Die Hefte des Lebens

25 Studios zählt Roms Cinecittà, aber nur eines, das größte, war Federico Fellinis Heimstatt. Studio fünf: wie man seine Nächte zu Filmen macht.

Cinecittà, die Stadt des Kinos, liegt vor den Toren von Rom, ein 40 Hektar umfassendes Areal nahe der Endstation der Metro-Linie A. „Das Hollywood am Tiber“ wurde Cinecittà in den 1950er-Jahren genannt, als Monumentalfilme wie „Ben Hur“ und „Kleopatra“ und Romanzen wie „Ein Herz und eine Krone“ unter unglaublichem Aufwand an Stars und Statisten in aufwendigen Bühnenbildern und an Originalschauplätzen in Rom gedreht wurden.

„Das ist das Set des antiken Roms, eine Reproduktion des Forum Romanum, die im Jahr 2004 für eine amerikanische Fernsehserie geschaffen wurde. So sah Rom vor 2000 Jahren aus.“ Die Französin Sarah Lahouasnia lebt in Rom und arbeitet in der Filmstadt Cinecittà. Sarah Lahouasnia spaziert mit den Besuchern durch die Kulissen, in welchen zwei Jahre lang gedreht wurde. Das gesamte Set mit Forum Romanum und Suburra, den Armenvierteln des alten Roms, erstreckt sich über vier Hektar. Der Tempel der Venus, jener des Jupiter und die Basilika Julia, das Versammlungsgebäude des römischen Senats – in Cinecittà wirkt das alte Rom brandneu.

Gleich um die Ecke beim Forum Romanum ist eine Straße aus Paris nachgebaut, die einer Produktion zuvor schon als New Yorker Location gedient hat, erzählt Sarah Lahouasnia und führt in ein legendäres Studio von Cinecittà, in das Studio Nummer fünf. In der riesigen Halle sind Arbeiter mit dem Aufbau eines Bühnenbildes beschäftigt. Das Studio Nummer fünf ist das größte Studio Europas. „Viele Jahre lang war dies der Tempel von Federico Fellini“, sagt Sarah Lahouasnia. „Hier drehte er den Großteil seiner Filme, und hier war sein persönlicher Bezugsort, denn Fellini lebte auch hier drinnen.“ Fellini hatte oben im Studio eine Wohnung. Zwischen zwei Filmen blieb er im Studio, um Inspiration zu bekommen, sich neue Drehbücher auszudenken und neue Geschichten zum Leben zu erwecken.

Das Areal von Cinecittà ist von Mauern umgeben, durch das Portal durften bis vor wenigen Jahren nur ausgewählte Besucher schreiten. Im Laufe der Zeit langten jedoch in Cinecittà unzählige Anfragen von Menschen ein, die die Studios besuchen wollten, und so entschloss sich das Management, die Filmstadt zu öffnen. Die Nachfrage war riesig, in den ersten zehn Tagen kamen bereits 10.000 Besucher, erzählt Giuseppe Basso, Vizedirektor von Cinecittà. „Am Tag der Öffnung, dem 28. April 2011, 74 Jahre nach der Eröffnung der Studios, regnete es in Strömen, gearbeitet wurde hektisch bis zum allerletzten Moment, doch das Fest war glanzvoll.“ Durch das weitläufige Gelände führt ein auf die asphaltierten Wege gepinselter roter Teppich. Auf dem roten Teppich werden die Besucher durch die Filmstadt geleitet.

Ein Kopf für Fellini

Das Portal von Cinecittà, das alte Restaurant, die Palazzina Blasetti, die Palazzina della Direzione, die Palazzina Presidenziale und die Palazzina Fellini – alle Gebäude, die im Eingangsbereich zu sehen sind, wurden schon im Jahr 1937 errichtet, nach nur 346 Tagen Bauarbeiten. Sämtliche Gebäude von Cinecittà stehen heute unter Denkmalschutz. „Dort vorne sehen wir den Kopf von Venusia – so nannte ihn Fellini. Dieser Kopf wurde für den Film ,Fellinis Casanova‘ im Jahr 1976 verwendet“, sagt Giuseppe Bassi. „Man kommt in die Filmstadt mit den Worten im Kopf, mit einem Traum.“ Die Entstehung eines Filmes soll imaginiert werden beim Besuch von Cinecittà. Im Ausstellungsbereich, der die Geschichte der Filmstadt verdeutlicht, wird aus berühmten Drehbüchern zitiert, „Ludwig“ von Visconti, „Medea“ von Pasolini, „Es war einmal in Amerika“ von Sergio Leone, „Der Tiger und der Schnee“ von Roberto Benigni. Mit den Zitaten wird eingetaucht in die Welt des Films.

Im ersten Teil der Ausstellung sind Originalkostüme zu sehen. Gewänder aus dem Film „Die Passion Christi“, der in Cinecittà gedreht wurde, sind ebenso zu bewundern wie Elizabeth Taylors Kleid als Kleopatra und Richard Burtons Marcus-Antonius-Outfit. Man sieht Silvana Manganos elegantes weißes Kleid aus „Tod in Venedig“ und Anita Ekbergs tief dekolletiertes schwarzes Abendkleid, mit dem sie in „La Dolce Vita“ in den Trevibrunnen tauchte, ebenso die Kostüme aus „Ginger und Fred“ für Giulietta Masina und Marcello Mastroianni. Insgesamt wurden in Cinecittà schon mehr als 3000 Kinofilme produziert. In der Filmstadt wurden die großen amerikanischen Stars als internationale Mythen konstruiert. Nach der großen Zeit des „Hollywood am Tiber“ brach die Ära der Spaghetti-Western mit Sergio Leone und Clint Eastwood an.

Von den 1970er-Jahren bis in die 1980er war Cinecittà Federico Fellinis zweites Zuhause. Danach begann für Cinecittà eine Krise, die einige Jahre lang dauerte. Cinecittà begann sich dem Fernsehen zu öffnen. Ab 1997 ging es wieder bergauf, Cinecittà wurde privatisiert. Die großen amerikanischen Produktionen kehrten zurück: Martin Scorseses „Gangs of New York“ und weitere 40 große internationale Filme wurden seither produziert und 40 Millionen Euro investiert, erzählt Maurizio Sperandini, der technische Direktor von Cinecittà. Über insgesamt 25 Studios verfügt Cinecittà an all ihren Standorten, etwa 250 Menschen arbeiten an einem Film. 40 Millionen Euro im Jahr beträgt der durchschnittliche Umsatz, den Cinecittà vorwiegend mit internationalen Produktionen erwirtschaftet. Die Filmstadt werde daher stark von der internationalen Politik und Wirtschaftbeeinflusst, meint Sperandini.

Für ihn, der seit dem Jahr 1989 als technischer Direktor in Cinecittà werkt, hat sich von allen Tagen seines Dienstes jener Sonntag, an dem Federico Fellini starb, am tiefsten in seiner Erinnerung eingeprägt. Sperandini und die anderen Direktoren von Cinecittà versammelten sich nach dem Erhalt der Todesnachricht umgehend in Cinecittà und beschlossen, Fellinis Leichnam im Studio fünf aufzubahren. Ein Strom von Menschen erwies Fellini in „seinem“ Studio die letzte Ehre. Ein Dokumentarfilm von Sergio Zavoli, seinem Freund, den Fellini täglich anrief, um ihm seine Träume der Nacht zu erzählen, zeigt das tränenüberströmte Gesicht von Giulietta Masina, der Schauspielerin, die Fellini kennenlernte, als sie seine Texte im Radio las, und die 50 Jahre mit ihm verheiratet war.

Eleonora D'Agostino ist Römerin und Psychoanalytikerin. Sie empfängt in ihrer Wohnung in Parioli, einem edlen Wohnviertel von Rom. Die über 80-jährige Frau mit dem feinen grauen Haar sitzt an einem großen Schreibtisch, hinter ihr eine Bücherwand. Die breite Fensterfront gibt den Blick auf eine begrünte Terrasse und über das Häusermeer von Rom frei. „Die formgebende Kraft, aus welcher Fellini schöpfte, bestand in der Tatsache, dass er sich selbst nie verraten hat. Die große Stärke von Ernst Bernhard bestand darin, sich auf die Suche zu begeben, sodass jeder seiner Klienten seinen passenden Lebensausdruck finden konnte.“ Ernst Bernhardwar Fellinis Psychotherapeut und Analytiker. Der 1896 in Berlin geborene Bernhard wurde aufgrund der NS-Rassengesetze verfolgt. Er flüchtete zunächst nach London und dann nach Rom. Dort praktizierte er 30 Jahre lang als Therapeut nach C. G. Jung. Ernst Bernhard wurde zum Psychotherapeuten der Intellektuellen in Rom. Viele von ihnen berichteten begeistert von ihrer Analyse bei Bernhard. Neben Federico Fellini waren das unter anderen Natalia Ginzburg und Giorgio Manganelli.

Legendär ist das Studio von Ernst Bernhard in der Via Gregoriana 12, nahe der Spanischen Treppe mit weitem Blick über Rom. „Die Handlung von ,Otto e mezzo‘ erzählt Fellinis eigene Geschichte“, sagt Eleonora D'Agostino. „Bernhard war es gelungen, Fellini seine ganze psychologische Verfassung zum Ausdruck bringen zu lassen, und zwar in den Bildern seiner Filme und im Buch der Träume. Fellini stand in Kontakt mit dem, was C. G. Jung ,Anima‘ nannte.“ Eleonora D'Agostino unterzog sich nach ihrem Medizinstudium in den 1960er-Jahren bei Ernst Bernhard einer Lehranalyse. Bernhard brachte ihr bei, Träume zu deuten und alle Begebenheiten des Lebens wahrzunehmen, die für die Psyche von Bedeutung sein können. Nach Bernhards Tod kam Fellini regelmäßig zu ihr. Mit ihr sprach er offen über sein Seelenleben, über seine Ängste, seine Lügen und seine Wahrheitssuche.

„Ernst Bernhard bewahrte alles auf. Er bewahrte die Hefte von allen Patienten auf“, sagt Gianfranco Angelucci, ein enger Freund Fellinis. „Die Hefte von Federico gibt es nicht, sie sind nicht da. Es wurde eine große Suche durchgeführt, mit der Schwester der Frau von Bernhard, die alles geerbt hat. Sie lebte in Österreich. Inzwischen ist sie wohl gestorben. Die Hefte sind nie aufgetaucht.”

Fellini führte die Psychoanalyse in die italienische Gesellschaft ein. In seinen Filmen finden sich eine Vielzahl von Symbolen aus Träumen. Anita Ekberg im Trevibrunnen, Anita Ekberg im Priestergewand – beide einprägsamen Sequenzen aus „La DolceVita“ – bezog Fellini aus dem Chronikteil römischer Tageszeitungen. Die hatten Fotos derschwedischen Schauspielerin, badend im Brunnen und als Priesterin verkleidet, veröffentlicht. Fellini verfilmte diese Bilder.

Der Fall Wilma Montesi

Auch der Schluss von „La Dolce Vita“ ist eine Verschlüsselung des Tagesgeschehens. „Was den Fall Wilma Montesi betrifft, so lautet die Botschaft von Ernst Bernhard: Symbole können sich in der Wirklichkeit manifestieren“, sagt Eleonora D'Agostino. „Es kann sein, dass der Fall Wilma Montesi ein unmittelbarer Auslöser für ,La Dolce Vita‘ war. Alles kann bedeutsam sein. Das ist der grundsätzliche Inhalt von Bernhards Botschaft.“ Wer war Wilma Montesi? Um dem Hinweis der Psychoanalytikerin nachzugehen, ist dem Fotoarchiv von Marcello Geppetti ein Besuch abzustatten. Andrea Dezzi ist der Kurator der privaten Ausstellung, die aus dem Fotoarchiv von Marcello Geppetti die Zeit von „La Dolce Vita“ rekonstruiert. Geppetti ist das Vorbild für Fellinis sensationsheischenden Fotografen Paparazzo. Später entwickelte sich Geppetti jedoch zum seriösen Fotoreporter. Seine Bilder sind in der Nähe der Stazione Termini ausgestellt.

„Fast niemand weiß, dass die Handlung von ,La dolce vita‘ auf den Tod eines jungen Mädchens anspielt, welches in der letzten Szene des Films aus dem Meer gezogen wird. Der riesige Fisch am Ende von ,La Dolce Vita‘ ist ein Sinnbild für die Leiche von Wilma Montesi“, erläutert Andrea Dezzi, der Kurator der Ausstellung. Das junge Mädchen Wilma Montesi war kaum bekleidet und leblos am Strand bei Rom gefunden worden. Über einen Bildschirm im Geppetti-Museum flimmert die letzte Szene von „La Dolce Vita“. Die Augen des toten Fisches sind zu sehen und die Meute von Strandschwärmern, unter ihnen Marcello Mastroianni als Protagonist, die den furchtbaren Fang umringen. Wilma Montesi war in der seichten Meeresbrandung am Strand ertrunken. Die Besucher eines mondänen Festes hatten das Mädchen mit Drogen und Alkohol betäubt. Fast nackt war das Opfer einer moral- und gewissenlosen Gesellschaft am Strand dem Meer und dem Tod überlassen worden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2015)

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