"Unsere Schule pflegt die Gesunden und wirft die Kranken hinaus"

Eine Replik von Harald Walser, dem Bildungssprecher der "Grünen", auf Ernst Wirthensohns Empörung "Wann wehren wir uns endlich!".

Ernst Wirthensohn ist sauer. In der „Presse“ beklagt er ausführlich die „Bildungsdemontage“ in Österreich. Das Hauptübel aus seiner Sicht: die angebliche Geringschätzung des Gymnasiums. Die Schuld sieht er in der Bildungspolitik der letzten Jahre: die missglückte Zentralmatura, Sparpakete, schlechte Lehrpläne und natürlich – als Krönung der Misere – die Gesamtschule. Die gibt’s zwar noch nicht, schädigt das Bildungssystem aber quasi schon vorauseilend.

>>> Replik zur Replik: Ernst Wirthensohn antwortet

Ich sei einer jener „Geister“, „die die Abbruchbirne“ gegen das Gymnasium schwingen. Danke, immerhin viel Ehre für einen Oppositionspolitiker. Eh klar: Elisabeth Gehrer, Claudia Schmied und Gabriele Heinisch-Hosek haben folgsam immer das umgesetzt, was ich ihnen vorgeschlagen habe!

Bleiben wir sachlich: Die Wohlmeinenden, die den Fortbestand des traditionellen achtjährigen Gymnasiums als bürgerliche Errungenschaft des 19. Jahrhunderts und als Hort der humanistischen Allgemeinbildung verteidigen, haben nicht begriffen, dass sich unsere Gesellschaft radikal verändert hat. Etwa ein Viertel von Österreichs Schülern und Schülerinnen hat Migrationshintergrund.

Durchschnittlich, wohlbemerkt: Wir wissen, dass die konkrete Verteilung in vielen Klassen nicht diesem Durchschnitt entspricht. Es war schon immer ein Problem, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten ungeachtet ihrer tatsächlichen Potentiale vornehmlich in den Haupt- und Sonderschulen landeten. Das wird nun durch die Zuwanderung von Familien mit nichtdeutscher Umgangssprache sehr viel deutlicher, als es bislang der Fall war. In einem 1970 erschienenen Buch formulierten Schülerinnen und Schüler einer Reformschule in Italien einen bemerkenswerten Satz: „Unsere Schule ist wie ein Krankenhaus, das die Gesunden pflegt und die Kranken hinauswirft.“ An dieser Diagnose hat sich in Österreich bis heute wenig geändert.

Davon bemerkt Kollege Wirthensohn in der Bibliothek seines Gymnasiums freilich kaum etwas. Denn wer ins Gymnasium gekommen ist, hat es meist geschafft: weniger durch Talent und Fleiß, sondern durch die Tatsache, dass bei uns vielfach die Herkunft darüber entscheidet, welche Wege nach oben geöffnet oder verschlossen sind. Das achtjährige Gymnasium als „altehrwürdige“ Institution ist seit dem 19. Jahrhundert eine Bewahrungsstätte für privilegierte Kinder. Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass in Österreich Bildung vererbt wird. In Ländern mit Gesamtschulen hingegen – auch das wissen wir inzwischen seit vielen Jahren – ist die Chance für Kinder, einen höheren Bildungsgrad als ihre Eltern zu erlangen, um ein Vielfaches größer als in Österreich. Es geht bei der Forderung nach einer gemeinsamen Schule für die Zehn- bis Vierzehnjährigen also nicht um die „Demontage“ eines vermeintlich erfolgreichen Systems, sondern um die Auflösung einer Struktur, die so etwas wie Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit verhindert. Dass von einer modernen Gemeinsamen Schule letztlich alle profitieren und sie auch keine Nivellierung nach unten bedeutet, belegen die erfolgreichen Bildungssysteme von Südtirol bis zu den skandinavischen Ländern.

Den Niedergang der bislang durch die Gymnasien angeblich abgesicherten „humanistischen Allgemeinbildung“ in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Gemeinsamen Schule zu bringen, mag zwar rhetorisch Wirthensohns Anliegen dienlich sein, ist aber reichlich absurd: Wie soll denn etwas, was bekanntermaßen noch gar nicht existiert, jetzt schon seine negativen Wirkungen entfalten?

Unser Bildungssystem ist veraltet. Auch wenn die diversen Untersuchungen der OECD wie PISA oder die Erhebungen durch PIRLS und TIMSS die Verfechter des alten Schulsystems kaum zu überzeugen vermögen: Ob in der Volksschule oder bei den 15-Jährigen, Österreichs Daten sind durchwegs schlecht. Jeder Vierte erreicht die Mindeststandards nicht. Wer das nicht glaubt, soll sich in Betrieben erkundigen, die Lehrlinge ausbilden, oder BHS-Lehrkräfte über ihre Erfahrungen in den ersten Klassen befragen. Und die westlichen Bundesländer sind entgegen weitverbreiteten Mythen noch schlechter als der österreichische Durchschnitt: Nordtirol verzeichnet beim Lesen fast doppelt so viele 15-Jährige im Risikobereich (31 %) wie der deutschsprachige Teil Südtirols (15,9 %), wo es bekanntlich seit 50 Jahren eine Gesamtschule gibt.
Und die Spitze, die ja in unseren Gymnasien ausgebildet werden sollte? Auch da sind die Südtiroler weit vorne, genauso wie andere Länder mit einem modernen Gesamtschulsystem: Die Finnen beispielsweise bringen gleich dreimal so viele Jugendliche in den Spitzenbereich wie Österreich.

In vielem hat Wirthensohn recht: Auch ich sehe zahlreiche Entwicklungen sehr kritisch – ob es sich nun um die halbherzige Oberstufenreform handelt oder um die vertanen Chancen bei der neuen Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer, von der verbürokratisierten Implementierung der an sich begrüßenswerten „Zentralmatura“ ganz zu schweigen.
Hysterische Beschwörungen des Untergangs des Abendlandes bringen uns nicht weiter. Der Widerstand gegen den Zukunftsraub im Bildungsbereich hingegen ist notwendig: gegen den Reformstillstand, gegen die Budgetkürzungen in den Schulen, gegen das sträfliche Vernachlässigen des Kindergartens und gegen die fortwährende Aushungerung unserer Universitäten. Wir brauchen ein Bildungssystem, in dem Chancengerechtigkeit mehr ist als ein Wort, das sich auf den Wahlplakaten und in den Sonntagsreden der Regierungsparteien findet.
Wirthensohn zitiert die Marseillaise, um zum Aufstand gegen die erratische Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte zu rufen. Ich fürchte, Johann Wolfgang von Goethe wird ihn nicht trösten: „Unsere Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfingen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen.“ So steht es in den 1809 erschienenen „Wahlverwandtschaften“.

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