zwischen Überlegenheitsgefühl und Minderwertigkeitskomplex. Auch die goldene Ära des Perikles, in der Geist und Kultur, Ethik und Ästhetik die Politik prägten, währte keine 50 Jahre. Danach rieb sich die blühende Hochkultur mit Kriegen, Fehlspekulationen, Sittenverfall rasch auf. Es folgten 2230 Jahre Fremdherrschaft – 500 davon, bis zum griechischen Befreiungskampf 1829, unter osmanischem Diktat.

Griechen, Türken und das Jahr 1922

Griechen und Türken – das ist eine Mesalliance, ein Antagonismus der besonderen Art. Es war 1922, als Massen von Flüchtlingen und Arbeitssuchenden die damals 300.000 Einwohner zählende Hauptstadt stürmten. Der Grund: Der griechische Führer Eleftherios Venizelos erlag nach den Friedensdiktaten von Versailles und Sevrés „der großen Idee“, unter türkischer Herrschaft befindliche Gebiete Kleinasiens vom vermeintlich „kranken Mann am Bosporus“ zurückzuerobern. Die Alliierten, vor allem die Briten, bestärkten die stolzen Griechen – und tauchten ab, als diese dramatisch scheiterten: 600.000 Landsleute verloren ihr Leben. Um den Massakern zu entgehen, flüchteten Zehntausende kleinasiatische Griechen über die Ägäis nach Piräus (einer von ihnen war der 16-jährige Aristoteles Onassis).

Dieser wahnwitzige Hasard zog den „Bevölkerungsaustausch“ nach sich: 400.000 in Griechenland lebende Türken wurden gegen 1,5 Millionen Griechen aus Kleinasien getauscht. Entschädigungen für Grund und Häuser gab es keine. Dafür schwollen die Elendsviertel in Athen beängstigend an. Dem hatten die chaotisch agierenden Politiker nichts entgegenzusetzen.

Jenem selbstzerstörerischen Drama folgten statt Katharsis und Läuterung weitere Kapriolen des fanatischen Polit-Enthusiasmus: Staatsstreiche, Krisen, Intrigen – und die fixe Idee, Griechenland werde von der Welt nicht ernst genommen. Diese selbst verschuldete Katastrophe – und natürlich der unsägliche Konflikt um Zypern – nähren das antitürkische Ressentiment der griechischen Nationalseele bis heute. Und dieser paradoxe Mix aus Schuld und Angst, Hass und Irrationalität, der kostet viel, nährt den Staatsbankrott. Der Irrsinn in Zahlen: Seit 1974 importiert der Nato-Staat Griechenland jährlich 3,74 Prozent der von den USA exportierten Waffen, 5,51 Prozent der Frankreichs, 9,64 Prozent der Deutschlands. Die für Rüstung ausgegebenen Milliarden haben erheblich zur Überschuldung des Kleinstaates beigetragen. Noch 2010 betrug der griechische Rüstungsetat zehn Milliarden Euro.

Kein Wunder: Es bestehen Junktims zwischen Kredittranchen und Rüstungsdeals. Die sonst bei Sparauflagen so rigide Troika fasst das Militärbudget Athens kaum an. Während Spitäler, Schulen und Sozialsysteme unter Milliardenkürzungen kollabieren, büßt das Heer von Hellas gerade einmal 0,2 Prozent seiner Ausgaben ein. Zynische Draufgabe in der griechischen Rüstungsperfidie: Korrupte Politiker haben über die vergangenen Jahre dreistellige Millionenbeträge an Schmiergeldern eingesackt.

Geht's noch? Aber ja: Jetzt ruft Peking mit einer 6,5-Milliarden-Euro-Vereinbarung die griechisch-chinesische Freundschaft aus,verspricht Großinvestitionen im Hafen von Piräus, will auch (marode) griechische Staatsanleihen kaufen. Dafür werden gemeinsame Seemanöver inszeniert, chinesischen Schiffen wird die Zufahrt ins Mittelmeer erleichtert und griechischen Militärs im Reich der Mitte die chinesische Strategielehre verabreicht. Ach, Hellas.

Triumphe und Tragödien sind im Land der Widersprüche nationale Passionen so wie das regressive Paradoxon, von Wirkungen auf Ursachen zu schließen. Das sind riskante Leidenschaften, die ruinöse Mahnmale hinterlassen – in ihnen spiegeln sich Dilemmata verdrängter Wirklichkeiten wider.

Die Olympiastätten von 2004 sind ein solcher Ort ruinöser Offenbarung. Die größenwahnsinnige Olympiade setzte die Zäsur im griechischen Schulden-Vabanque: Ihre vierfache Kostenexplosion auf (inoffiziell) 20 Milliarden Euro verdoppelte das Haushaltsdefizit, ließ die Staatsverschuldung binnen eines Jahres von 182 Milliarden Euro auf 201 Milliarden schnellen. Heute ragen in der„O-Zone“, die manche „Sahara“ nennen, die sündteuren Konstruktionen eines spanischen Stararchitekten wie Dino-Gerippe gen Himmel, Milliardenwerte rosten vor sich hin. Wo einst Lobbyisten ein „fantastisches Natur-, Freizeit- und Sportparadies“ versprachen, wird nachts illegal Bauschutt abgekippt, hausen Flüchtlinge in Verschlägen, jagen sich Desperados den letzten Schuss in die Vene.

Die Wirkungen der Gigantomanie sind also verheerend. Wo aber liegen ihre Ursachen? Wer trägt Schuld? Was bedeutet all das für die Gegenwart?

Am Anfang des Unheils – es war mitten im fiebrig entfesselten Jonglieren mit ungedeckten Krediten, toxischem Finanz-Chunk –,2002 also geschah „die große Täuschung“ bei der Aufnahme Griechenlands in die Eurozone: Die US-Investmentbank Goldman Sachs half der Regierung in Athen, den wahren Zustand der Staatsfinanzen gegenüber der Europäischen Union zu verschleiern. Dass der heutige EZB-Chef Mario Draghi damals ein Managing Director von Goldman Sachs in London war und damit wissen musste, welch fatale Implikationen der griechische Beitritt zur Währungsunion haben würde, spricht für sich. Was soll's: Goldman Sachs ließ die griechischen Staatsschulden für die Optik um Milliarden schrumpfen und gewährte Kredite für das olympische Fest der Völker. Kassierte dafür 600 Millionen US-Dollar an Provisionen und gewährte – Kulanz muss sein – bei verdoppeltem Zinssatz bis ins Jahr 2037 eine jährliche Rückzahlungsrate von 400 Millionen US-Dollar. Sie sollte erst nach der Olympiade fällig werden.

Der unter gesetzlicher Geheimhaltung festgeschriebene Vertrag implizierte üppige Rückversicherungen im Falle der Zahlungsunfähigkeit. Dass Goldman Sachs auch gegen den Euro spekulierte, versteht sich von selbst. Oh, yeah: „We win, because you lose.“ Eine rauschhafte Ära der Sieger ward versprochen. Hellas schwamm in falschem Geld: konsumierte, produzierte wenig, lebte – wie die halbe übrige Welt – sorglos auf Pump.

Politik als nationales Lustprinzip

Dass der strategisch wichtige Brückenstaat in der Ägäis mit fremdem Geld gestützt wurde, gehörte im Kalten Krieg und nach dem Ende der Diktatur zum westlichen Kalkül. Diese Geldschwemme machte die griechische Politik verschwenderisch und korrupt. Sie neigte mit ihren Parteiflügeln, Interessengruppen, Patenschaften, Familienclans seit je zu Nervenkitzel, Tricks und Exzessen. Dabei gehört die politische Leidenschaft nicht nur in der parlamentarischen Arena zur alltäglichen Praxis: Sie war bis zur großen Pleite Teil des nationalen Lustprinzips, das mit Leistung, Produktivität und Kontrolle locker umgeht. Das kommentierten Zenon und Thukydides schon – nur im antiken Athen malochten die Sklaven zum Wohle der freien Bürger. Doch auch dort ließ der große Crash nicht lange auf sich warten.

2008 platzte die Blase. Großbanken kollabierten, Systeme, ja Staaten entpuppten sich als Potemkinsche Konstrukte – allen voran Griechenland. Fazit: Das Krisenkarussell – Schulden, Euro, Wirtschaft, Währung – rotiert bis heute. Griechenland stand vor dem Bankrott. 2010 betrug die Staatsverschuldung 146 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 2012 gewährte ein von Gläubigern und europäischen Steuerzahlern getragener 107-Milliarden-Euro-Schuldenschnitt Athen eine Galgenfrist. In Wahrheit wurden ausschließlich die Financiers der Schuldenstaaten gerettet, an die in Griechenland 77 Prozent der Rettungskredite gingen.

Doch 2014 war Hellas mit 179 Prozent des BIP, das sind 322 Milliarden Euro, in der Kreide, bezahlte jährlich sechs Milliarden Euro Zinsen. Die einheitliche Eurowährung wirkt bei dem extrem unterschiedlichen Produktionsniveau fatal, die nach Osten verschobenen Märkte erhöhen den Druck. Jeder vierte Erwachsene, jeder zweite Jugendliche ist arbeitslos. Das griechische Volk lebt im Alptraum: Die Verhältnisse sind trostlos, die staatlichen Dienstleistungen werden schlechter, weniger, teurer. Das ist Paradoxie extrem. Und jetzt? Jetzt soll das Volk mit seinen Wahlstimmen aus der Miese helfen, die Hoffnung nähren, dass mit einem radikalen politischen Schnitt alles besser wird. Es ist die Zeit der Heilsgestalten, noch dazu, wenn sie jung, smart und unerschrocken sind wie der Syriza-Anführer Alexis Tsipras. Der Linke hat Charisma, verkündet wie einst Alkibiades, der Heros der leidenschaftlichen Kurswechsel, das antizyklische Heil. Der antike Held endete zwar in der Verbannung, aber Furore machte er allemal. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2015)

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