Der Blick durch die Brille einer alt gewordenen Ideologie

Ernst Wirthensohn zur Replik von Harald Walser.

Es war zu erwarten, dass Harald Walsers Ideologiereflex gleich anspringt, wenn er etwas von „Gesamtschule“ liest. Alt gewordene Marxisten, die nach wie vor ihre rostroten Hüte verkaufen wollen, glauben – auch nach den Erfahrungen der neueren Geschichte – immer noch, dass Gleichheit wichtiger ist als Freiheit.

Ich will auf einige Denkfehler von Walser hinweisen:

1) Ich habe nichts davon geschrieben, dass die Gesamtschule das Bildungssystem „vorauseilend schädigt“, sondern auf die Tatsache hingewiesen, dass es nicht selten betuchte Eliten sind, welche die Gesamtschule fordern, gleichzeitig aber ihre eigenen Kinder in sündteure Privatschulen schicken. Walser weiß, dass er diese ideologische Doppelmoral unterstützt und schweigt deshalb dazu.

2) Ich gebe allerdings zu, dass ich die Einführung der Gesamtschule für eine gefährliche Drohung halte. Aber nicht, weil ich „nichts begriffen habe“ (Walser), sondern weil mir klar ist, dass eine Gesamtschule nur dann Sinn ergibt, wenn sie mit einer komplexen Binnendifferenzierung und einem sehr effektiven Fördersystem ausgestattet ist. Dies sowie die Umstellung auf das neue System kostet einerseits viel Geld, das derzeit schlicht nicht verfügbar ist, wie die Sparpolitik an den Schulen beweist; andererseits erfordert so ein Paradigmenwechsel eine hocheffiziente Schulverwaltung. Der Gedanke, dass das bewährte System von Gymnasium und Mittelschule abgeschafft und durch einen Schultyp ersetzt wird, der von Bildungsinstituten wie dem BIFIE aufgesetzt wird, müsste auch Harald Walser Sorgen bereiten – mit dem Schlimmsten wäre zu rechnen.

3) Für Walser ist – ach wie schrecklich! – das achtjährige Gymnasium „eine bürgerliche Errungenschaft des 19. Jahrhunderts“ und – igitt! – ein „Hort der humanistischen Allgemeinbildung“. Abgesehen davon, dass ich diese Merkmale nicht für verachtenswert halte, sehe ich auch noch andere Vorzüge dieser Bildungsanstalt: Das Gymnasium ist eine moderne, zeitgemäße Schule, die den Kindern eine breit gefächerte Bildung ermöglicht; der humanistische Hintergrund ist sein besonderes Qualitätsmerkmal und die Basis für den Schwerpunkt Sprachen. Genau das ist es, was sich die Eltern wünschen.

4) Es war in keiner Weise „immer schon ein Problem, dass die Kinder aus unteren sozialen Schichten in den Haupt- und Sonderschulen landeten“, wie Walser verallgemeinert. Gute Volksschullehrer haben talentierten Kindern allezeit den Weg gewiesen und tun das heute noch. Mein Vater, ein einfacher Arbeiter, starb, als ich eben eingeschult wurde. Meine Mutter, bis dahin Hausfrau, arbeitete dann als Hilfskraft in einer Fabrik. Ich konnte trotzdem studieren – so wie meine Klassenkollegen im Gymnasium, die nahezu alle Kinder sehr einfacher Leute aus Vorarlberger Talschaften waren. Auch dieser Befund Walsers ist ideologisch akzentuiert, das Gymnasium hat niemals Chancengleichheit verhindert, sondern gegenteilig Kindern aus unteren Schichten den Aufstieg ermöglicht. Das ist auch jetzt so: Wir haben zahlreiche Kinder türkischer Arbeiter an unserer Schule und freuen uns über jeden jungen Menschen mit emigrantischem Hintergrund, der sich mit Ablegung der Matura endgültig emanzipiert und zum Vorbild für diese Schicht wird.

5) Südtirol ist tatsächlich ein gelobtes Land, was die Leseförderung betrifft, weil das Land sehr viel in diesem Bereich investiert. Hier werden Schulbibliothekare hauptamtlich (!) angestellt, während in Österreich die Ressourcen dafür knapp gehalten werden. Ich teile mit einem Kollegen wenige Unterrichtseinheiten als Schulbibliothekar, und es ist schon angekündigt, dass die Lehrer aus den Bibliotheken abgezogen und durch billigeres Sekretariatspersonal ersetzt werden sollen. Mit der Gesamtschule hat die bessere Lesefähigkeit der jungen Südtiroler sehr wenig zu tun.

6) Betreffend Finnland: Dieses Land ist tatsächlich ein schulisches Paradies, aber hauptsächlich für die Lehrer, die sehr gut bezahlt sind, gesellschaftlich hohes Ansehen genießen und bei einem sehr geringen Emigrantenanteil kaum Schüler haben, welche die Unterrichtssprache nicht beherrschen und die OECD-Statistiken belasten. Für die Schüler scheint das weniger zuzutreffen, das walsersche Paradies scheint auch Höllenzonen zu beherbergen: die Zufriedenheit der Schüler ist deutlich geringer als bei uns, Suizidraten und Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen sind erschreckend hoch.

7) Ich möchte Harald Walser nicht unterstellen, dass er im Parlament sitzt und dort nur Däumchen dreht. Mit gleichem Respekt möge er davon absehen, mir zu unterstellen, dass ich in der Bibliothek meines Gymnasiums „kaum etwas davon bemerke“, wie es um die Situation der Gesellschaft steht. Der bei weitem überwiegende Teil meiner Tätigkeit besteht darin, in Klassen bis zu 29 pubertierenden Schülern zu stehen und Unterricht zu halten. Dass dies Knochenarbeit ist, hat er in seiner Zeit als Politiker womöglich schon vergessen, und dass ich über die Welt der Emigranten vielleicht ein wenig besser Bescheid weiß als er, dafür sorgen meine Schülerinnen und Schüler, die schöne fremde Namen tragen wie Deniz, Özge, Yusuf, Shawn, Riccardo, Mladan, Aleksandar, Malika, Mariye, Yaren, Merlin oder Lamine. Diese Jugendlichen würden Walser etwas pfeifen, wenn er ihnen das Gymnasium als eine „Bewahrungsstätte für privilegierte Kinder“ verkaufen wollte.

8) Bildungsbürgertum scheint doch etwas Schönes zu sein, wenn man einen hehren Dichterspruch von „Johann Wolfgang von Goethe“ (ja – sogar mit Adelstitel!) hinaushängen kann. Aber es wäre ehrlicher gewesen, Walser hätte das ganze Zitat gebracht, das heißt: »Es ist schlimm genug,« rief Eduard, »daß man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.« - Ziel der Schule sollte es wohl sein, nicht nur „Moden“ und „Lifestyles“ nachzulaufen, sondern Grundwissen, Einsichten und Werte zu vermitteln, die ein ganzes Leben lang Bestand haben. Neues müssen wir ohnehin noch genug dazu erwerben. Wenn man das Zitat nicht unzulässig verkürzt, tröstet es sehr wohl.

9) Zum Schluss noch ein besonderes Bonmot Walsers: „Hysterische Beschwörungen des Untergangs des Abendlandes bringen uns nicht weiter.“ - Nach dem Lesen solch einer Phrase kann man nur sagen: Goethe tröstet immer, zumindest sprachlich.

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