Wallys Blick

Orpheus & Orphea – Maler & Modell – Egon & Wally. Abseits vom Schein oberflächlicher Gleichberechtigung: die Frau Wally Neuzil, Schieles Gefährtin.

Am 16. Juli 1954 öffnete die instand gesetzte Österreichische Galerie im Belvedere wieder ihre Tore. Alles kam, was in Österreich Rang und Namen hatte,auch kirchliche Würdenträger. Als Kardinal Theodor Innitzer an dem Schiele-Gemälde „Kardinal und Nonne“ vorüberging, tuschelten die Sekretäre aufgeregt. Innitzer warf einen kurzen Blick auf das skandalöse Bild, machte eine wegwerfende Handbewegung und ging weiter. Zwei Wochen später wurde das dem katholischen Österreich nicht zumutbare Bild ins Depot verbracht. Dabei ahnte damals niemand, dass auf dem Bild ein wesentlich tieferer Tabubruch dargestellt wird.

Wally Neuzil war für vier wichtige Jahre Egon Schieles Gefährtin. Gemeinhin wird von ihrer treuen, hingebungsvollen Art gesprochen. Sie spielte jedoch eine aktivere Rolle, als man auf den ersten Blick wahrnimmt – und wie es bei den meisten Gefährtinnen von Künstlern der Fall ist. Während Egon zugleich mit seinem Werk auch sich selbst erschuf, erschloss ihm Wally eine zwanglose, erwachsene Sexualität jenseits des Reizes, der von Kindern und Jugendlichen auf ihn ausging. Er schrieb ihr darüber hinaus eine katalysatorische Rolle für sich und sein Werk zu – auch wenn sich diese Entwicklung zuletzt gegen das Zusammensein mit Wally selbst richtete. Denn indem er Obsessionen ablegte, musste das zwangsläufig zu einer anderen Partnerschaft führen.


Die überlieferten Dokumente
geben nicht viel zur Beschreibung dieser Beziehung her. Fraglos war es eine, die auf der Basis unkonventioneller Lebensführung eine starke sexuelle und emotionale Bindung erzeugte, die für einige Jahre auch durch Krisen und gesellschaftliche Ächtung nicht zu erschüttern war.

Der Mangel an verlässlichen Quellen hat seinen Grund im historischen Umfeld. Egon und Wally lebten zu einer Zeit unverheiratet zusammen, als dies noch für unmöglich angesehen wurde. Als sie nach der kurzen Zeit von zweieinhalb Monaten aus Krumau hinausgeekelt wurden, war die „wilde Ehe“ einer der Gründe.

In Briefen von und an Egon Schiele kommt Wally fast nirgends vor. Selbst Arthur Rössler, mit dem Schiele eine umfangreiche Korrespondenz geführt hat, erwähnt sie nur nebenbei auf einer Postkarte vom Juni 1911 mit dem Wort „Ihr Schatten“...

Nichtsdestoweniger verhielt sich Wally wie Egons Gattin. Sie wohnte in seiner Nähe, einmal auch kurz in seinem Atelier. Sie unternahm Reisen mit ihm. Sie machte alle Übertretungen der herrschenden Moral bereitwillig mit, die er um seiner selbst und der Kunst willen unternahm. Sie stand treu zu ihm, als er in Haft genommen wurde, da man ihn verdächtigte, die Grenzen der körperlichen Integrität Minderjähriger missbräuchlich übertreten zu haben. Sie war sich sicher, dass das nicht wahr war. Sie bat andere für ihn um Hilfe, obwohl sie wusste, dass diese anderen ihre Existenz als Gefährtin Schieles nicht guthießen. Auch akzeptierte sie andere Modelle neben sich. Sie stellte Egon arglos Frauen vor, die darauf aus waren, ihn ihr wegzunehmen. Ihr Verhalten zeigt bedingungslose Bewunderung und tatkräftige Unterstützung.

Es gibt nicht wenige, die es daher Schiele nicht gut anrechnen, dass er sich von ihr getrennt hat, ja, dass er sie dadurch psychisch vernichtet habe, sodass für sie danach nur mehr die Flucht in den Krieg übrig blieb, wo sie dann an der Front als Krankenpflegerin verstorben ist.

Sicher hatte die Trennung von WallyNeuzil für ihn auch den Zweck, für eine bürgerliche und materiell besser gestellte Verbindung frei zu werden. Die Demütigung durch sein Angebot, auch in Hinkunft jedes Jahr mit ihr einen Sommerurlaub zu verbringen; die noch tiefere Demütigung, dass sie ein gesellschaftlich nicht zu überbrückender Höhenunterschied von der Weltder Zukünftigen Egons trennte, mussten eine Lebenskrise für die junge Frau herbeiführen.


Die Krise dieser Trennung trieb Wally Neuzil jedoch keineswegs in Suizid oder soziale Selbstaufgabe. Ganz im Gegenteil: Sie unternahm den Versuch einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft – oder gar einer ersten Eingliederung. Sie ließ sich zur Krankenpflegerin ausbilden und wurde in der Folge in Kriegsspitälern eingesetzt. Der Beruf der Krankenpflegerin war damals noch nichts Übliches. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war das ein Berufsbild für Frauen, die sich etwas zutrauten. Dass Wally Neuzil im dritten Jahr des Ersten Weltkriegs in einem sogenannten Maroden-Haus der k.u.k. Landwehr in Dalmatien an Scharlach verstarb, kann man daher nicht als Flucht ins Suizidale interpretieren. In den Krieg ging man damals begeistert und mit patriotischem Bewusstsein.

So ging Wally letztlich aus dieser Krise gestärkt hervor. Sie ließ das Passive, das das Dasein eines Modells im Wesentlichen ausmacht, hinter sich. Und sie war das ja auch nie, war niemals nur Modell gewesen.


Blicken wir in die Augen Wallys, wie sie auf Porträts Schieles und auf einigen wenigen Fotos überliefert sind. Der Ausdruck auf den Gesichtern gleicht sich in einem Aspekt: Der Blick dieser Frau fordert das Gegenüber dazuauf, sich selbst wahrzunehmen.

Natürlich sieht man auf den Bildern und Fotos auch Weichheit und höfliche Nachgiebigkeit. Zum andern gibt es da aber etwas schwieriger zu Benennendes, das wie in sich selbst zurückgenommen wirkt, nämlich nicht als Ausdruck der Bescheidenheit vor den Ansprüchen anderer, sondern als In-sich-Stehen, In-sich-Ruhen – mit der Absicht, die anderen mit diesem inneren Ruhepunkt zu konfrontieren. Etwas zutiefst Innerliches und nicht zu Vereinnahmendes, das zu allem Externen Abstand hält und dieses auf sich selbst zurückwirft.

So etwas ist ganz verschieden von der Rolle eines bloß dienenden Modells, einer bloß folgsamen Gefährtin. Nicht nur betrachtet hier der Künstler sein Modell, sondern ebenso das Modell seinen Künstler. Wally konfrontiert Egon mit sich selbst und dem, was er tut, sie fordert Egons Selbstbefragung heraus. Solche Infragestellung der eigenen Person ist für Egon nichts Neues, sondern in seiner Persönlichkeit angelegt und für seine Arbeit konstitutiv. Doch Wally treibt auf ihre spiegelnde Art die Problematik, in der sich Egon selbst sucht, auf die Spitze.


Der Psychoanalytiker Kurt R. Eissler hat ein ähnliches Verhältnis zwischen Goethe und Charlotte von Stein beschrieben, indem die Frau den Mann anregte, aufregte, ihm viele Freiheiten gestattete, während sie ihn gleichzeitig beobachtete, sein Verhalten kommentierte, ihn beriet und dadurch seine Selbstbefragung vorantrieb. Und die amerikanische Psychoanalytikerin Danielle Knafo hat überzeugend dargestellt, wie Egon als Kind der sein Dasein spiegelnde und damit seine Existenz innerlich sichernde, sein Selbstverständnis formierende Blick der Mutter fehlte. Diesen Blick hat der Künstler später woanders gesucht. Er fand ihn in sich selbst im Spiegel – Schiele nahm bei seinen Umzügen immer den großen Spiegel mit, den er von seiner Mutter (!) übernommen hatte –, aber auch im Blick der Gefährtin.

Was aber ist für ein solches, gleichsam therapeutisches Verhältnis im privaten Bereich notwendig? Sicherlich zumindest zweierlei: die Konstanz des Blicks und dass er alles zulässt; dass er also nicht schon im Vorhinein bestimmte Verhaltensweisen durch Kritik oder Tabus ausschließt.

So folgte nicht nur sie ihm, sondern auch er ihr! Erst als Egon beginnt, seiner späteren Ehefrau, Edith Harms, nachzulaufen, verschließt sich Wallys in sich selbst ruhender Spiegelblick und erblindet zu bloßer Anklammerung. Wir sehen im Kontrast auch klar, dass Edith für Egon niemals dieselbe Rolle wie Wally hätte spielen können. Denn Edith hatte Tabus, ihr Blick auf ihn war zwar bewundernd, aber auch kritisch, und deshalb war diese Beziehung keine therapeutische, sondern schlicht und einfach eine reale Ehe. Vielleicht sieht sie deshalb auf seinen Porträts so simpel, so naiv aus.

Interessanterweise sagt das alles nichts über künstlerische Qualität aus, im Gegenteil: Das aus innerer Spannung und Selbstfragmentierung entstandene Frühwerk gilt heute als der kunsthistorisch bedeutendste Teil von Schieles Œuvre. Dafür waren innere und äußere Abenteuer zu bestehen. Wally begleitete ihn auf seinem „Wandelweg über Abgründe“ wie eine weibliche Orphea aus dem Reich der Schatten, durch den Bereich seiner Obsessionen, des heiligen Sexus: des roten Kardinals.

Es ist beeindruckend, wie Schiele dieses Verhältnis symbolisch und doch in aller Klarheit dargestellt hat. Denn Egon – nicht Wally! – ist die Nonne auf dem bekannten Bild „Liebkosung“ von 1912 – das erst nach Schieles Tod „Kardinal und Nonne“ genannt wurde. Es gibt ein Selbstporträt mit dem exakt gleichen Ausdruck. Und Wally – nicht Egon! – ist maskiert der Kardinal, wenn wir den Hinweis, den Schiele gibt, ernst nehmen: Er entlehnte die kräftigen Beine des Kardinals einem Porträt Wallys auf einem Aquarell.

Wally – die heilige Vergewaltigerin, die in dem sich auch weiblich empfindenden Mann Egon eine notwendige Entwicklungauslöst, und nicht nur auf sexuellem Gebiet, auch auf spirituellem.


Und doch verlässt er sie. Ist das menschlich ungerecht? Hat nicht auch Egon Wally zu ihrer Emanzipation ermuntert und ihr dadurch, wie er ihr folgte, in ihr bestärkt, was sie als Frau, als Mensch sein konnte?

Vielleicht war es doch eine geglückte Beziehung, die zeigt, wie abseits vom Schein oberflächlicher Gleichberechtigung ein zutiefst positiver und menschlicher Umgang möglich ist. Wie sich durch von außen kaum zu beurteilende Verflechtungen eine gegenseitig motivierte Selbst-Steigerung ereignet. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2015)

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