Der Kick, und wie man ihn verwurstet

Die Ski-WM in Vail läuft auf vollen Touren. Der Kinofilm „Streif – One Hell of a Ride“ ebenfalls. Erst recht aber die Marketingmaschine der Sponsoren und „Wirtschaftspartner“. Zwoa Brettln im g'führigen Schnee oder: Der Tod ist auch nur ein Markenartikel.

Die Chefpistenarbeiter stehen auf der Streif und schauen selbstzufrieden auf das nachtdunkle, von Straßenlaternen illuminierte Kitzbühel hinunter. „Vor zwoa Tog hätt ma's no net fia meglich g'holten“, sagt einer in diesem authentischen Tirolerisch. Die anderen Bergfexe nicken und heißen ihren Chef, „schon morgen“ mit der Vorbereitung auf das Rennen im kommenden Jahr zu beginnen. Der Kinofilm „Streif – One Hell of a Ride“ handelt vom angeblich härtesten Skirennen, dem Stachanow-Sportspektakel. Erstbrachten sie Schnee per Helikopter auf die Strecke. Dann schneite es, und sie räumten den Schnee Tag und Nacht aus der Piste. Die Natur ist der größte Gegner des Menschen, die innere und die ihn umgebende.

Das Kitzbüheler Abfahrtsrennen 2015 ist vorbei, die Ski-WM in Vail, USA, läuft auf vollen Touren. Der Kinofilm „Streif – One Hell of a Ride“ ebenfalls. Die Marketingoper des Energydrink-Händlers Red Bull bläut mittels gnadenloser Wiederholungen des Einzigartigkeitsmantras dem Publikum die Schönheit des Skirasens über die Hausberg- und Todeskante ein. Der Skirennlauf und der Skiweltcup verlieren zwar weltweit neben den jungen, ungekämmten Formen des Skilaufens („Freeriding“, „Freestyle“, „Slopestyle“)und Snowboardens an Bedeutung, doch Österreichs Wintersport-Establishment ignoriert den Wandel. Und „Streif“ ist der Beweis für diese Ignoranz.

Die Ski-WM in Vail versammelt die Meute der Old School noch einmal in buchstäblich alter Frische. „Streif“ bietet die Ideologie dazu, den Phrasenkanon und die Superzeitlupenbilder vom Geschwindigkeitsrausch zwischen dreireihigen Netzen. „Keine Sekunde“ dürfe sich der Rennläufer auf der Streif erholen, heißt es, denn „die Piste gibt nicht nach“. Der Körper ist die Unbekannte, die auf jedem Meter des Wegs von dem Tiroler Hügel – der Start liegt auf 1600 Metern – ins Tal sich als zu klein für die Rechnung entpuppen kann. Die Rechnung heißt Überleben, Sieg des Menschen über die feindlichen Kräfte da draußen. Das Abfahrtsrennen wird zu einem Quasi-Schöpfungsakt der menschlichen Kultur stilisiert.

Wenn du abschwingst, weißt du, dass du überlebt hast. Didier Cuche, der fünffache Streif-Champion, und Daron Rahlves, der die Abfahrt auch schon einmal gewonnen hat, führen als Erzähler durch den Film. Er zeigt fünf Rennläufer, die sich auf die Kitz-Abfahrt 2014 vorbereiten. Um die Strecke zu meistern, bedarf es der Disziplinierung des Menschen zu einer „Rennmaschine“. Sie macht den Mann zum Mann, vor den Sieg setzen die Götter die Mühe.

Der „Streif“-Film und die Ski-WM sind medial vermittelte Volksbildungsevents. Lehrziel: Der Mensch ist für seinen Erfolg ausschließlich selbst verantwortlich. Die von denMedien eingesetzten Lehrmittel lassen freilich schaudern. Marcel Hirscher wurde vor Beginn der Weltcup-Saison auf dem Cover des „Sportmagazins“ im Schmuck seiner schwarzgeschminkten Muckis feilgeboten. Die Schminke sollte Ruß simulieren, als habe der Skifahrer im „Feuerschein des Funkenregens“(Werbeprosa des Magazins) gehackelt. Die Inszenierung zeigt den Sporthelden als Helden der Arbeit. Die Anbetung des Sportheros behilft sich mit Posen, die mangels eigener Glaubwürdigkeit den Mythenschatz anderer Lebensbereiche plündern.

Der Film von der Streif setzt hier an und geht einen Schritt weiter. Der Sport dient als Religionsersatz, Identifikationsschabloneund Gefühlssubstrat für die Konstruktion der Nation. Sponsoren oder „Wirtschaftspartner“ derFIS-WM wie Audi und der Uhrenhersteller Longines zahlen hübsche Summen dafür, um von der (begrenzten) Popularität des Skirennsports und seiner Helden zu profitieren. Sie haben freilich keinen Einfluss auf das Programm, die Gesetze des Handelns bestimmt die FIS. – Der Film von der Streif gliedert den Sport in eine fremde Ordnung ein. Er hat einer Richtlinie zu folgen: dem Marketinginteresse des Red Bull Konzerns.

Das erinnert an den Disput zwischen dem Fußballverein Rasenball (RB!) Leipzig (2. Bundesliga) und der Deutschen Fußball Liga DFL. Deren Statuten verbieten den maßgeblichen Einfluss eines Wirtschaftskonzernsin einem Klub der DFL und schreiben vor, dass der Verein auch vom Hauptsponsor unabhängige Mitglieder zulässt. RB-Hälfteeigentümer Dietrich Mateschitz warf der DFL vor, diktatorische Marotten zu pflegen, und überlegte, sich von seiner Leipziger Filiale zurückzuziehen. Doch schließlich überwog auch in seinem – wie in jedem – Fall das Marketinginteresse, und er ließ Reformen zu. Den DFL-Statuten wurde Genüge getan.

Was Red Bull mit der „Streif“ macht, ist „One Hell of a Ride“ über den Mythenschatz des Ski(renn)sports. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich in den Alpen aus der von Alpinisten und Skiläufern gepflegten Naturschwärmerei die Idee entwickelt, die Berge ließen den Menschen zu einerbesseren Ausgabe seiner selbst finden. Was für ein klasser Bursch muss erst der Mann auf„zwoa Brettln im g'führigen Schnee“ sein, dermit 120 Sachen zu Tale fährt! Der Skilauf half sogar mit, Österreich aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs wieder aufzubauen. Österreichs größter Skirennfahrer, Anton Sailer, glaubte so fest an die heilende, wenn nicht gar heiligende Wirkung seiner Tätigkeit, dass er sich selbst als einen der Geburtshelfer eines neuen österreichischen Selbstbewusstseins betrachtete.

Der „Streif“-Regisseur Gerald Salmina hatbereits einen heroischen Film abgeliefert: In „Mount St. Elias“ geht es um die angeblich längste Skiabfahrt der Welt. In unwirtlicher Natur ringen drei Männer dem Berg in unerbittlichem Kampf den Aufstieg ab. Es ist immer wieder dasselbe Mantra: Der größte Gegner des Menschen ist er selbst. Wer die Natur besiegt, muss erst sich selbst besiegen.

Salmina war „als Windsurf-Profi einerder ersten fünf Red-Bull-Sportler überhaupt“ (Zitat aus einem „Exklusiv-Interview“ auf einer RB-Plattform) und weiß, was die RB-Marketingmaschine braucht. Er verherrlicht, ohne das im Film anzusprechen und zu reflektieren, „Rivalität als heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Motivation, die die Individuen zueinander in Gegensatz bringt“. Der französische Philosoph Gilles Deleuze („Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“) arbeitete über die Kontrollmechanismen in derGesellschaft. Er sagt unter anderem, der Mensch unterliege „unentrinnbar“ – im Unternehmen, in der Schule, im Sport – dem Zwang zur Verbesserung seiner selbst – im Sport nennt man das „Leistung“, anderswo „Produktivkraft“, „Fitness“ oder„Markenwert“. – Die spektakulären und doch altbekannten Bilder trösten nicht über die erzählerische Armut des Films hinweg. Die Spannung entsteht schließlich aus einer uralten Geschichte, die der Film wahrscheinlich gegen die Absicht des Regisseurs abhandelt. Es ist die Geschichte vom Kampf des Menschen um die eigene Perfektion.

Die Konkurrenz auf dem „asketischen Stern Erde“ (Friedrich Nietzsche) treibt den Menschen fröhlich an den Rand der Selbstzerstörung. „Extremsportler“ suchen den „Kick“, der im selbstmörderisch anmutenden Sprung von einer Brücke oder dem Erklettern einer Wand im zehnten Schwierigkeitsgrad liegt. Red Bull schlachtet ihn aus und verwurstet ihn zu einer Quasi-Lebenseinstellung. Im Markenkonzept der Streif unddes Films spielt der Tod als der ultimative Gegner eine tragende Rolle. Salmina lässt ihn als Hofnarren auftreten. Über den Tod auf der Streif und im Sport zu reden hätte eine packende Sequenz im Film hergegeben. Aber Salmina nimmt ihn nicht ernst. Er kokettiert mit dem Tod, er missbraucht ihn, um die Gloriole der Sieger über die Streif noch glorioser wirken zu lassen.

Der Sport, so Peter Sloterdijk, ist das säkulare, diesseitige, lehrbare Nachfolgephänomen der religiösen Askese. Sloterdijk („Du musst dich ändern“) skizziert den Sport als Besserungsanstalt, wo sich der Mensch sozusagen zu seinem eigenen höheren Wesen einsetzt und durch stete Übung diesem Anspruch Genüge zu tun versucht. Die Ausweitung der Heroismuszone folgt dem Grundsatz: „Das Perfekte ist nie genug.“ Auf dem abgegrasten Feld der Superlative („Die Streif ist die gefährlichste Abfahrt der Welt“) braucht die Leistung, „Überwindliches zu überwinden“ (Sloterdijk), den Blickkontakt mit dem Sensenmann, um aus dem Skirennlauf noch einen neuen marketingtauglichen Aufreger herauszukitzeln.

Mit welcher Rücksichtslosigkeit und Risikobereitschaft Menschen gegen sich selbst vorgehen, zeigt das Beispiel des Hans Grugger. Der Skirennfahrer stürzte im Training zur Kitzbüheler Abfahrt 2011 vor dem Ziel schwer und erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. Eine Verletzung, die den Menschen für immer verändert. Doch der Passage folgt kein Diskurs über die Todesgefahr und das Meistern des Unmöglichen. Stattdessen Athletengerede vonder „Unsterblichkeit“ des Siegers.

Woher das kommt? Sloterdijk stellt den modernen selbstdisziplinierten Menschen und den Athleten im Besonderen in die Nähezum „guten Kampf“, den die christlichen „Glaubensathleten“ im Stadion liefern mussten. Und er zitiert aus der Trostschrift „Ad Martyros“ des Nordafrikaners Tertullian an seine im Kerker darbenden Glaubensbrüder: „Euer Siegeskranz ist die Ewigkeit.“ Salmina aber bleibt brav im engen Schlauch der Spektakelreportage und lädt seine Botschaft mit Wiederholungen der Stürze von Hans Grugger, Daniel Albrecht und anderen auf. „Wem heit net schlecht ist, der kaun ka Guada sein“, sang Wolfgang Ambros über den Heurigen. Salmina verwurstet die Streif zum Heurigenerlebnis, Superzeitlupenbilder hin, Highspeedkameras her. Die Konsumation des Films funktioniert wie ein Besuch beim Wirten, die Wirkung des Alkohols beeinträchtigt verlässlich Kritikfähigkeit und Diskursbereitschaft.

Da Salmina die (Film)Sprache fehlt, über die in jahrzehntelanger Arbeit aufgeladene Akrobatik und den drohenden Schritt in die größtmögliche Passivität, den Tod, zu erzählen, redet er in Schablonen. Hannes Reichelt, der das im Film geschilderte Rennen schließlich gewinnen wird, soll dem Heroismus ein Gesicht geben. Doch der unter unerträglichen Rückenschmerzen Leidende ist sogar als Sieger ein Bild des Jammers. Oder Hans Grugger. Der Ski-Märtyrer kehrt auf die Streif zurück und versucht, sein Leben zusammenzusetzen. Salmina zeigt den zertrümmerten Sportler auch im Krankenhaus. Entweder handelt es sich hier um einen Übergriff in die Sphäre eines kranken Menschen. Oder um einen späteren Nachbau des Spitalsaufenthalts, also ein (nicht deklariertes) Fake.

Salmina zeigt damit unfreiwillig den springenden Punkt des Films und der Red- Bull-Marketingstrategie. Spitzensport als Selbsterhöhungssystem des Menschen magfrivol erscheinen, doch er erzeugt immerhin durch den Willen zur „Eroberung des Unwahrscheinlichen“ Sinn oder zumindest Ernsthaftigkeit. Die „Streif“ reduziert dieProtagonisten dieses Strebens auf die Rolle von Tanzbären. Der Film predigt den Wein der Ergriffenheit und liefert das abgestandene Wasser des Nervenkitzels. Wer über die Streif rast, tut das freiwillig und in Kenntnis der Konsequenzen, im Guten wie im Bösen. Wer sich den Film anschaut, wird unfreiwillig Zeuge, ja Geisel der Opferung großer Mythen und Erzählungen auf dem Götzenaltar der Konsumgüterindustrie. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2015)

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