Wenn der Kuckuck ruft

Wien, Winter 1945. Die meisten Schulen geschlossen, Theatersperre, das Geheul der Sirenen, die Keller, der 12. März, der Philipphof, die Toten. Ich war ein Bub. Erinnerungen, Erinnerungen.

Wenn der Kuckuck ruft, ist es Frühling. Normalerweise jedenfalls. Aber er kann auch ein Gauner sein, der Kuckuck. Er legt seine Eier in fremde Nester. Eine dritte Bedeutung dieses auch bei uns heimischen Vogels kannte ich nicht – bis 1944 jedenfalls. Da hörte ich ihn auch aus dem Radio rufen. „Der Reichssender Wien schaltet nun ab“, sagte dann der Sprecher. Die Hörerinnen und Hörer – von Ersteren gab es viel mehr als von Letzteren – mögen die Einstellung auf den Apparaten ändern und auf den „Drahtfunk“ übergehen.
Drahtfunk: Das war jener Sender, der von feindlichen Flugzeugen nicht empfangen werden konnte; so jedenfalls hatte man es mir erklärt, mir, dem damals elfjährigen Gymnasiasten, wohnhaft in der Schönbrunner Straße in Margareten. Der Ruf des Kuckucks aus dem Lautsprecher war kein Zeichen eines allenfalls verfrüht anbrechenden Wonnemonats, wie es in der damaligen Diktion geheißen hat. Er hatte auch in diesem Fall nichts mit Wonne zu tun, ganz im Gegenteil. Es war eine Luftlagemeldung. Ich hatte sie seit dem August 1943 – damals sind erstmals Bomben auf eine Stadt der „Ostmark“ gefallen, nämlich auf Wiener Neustadt – anfangs relativ selten, später häufiger und ab der zweiten Jahreshälfte 1944 täglich gehört.
„Kampfverband im Anflug auf Kärnten/ Steiermark“, hieß es dann. Wenn der Kuckuck rief, wussten wir: Jetzt wird's Zeit. Die Schulen, soweit noch in Unterrichtsbetrieb, setzten ihre Insassen ins Freie. Die Geschäfte schlossen. In den Wohnhäusern holten die Menschen ihr Luftschutzgepäck aus dem Kasten, jene Koffer, die man zur Hand haben sollte, um für den Fall, dass man im Keller verschüttet würde, über Notverpflegung zu verfügen.
Wien, Winter 1945. Jänner, Februar, März vor 70 Jahren. Erinnerungen eines Buben, dessen Eltern sich, was er nicht wusste, 1938 geweigert hatten, ins Ausland zu gehen. Nach Australien, wie ein jüdischer Freund meines Vaters dringend geraten hatte. Nein, es wird schon nicht so arg werden. Und das Geschäft, nicht wahr – hätte man das verkaufen sollen, zusperren, im Stich lassen? Wir blieben. Mein Vater hat das Kriegsende nicht überlebt. Aber das ist wirklich eine ganz andere Geschichte.
Wir blieben – wenn auch nicht bis zum Ende. Den „Kampf um Wien“ habe ich nicht miterlebt. Am 31. März 1945, dem Karsamstag, haben wir Wien verlassen. Mir blieben die Erinnerungen. Sie waren drastisch genug. Erinnerungen an die Zeit vor dem letzten Kriegswinter, wie ihn die Leute genannt hatten. An die Zeit vor der Theatersperre im Sommer 1944. Damals schlossen kriegsbedingt alle Wiener Bühnen. Ich war traurig. Schon als Gymnasiast der Unterstufe bin ich gern ins Theater gegangen. Im Burgtheater wurde damals „Der Nibelunge Not“ von Max Mell gespielt, später Schillers „Wallenstein“, alle drei Teile an einem Abend, mit Ewald Balser in der Titelrolle und Fred Liewehr als Max Piccolomini, oder Raimunds „Bauer als Millionär“ mit Paula Wessely als Zufriedenheit. Man sah viele Uniformen im Zuschauerraum, und auf den kriegsbedingt kleinformatigen Programmzetteln stand unter Balken, das p. t. Publikum werde gebeten, „sich beim Eintreffen unserer verwundeten Frontsoldaten von den Plätzen zu erheben“. Für sie war die Mittelloge reserviert.
Die Vorstellungen waren ungestört – die Amerikaner kamen am Vormittag, zum Unterschied von den Engländern, die in der Nacht die norddeutschen Städte angriffen. Wir Wiener hatten Glück gehabt, bis zum Herbst 1944. Erst nachdem die US Air Force Stützpunkte in Mittelitalien errichtet hatte, war der „Ausflug“ nach Wien möglich, wenngleich nur unter Gefahren. Einmal ist einer der schweren Bomber, von Fliegerabwehrgeschützen getroffen, vor dem Burgtheater niedergegangen. Die Besatzung war rechtzeitig abgesprungen, nur einem Mann war es nicht gelungen. Die Leiche hockte noch vor der Bordkanone. Szenen wie diese waren fast wie Abenteuergeschichten für uns Buben – anno 1944.
Gleichzeitig mit der Theatersperre wurden auch die meisten Schulen geschlossen. In Hollabrunn, wohin mich meine Eltern – Kinderlandverschickung! – „auswaggoniert“ hatten, um dort zeitweilig das relativ sichere Gymnasium zu besuchen, erlebte ich den Absturz eines deutschen Jagdfliegers, einer ME109. Es war kein Angriff, es war ein Gruß. Die Eltern des Piloten lebten im Ort. Der Jagdflieger kurvte niedrig, zu niedrig, er stürzte ab, und ich, auf einem Feld daneben, war einer der Ersten, die den rauchenden Trümmerhaufen erlebten. Die Leiche des Piloten war auch diesmal nahezu unversehrt. Was die weiße Masse war, die ihm über das Gesicht lief, wurde mir erst nachher erklärt. Es war das Gehirn.
Kriegserlebnisse eines von den Umständen zur Reife gezwungenen Kindes, in der Tat. Meine Eltern holten mich sowie meinen Bruder nach Wien zurück; wenn schon sterben, dann gemeinsam. Es gab ja, wie gesagt, noch ein paar Schulen, die offen geblieben waren. Das Bubengymnasium Fichtnergasse in Hietzing etwa. Ein paar Wochen lang habe ich dort die dritte Klasse besucht, dann war auch dort Schluss – nicht mit Jubel, sondern mit Bomben und Granaten. Vorerst mit Bomben, die Granaten kamen erst später, beim „Kampf um Wien“.
Erinnerungen wieder, Erinnerungen an diesen Winter 1945. Erinnerung an den nun schon gewohnten Kuckuck, der jetzt fast täglich rief, immer am späten Vormittag. Erinnerung auch daran, dass die Wiener selbst in der permanenten Todesgefahr – die „Kleine Wiener Kriegszeitung“ veröffentlichte Listen von Bombenopfern der Zivilbevölkerung – über die täglichen „Luftlagemeldungen“ scherzen konnten: „Zwischen Graz und Steinamanger fliegt ein Kampfverband, ein langer. Vorn ka Jäger, hint ka Flak – hoffentlich bricht er sich's Gnack.“
Die Bomber haben sich nicht selbst das Gnack gebrochen, aber vielen, die damals noch in Wien geblieben waren. Wir sind geblieben – bis auf Weiteres. Es ist kalt gewesen in diesem Winter. Schon vorher war die Stadt gegen Luftangriffe gewappnet worden – aber was heißt „gewappnet“? Die wichtigsten Denkmäler hat man eingemauert, mit Ziegelmauern umgeben. Die Reitermonumente auf dem Heldenplatz etwa. In der Innenstadt trugen die Hausmauern in weißer Farbe aufgemalte große Pfeile mit Inschriften, die den Weg zum nächsten weiten freien Platz zeigen sollten – eine Lehre, die man aus dem Hamburger „Feuersturm“ und aus ähnlichen Flächenbränden gezogen hatte. Vor der Oper hatte ein großer ummauerter Löschteich Platz gefunden. Und der Resselpark, der bis zur Sperre des Akademischen Gymnasiums auf meinem täglichen Schulweg lag, war von Gräben durchfurcht. Sie sollten Schutz vor Bombensplittern bieten.
Und dann wurde es ernst. So schien es zumindest. Die Russen hatten Budapest erobert und näherten sich dem, was man damals als Deutsches Reichsgebiet bezeichnete, den Grenzen der „Ostmark“. Noch funktionierten die Straßenbahnen, wenngleich nicht immer; oft waren Linien durch Bombenkrater unterbrochen. Die städtischen Autobusse, die der Innenstadt bis vor Kurzem noch einen fast „friedensmäßigen“ Eindruck verliehen hatten, gab es längst nicht mehr. Die Tramway – komisch, dass die alten Leute auch jetzt noch diesen Ausdruck verwendeten! – hatte blau gefärbte Fenster, die einen Sichtstreifen frei ließen. Der Dreizehner, damals Straßenbahn, war immer wieder außer Betrieb, unterbrochen auch durch einen Bombenkrater in der Ziegelofengasse. Als ich von der Schönbrunner Straße, der elterlichen Wohnung, in die Belvederegasse wandern wollte, wo sich unsere seit Kurzem ausgebombte Drogerie befand, stolperte ich in das große Loch zwischen den Geleisen. Ich hatte nicht gesehen, was handgeschrieben auf einem Schild stand: Achtung, Blindgänger!
Bomben haben in diesen Wochen auch die Wasserversorgung Margaretens lahmgelegt. Freilich nicht zur Gänze. In einem Hof nahe unserem Wohnhaus war ein durch einen Schwengel zu betätigender Hausbrunnen intakt. Die Bewohner der Umgebung pilgerten kübelbewehrt zur ersehnten Quelle, die nicht zu versiegen schien. Zu dieser Zeit waren an den Plakatwänden bereits Aufrufe angebracht, die die Bevölkerung vor kommendem Unheil warnten: „Frauen und Kinder werden aufgefordert, die Stadt zu verlassen.“ Darunter las man, dass Gauleiter Baldur von Schirach Wien zum „Verteidigungsbereich“ erklärt habe und der SS-General Sepp Dietrich nun dafür verantwortlich sei.
Verteidigungsbereich? Nicht einmal die Luftabwehr hat es mehr gegeben. So vor allem auch am 12. März, jenem Tag, der mir, damals ein Kind, dauernd im Gedächtnis bleiben wird. Am 13. März 1938 war der „Anschluss“ Österreichs an Deutschland vollzogen worden. Am 12. März 1945 fand (wohl bedacht, wie sich herausstellte) der schwerste amerikanische Bombenangriff statt, den Wien erleben musste. Ich habe ihn oft beschrieben und kann mich von der Erinnerung trotzdem nicht befreien: von der Erinnerung an den Kuckucksruf, der wieder einmal die Menschen alarmierte, an die Schüler, die von den paar verbliebenen „Restschulen“ freigesetzt wurden, und von der Erinnerung an den doppelstöckigen uralten Keller, den ich vom dritten Bezirk her laufend in der Postgasse erreichte, wo mein Vater in der ehemaligen Universität als Polizeizeichner arbeitete.
War es Angst, war es Grauen? Es gibt verschiedene Arten der Furcht. Was fühlt man, wenn das Licht zuckt und der Boden von der Wucht der Bombeneinschläge zittert? Als die „Entwarnung“ kam, bot sich in der Innenstadt ein Bild der Verwüstung. Ich sah die Oper brennen, das Burgtheater teilweise in Trümmern, Parlament und Universität schwer beschädigt. Und immer wieder muss ich mich an den Philipphof erinnern, dieses große Wohnhaus hinter der Oper, dessen öffentlicher Luftschutzraum Hunderten von Menschen hätte Schutz bieten sollen – wenn nicht an diesem 12. März 1945 eine Bombe den tief unter der Erde liegenden großen Keller vernichtet hätte. Es gab kaum Überlebende. Die Menschen, die in den unzugänglich gewordenen Teilen des Kellers blieben, liegen heute noch dort, rund 300 Leichen, die man nie geborgen hat.
Der Philipphof ist – auch aus Pietät? – nie wieder aufgebaut worden. An seiner Stelle wurde ein Rasen angelegt, der dann jahrelang nur ein einfaches Holzkreuz und ein Schild trug, auf dem die Opfer verzeichnet waren. Die „Presse“ hatte für dieses Erinnerungsmal gesorgt, ehe dann die Steinfiguren Alfred Hrdlickas hier aufgestellt wurden, als „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“.
Kriegsende in Wien 1945. Erinnerungen eines Gymnasiasten. Viele Jahre lang habe ich das Geheul der Sirenen nicht vergessen können. Viele Jahre lang hat mich der Frühlingsruf des Kuckucks an den Winter vor 70 Jahren erinnert. Man erinnert sich an das, woran man sich erinnern will, heißt es. Offen gesagt: Ich bin diesbezüglich unsicher. ■


Am 28. Februar erscheinen bei Kremayr & Scheriau Thomas Chorherrs Erinnerungen, „Dabei gewesen“. Buchpräsentation am 2. März, 19.30 Uhr, Presseclub Concordia, Wien I: der Autor im Gespräch mit Erhard Busek, Franz Vranitzky und Lotte Tobisch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2015)

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