Mehr oder weniger schlaflose Nächte

Land der Sparer, schuldenreich: Österreich und seine Staatsschulden. Eine kleine Wirtschaftshistorie.

Die aktuelle Diskussion zur Steuerreform ist von heftigen Kontroversen zwischen den Regierungsparteien geprägt. Konsens bestehtzumindest darin, dass die Reform eine Gegenfinanzierung erfordert. Und: Die im Maastricht-Vertrag verankerte Obergrenze des Budgetdefizits von drei Prozent darf nicht gefährdet werden. Schließlich möchte man mittelfristig wieder die vorgegebene Staatschuldenquote von 60 Prozent erreichen. Für die Maastrichter Kennzahlen gibt es aber keine solide volkswirtschaftliche Begründung, viel eher wurden diese relativ willkürlich festgelegt. Doch während in anderen Ländern der Eurozone hitzige Debatten über die Sinnhaftigkeit dieser Kriterien geführt werden, ist es in Österreich ruhig. Für die Regierung scheint in Stein gemeißelt, dass Schuldensanierung Vorrang gegenüber anderen möglichen Zielen staatlichen Handelns hat. Bedingt durch den Beitritt zur europäischen Währungsunion, hat sich hierzulande ein wirtschaftspolitisches Paradigma herausgebildet, das so neu gar nicht ist. Ein Blick zurück zeigt: Österreichs Umgang mit seiner Staatsverschuldung ist geprägt von häufigen Kursänderungen, oft bedingt durch wechselnde äußere Einflüsse.

Bis zum Ende der Habsburgermonarchie hatte die Staatsverschuldung eine andere Bedeutung als heute, diente sie doch hauptsächlich der Finanzierung von Kriegen. Führende englische Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts lehnten sie daher ab: Adam Smith sprach von der Verschwendungssucht des Staates und prognostizierte den Zusammenbruch der europäischen Mächte unter der wachsenden Schuldenlast. David Ricardo forderte eine einmalige Vermögensabgabe zur Tilgung sämtlicher Staatsanleihen. Im deutschen Sprachraum entwickelte sich dagegen eine ökonomische Denkrichtung („Deutsche Historische Schule“), die auchdie positiven Seiten der Staatsverschuldung betonte. So betrachtete Carl August Dietzel „Staatscredite“ zur Finanzierung öffentlicher Investitionen als notwendiges Element des Wirtschaftsprozesses. Sie sollten maßgeblich zu Produktivitätsentwicklung und Wachstum beitragen. Staatsschulden waren demnach zu rechtfertigen – solange die Investitionserträge ausreichten, um die anfallenden Zinsen zu zahlen.

In Österreichs Geschichte finden sich Begründungen für beide Ansätze. Getrieben von europäischer Großmachtpolitik, bestätigten die österreichischen Monarchen zunächst die Befürchtungen von Smith und Ricardo: Maria Theresia finanzierte den Siebenjährigen Krieg gegen Preußen zu zwei Dritteln mit Anleihen. Gegen Kriegsende erreichte die Verschuldung dadurch 300 Millionen Gulden, circa drei Viertel des Bruttosozialproduktes. Dem nicht genug, warf die kaiserliche Regierung die Notenpresse an und begann mit der Ausgabe von Papiergeld (Bancozettel). Eine sukzessive Vermehrung der Geldmenge war die Folge, welche dann im Zuge der Napoleonischen Kriege regelrecht explodierte. Sie erreichte 1810 über eine Milliarde Gulden und hatte sich damit seit der Jahrhundertwende mehr als verdreifacht. Die Staatsausgaben konnten nur durch weitere Papiergeld-Emission finanziert werden, wodurch die Währung dramatisch an Wert verlor.

Um die Geldmenge nicht noch weiter zu erhöhen, wertete die Monarchie 1811 die Bancozettel auf ein Fünftel ihres Nennwerts ab und halbierte die Zinszahlungen an die Gläubiger. Die Maßnahmen gingen als„Staatsbankerott“ in die Geschichte ein. Wer danach mit einem Neustart rechnete, der wurde enttäuscht: Als die Ausrichtung des Wiener Kongresses 1815 neuerlich gewaltige Summen verschlang, griff man ein weiteres Mal auf die Notenpresse zurück. Ein vorläufiger Stopp der Geldvermehrung gelang erst durch die Gründung der Privilegierten Oesterreichischen Nationalbank im Jahr 1816. Die Staatsverschuldung stieg aber weiter an und kletterte bis 1847 auf 1,1 Milliarden Gulden.

Eher im Sinne Dietzels handelte die österreichische Reichshälfte hingegen im Wirtschaftsboom ab 1867. So ging ein beträchtlicher Teil der Neuverschuldung dieser Zeit auf Investitionen in Verkehr und Infrastruktur (Eisenbahnbau) zurück. Die Periode war gekennzeichnet von solidem Wachstum und folglich auch von sinkenden Staatsschuldenquoten. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges schlug das Pendel wieder in die andere Richtung aus. Durch exzessive Inflationsfinanzierung vermehrte sich die Geldmenge bis zum Kriegsende um mehr als das Zwölffache, was auch im internationalen Vergleich auffallend hoch war. Weil die Geldmengenerhöhung allein zur Kriegsfinanzierung nicht ausreichte, mussten Anleihen gezeichnet werden. Noch in ihren letzten Atemzügen häufte die Donaumonarchie einen weiteren Schuldenberg an.

Damit trat die junge Republik (Deutsch-)Österreich 1918 auch währungs- und finanzpolitisch ein schweres Erbe an. In den öffentlichen Finanzen klaffte ein riesiges Loch, und 1921 deckten die Steuereinnahmen die Ausgaben nur noch zu 36 Prozent. Wieder wurde auf die Notenpresse zurückgegriffen, was der Inflation weiteren Nährboden gab und den Wiederaufbau in schwerste Bedrängnis brachte. Selbst führende Ökonomen wie Joseph Schumpeter, im Jahr 1919 für einige Monate Finanz-Staatssekretär, schafften den Umschwung nicht. Mit seinem Konzept einer Vermögensabgabe zur Sanierung der Staatsfinanzen scheiterte Schumpeter nicht zuletzt an der Sozialdemokratischen Partei, wohl aufgrund eines persönlichen Konflikts mit Otto Bauer, einem ihrer führenden Politiker.

In ihrer verzweifelten Lage suchte die Bundesregierung Hilfe beim Völkerbund – und erhielt diese 1922 durch eine Anleihe über 650 Millionen Goldkronen. Wie jüngst über Griechenland, so spannte Europa damals einen Rettungsschirm über Österreich. Die Regierung musste ein Sanierungsprogramm vorlegen, über dessen Umsetzung statt einer Troika ein vom Völkerbund eingesetzter Generalkommissär mit Argusaugen wachte. Wesentliche Eckpunkte des Programms: ein harter Sparkurs (unter anderem Abbau von 100.000 Beamten), die Errichtung einer neuen Zentralbank (Oesterreichische Nationalbank) sowie schließlich die Einführung einer neuen Währung (Schilling). Bereits Ende 1923 galt derStaatshaushalt als saniert, in der Folgezeit wurden sogar kurzfristig Überschüsse erwirtschaftet. Indessen hatte sich die Staatsverschuldung auf verhältnismäßig niedrigem Niveau stabilisiert: 1924 betrug sie 24, 1930 gar nur noch 19 Prozent des BIP; 1913 waren es noch über 60 Prozent gewesen. Fraglos war das „Genfer Sanierungswerk“ mitgroßen Opfern verbunden und ging zulasten der ökonomischen Entwicklung des Landes. Die Wirtschaft kam nur sehr schleppend in Schwung, die Arbeitslosigkeit blieb hoch. Aber die Maßnahmen des „Austeritätsregimes“ wurden von den damals führenden Ökonomen gestützt. In den Jahrzehnten davor hatte sich die „Österreichische Schule derNationalökonomie“ etabliert, die wiederum zu einer stark ablehnenden Haltung gegenüber Staatsverschuldung beitrug. In ihren Vorstellungen spielten angebotsseitige Aspekte die Hauptrolle für wirtschaftliches Wachstum. Der Staat sollte nicht eingreifen, würde er doch hauptsächlich „Effizienzverluste“ verursachen.

Erst die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre machte die Idee des „Deficit Spending“ salonfähig. Ihr bedeutsamster Repräsentant, John Maynard Keynes, sah die Ursache der „großen Depression“ nicht im Angebot, sondern vielmehr in einem starken Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. In einer solchen Situation, so Keynes, müsse der Staat für zusätzliche Nachfrage sorgen, um die Volkswirtschaft zu stabilisieren. Die positive wirtschaftliche Entwicklung infolge des „New Deal“, eines massiven öffentlichen Investitionsprogramms des US-Präsidenten Roosevelt, wurde als Bestätigung von Keynes' Ideen gesehen.

Österreich entdeckte den Keynesianismus erst sehr spät, zu einem Zeitpunkt, als er anderorts bereits wieder als gescheitert galt. Den Ölpreisschocks der 1970er-Jahre begegnete die SPÖ-Regierung Kreisky mit einer spezifischen Ausformung des „Deficit Spending“ („Austro-Keynesianismus“). Damit wurde ein deutlicher Kurswechsel nach einer fast schuldenfreien Nachkriegspolitik vollzogen. Die Regierung setzte klar auf den Vorrang der Vollbeschäftigung – was Kreiskymit seiner berühmt gewordenen Aussage unterstrich, wonach ihm „ein paar Milliarden Schilling Schulden weniger schlaflose Nächte“ bereiten würden „als ein paar Hunderttausend Arbeitslose mehr“.

Da Österreich in Währungsfragen eng an die BRD gekoppelt war, blieben stabilisierungspolitisch sonst auch kaum Möglichkeiten. Die Konsolidierung des Budgets in ökonomisch guten Jahren blieb jedoch aus, sodass die Staatsschuldenquote massiv anstieg. Bei seinem Regierungsantritt 1970 hatte Kreisky einen weitgehend ausgeglichenen Staatshaushalt mit einer Schuldenquote von lediglich elf Prozent (Schuldenstand umgerechnet 3,4 Milliarden Euro) übernommen. Als er 1983 zurücktrat, hatten sich die Schulden fast verzehnfacht, ihre Quote war auf 30 Prozent gestiegen. Seine Nachfolger standen Kreisky allerdings in nichts nach. Zwischen 1986 und 1999 schraubte die große Koalition die Staatsschulden weiter in die Höhe. Unter SPÖ und ÖVP betrug die Quote zwischenzeitlich über 68 Prozent (1995/96).

Mit dem Beitritt zum Euroraum änderte die Republik wieder ihren Kurs. Aufgrund maßvoller Haushaltspolitik und unterstützt durch robustes Wachstum sank die Schuldenquote zwischen 1996 und dem Ausbruch der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise auf die vorgegebenen 60 Prozent. Wurde angesichts der Finanzkrise 2008 noch einmal aktive Konjunkturpolitik betrieben, so scheintsich spätestens seit Beginn der europäischen „Staatsschuldenkrise“ 2010 das „moderne Austeritätsregime“ auch in Krisenzeiten durchzusetzen. Für öffentliche Investitionen ist wenig Spielraum – heißt es.

Die minimalen Zinssätze und Risikoaufschläge auf österreichische Staatsanleihen deuten freilich in eine andere Richtung. Sie sind Anzeichen für unzureichende gesamtwirtschaftliche Investitionstätigkeit, aber auchfür Vertrauen in die Bonität Österreichs. Das wird durch den Trend der vergangenen Jahrzehnte durchaus bestätigt, gab es in der Zweiten Republik doch mehrfach Ansätze zur Budgetkonsolidierung. Vor Beginn der Wirtschaftskrise befand sich die Staatschuldenquote auf dem Niveau der frühen 1990er-Jahre, keineswegs auf einem stetig steigenden Pfad. Obwohl die Haushaltspolitik langfristig vor großen Herausforderungen steht, gibt es aus volkswirtschaftlicher Perspektive derzeit also wenig Grund, öffentliche Investitionen a priori zu vernachlässigen, um ein Defizitziel im Sinne der Maastricht-Kriterien zu erreichen. Tatsächlich mag man sich angesichts der Vorgaben von außen in mancherlei Hinsicht an die 1920er-Jahre erinnert fühlen, die uns nicht nur chronologisch näher sind als die ausschweifende Schuldenpolitik zur Zeit des Wiener Kongresses. ■


Der Historiker Walter M. Iber und die Ökonomen Jörn Kleinert und Christoph Zwick sind Mitarbeiter am OeNB-Jubiläumsfondsprojekt „Fiskalpolitik und Staatsverschuldung in Österreich 1811– 2012“ an der
Universität Graz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2015)

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