Schäbig, schaurig, schizoid

Es gibt wenige Länder, die einander so ähnlich sind wie Russland und die Ukraine. Jene, die heute mit Waffen und Worten gegeneinander kämpfen, haben oft dieselben Bücher gelesen und dieselbe Musik gehört.

Alexander Scharowarow, Direktor des Opern- und Balletttheaters von Dnjepropetrowsk (Ukraine), sympathisiert mit den russischen Separatisten im Osten des Landes. Im Jänner 2015 stürmt eine Gruppe ukrainischer Nationalisten sein Büro und verlangt, er solle kündigen. Neben antiukrainischer Gesinnung werfen ihm die – größtenteils Russisch sprechenden – „Aktivisten“ Korruption und Amtsmissbrauch vor. Der Direktor versucht, mit den aufgebrachten Eindringlingen ein „konstruktives“ Gespräch zu führen. Das bringt nichts. „Wir verlangen, dass Sie jetzt sofort Ihre freiwillige Rücktrittserklärung schreiben!“, schreien die Aktivisten, während sie das Büro durchsuchen und fündig werden: eine russische Fahne! Damit ist das Schicksal von Herrn Scharowarow besiegelt. Er wird gepackt, in einen Hinterhof des Theatergebäudes gezerrt, mit rohen Eiern beworfen und in einen Müllcontainer geworfen.

Diese Szene ist in der heutigen Ukraine kein Einzelfall. „Mülllustrationen“ nennt man dort die Demütigung politischer Gegner – von Lokalpolitikern, korrupten oder angeblich korrupten Beamten oder schlichtweg von Menschen, die den „Lustratoren“ ein Dorn im Auge sind. Die Polizei greift meist nicht ein.

Die Ukraine ist ein Land im Krieg, auch wenn er dort offiziell und euphemistisch ATO (Antiterroristische Operation) heißt. Viel weniger euphemistisch klingt es, wenn der politische und militärische Gegner als „Biomüll“ bezeichnet wird, oder wenn der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk im Zusammenhang mit den Separatisten im Donbass von „Untermenschen“ spricht. Nur 200 Kilometer von Dnjepropetrowsk entfernt werden Menschen erschossen, von Granaten zerfetzt oder hingerichtet. Was sind dagegen schon ein paar „Mülllustrationen“? „Revolution der Müllcontainer“ nennt dies der ultranationalistische Rechte Sektor, der die Kampagne initiiert hat. Selbstverständlich gehört zu jeder Lustration gleichwie zu fast jeder noch größeren Abscheulichkeit ein entsprechendes Video, das die Täter stolz ins Netz stellen. „Die Ukraine, das ist Europa!“, schrien vergangenes Jahr die Demonstranten auf dem Maidan in Kiew und in anderen Städten der Ukraine. Ob sie sich den Weg nach Europa so vorgestellt hatten?

Schauplatzwechsel: Donezk, 24.August 2014. Eine Gruppe ukrainischer Kriegsgefangener wird zur Schau gestellt, durch die Stadt getrieben, gedemütigt. Parade der Besiegten wird dies genannt, eine Inszenierung, an der sich Tausende Zivilisten beteiligen. Laut Genfer Konvention ist die Misshandlung und Demütigung von Kriegsgefangenen verboten, doch wen kümmert am Rande und im Hinterhof Europas in Zeiten von YouTube und Facebook schon die Genfer Konvention. Auf Videos im Internet sieht man Kriegsgefangene, die auf der Straße knien, verhört, beschimpft oder geschlagen werden, einstudiert wirkende Phrasen murmeln oder Selbstkritik üben.

Das ist weder typisch russisch noch ukrainisch, sondern sowjetisch, und die Parade der Besiegten vom August 2014 ist die Re-Inszenierung eines ähnlichen Ereignisses aus der Sowjetzeit. Am 17. Juli 1944 marschierten rund 57.000 deutsche Kriegsgefangene durch Moskaus Straßen. Diese Propagandamaßnahme, die vor allem die Moral der eigenen Bevölkerung stärken sollte, hieß damals zynisch „Der große Walzer“. Siebzig Jahre später stellten die Separatisten in Donezk alles exakt nach. „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“, hat man in meiner Jugend gesagt. „Stell dirvor, es ist Krieg, und jeder, der will, macht mit“, müsste es heute heißen. „Couchhelden“ werden diese Menschen genannt, die, im fernen Nowosibirsk, in Moskau, Woronesch oder im nunmehrrussischen Sewastopol sitzend, ihre ukrainischen Internet-Gesprächspartner als Schweine, Idioten, Mörder oder Faschisten bezeichnen. Dies könnte man als eine Nebenwirkung dieses von Propaganda und Gegenpropaganda in den Massenmedien, von Lügen, Geschichtsfälschungen und gegenseitigen Vorwürfen geprägten Konflikts abtun, wenn es nicht in einem wesentlichen Maße weiter anheizen, verletzten, noch mehr Hass erzeugen und zu einer Verlängerung des Konfliktes beitragen würde.

Sowohl für Anhänger der Ukraine als auch für jene der russischen Separatisten und des Putin-Regimes besteht die jeweils andere Seite aus Faschisten und Nazis, die Städte bombardieren, unschuldige Zivilisten töten und Kriegsverbrechen begehen. Beide beschwören das Erbe ihrer Großväter und Urgroßväter, die im Großen Vaterländischen Krieg gemeinsam Nazi-Deutschland besiegt haben. Gleichzeitig unterstellen Russen und Ukrainer den Angehörigen des jeweils anderen Volkes, ihre Vorfahren hätten während der Besatzungszeit mit den Nazis kollaboriert. Für russische Nationalisten und Anhänger Putins haben sich die „ukrainischen Faschisten und Chauvinisten“ an die USA und den Westen verkauft, zumal die gesamte Maidan-Bewegung, der Sturz des Präsidenten Janukowitsch und die von vielen Ukrainern angestrebte Annäherung an die EU als eine Verschwörung des Westens gegen Russland gesehen wird, dessen nationale Wiedergeburt, Größe und Wohlergehen verhindert werden sollen. Nun gelte es, gegen die „Ukrofaschisten“ ins Feld zu ziehen.

Diese Vorstellung hindert viele „Antifaschisten“ allerdings nicht daran, die derzeitige ukrainische Regierung als „jüdische Junta“ zu bezeichnen, bei jedem führenden Politiker des Landes, allen voran beim Präsidenten, Petro Poroschenko, eine jüdische Herkunft zu entdecken und somit etwas von einer jüdischen Verschwörung zu faseln. Ukrainer seien verschlagen, bösartig und feige, ihr einziges Exportgut nach Europa seien „billige Nutten“. Gleichzeitig wird ihnen eine eigene Identität abgesprochen, ihre Sprache sei nichts als ein russischer Dialekt, in Wirklichkeit seien sie Russen und somit letztlich doch Brüder. Das Ukrainertum, heißt es manchmal, sei keine Ethnie, sondern eine Geisteshaltung oder eine Krankheit.

Die Anhänger der Ukraine kämpfen ihrer Ansicht nach gleichfalls gegen den Faschismus, der zeitgemäß als „Raschismus“ (eine Verballhornung des englischen Ausdrucks Russia) bezeichnet wird. Wladimir Putin mutiert als ideologischer Nachfolger Hitlers zu „Putler“. Die meisten Russen seien von Natur aus Sklaven, Säufer und Proleten, Imperialisten mit Minderwertigkeitskomplexen, faul, verschlagen, ordinär, feige und außerdem keine echten Slawen, sondern russifizierte Finno-Ugren, Mongolen und Asiaten und somit keine Brüder. Das eigentliche Zentrum des Ostslawentum liege in der Ukraine, die – im Unterschied zu Russland – definitiv zu Europa gehöre. Das hinderte die selbsternannten Verteidiger westlicher Werte und Lebensstile nicht daran, die ukrainischen Nazi-Kollaborateure und rechtsradikalen Nationalisten Stepan Bandera (1905–1959) und Roman Schuchewytsch (1907–1950), deren Anhänger Tausende von Polen und Juden ermordet hatten, zu Nationalhelden zu erklären und sie mit Denkmälern oder Abbildungen auf Briefmarken zu ehren, und der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk behauptete erst vor wenigen Wochen in einem Interview, die Sowjetunion sei am Ende des Zweiten Weltkriegs gleichermaßen in die Ukraine wie in Deutschland einmarschiert, als sei die Ukraine nie Teil der Sowjetunion gewesen und als hätte die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung das Ende der Besatzung und der NS-Vernichtungspolitik nicht als Befreiung erlebt.

Das alles ist nicht nur beschämend, schäbig und absurd, sondern vor allem schizophren. Jeder führt diesen Krieg mit und in sich selbst. Dass Menschen, von denen viele offenbar gebildet sind, oft ordinäre Schimpfwörter der übelsten Sorte verwenden, sexistische und homophobe Bemerkungen von sich geben, den meist gleichgeschlechtlichen „Gesprächspartnern“ jedoch wenige Zeilen später sexuelle Gewalt androhen, verstärkt diesen Eindruck noch.

Was ich hier verkürzt und zugespitzt wiedergegeben habe, kommt in unterschiedlichsten Varianten vor. Selbstverständlich ist dies alles nicht repräsentativ, weil nur eine Minderheit in politischen Foren präsent ist, an Demonstrationen teilnimmt, gewalttätig gegen andere vorgeht oder gar freiwillig in den Krieg zieht. Ich bin überzeugt davon, dass in Russland und der Ukraine die Mehrheit der Menschen in Frieden leben möchte. Leider sind es aber gerade fanatisierte und mit ihnen sympathisierende Minderheiten, die, wenn sie einmal eine kritische Masse erreichen, so einen Konflikt erst ermöglichen. Wäre besagte Minderheit – wie in Ländern mit starken Zivilgesellschaften und demokratischen Traditionen – weit von einer kritischen Masse entfernt, hätte ein imperialistischer Kriegstreiber wie Putin kaum die Möglichkeit gehabt, den gegenwärtigen Konflikt zu initiieren. Etwa 30.000 bewaffnete Separatisten könnten auf Dauer keine Region mit mehreren Millionen Einwohnern kontrollieren, wenn nicht eine ausreichende Anzahl in der Bevölkerung sie unterstützen würde.

Es gibt wenige Länder, die einander so ähnlich sind und eine so lange gemeinsame historische wie kulturelle Tradition haben wie Russland und die Ukraine. Jene, die heute mit Waffen und Worten gegeneinander kämpfen, haben oft dieselben Bücher gelesen, dieselbe Musik gehört, dieselben Geschichten gehört und dieselben Familientraumata von ihren Eltern und Großeltern übernommen. Dieselben Zitate aus der klassischen russischen Literatur werden von beiden Seiten vereinnahmt und als Metaphern für die derzeitige Krise ins Spiel gebracht.

Das kollektive Trauma führte bei vielen zu einer Verrohung, einem Zynismus und einer Menschenverachtung, die mit einem ausgeprägten, der Sowjetideologie und der Realität in einer Diktatur geschuldeten, Schwarz-Weiß-Denken einherging, der Sehnsucht nach einer starken Obrigkeit und der Vorstellung, alles werde ohnehin von den Mächtigen dieser Welt geplant. Diese Mentalität ermöglichte in Russland, der Ukraine oder anderswo im postsowjetischen Raum jene korrupten Regime, in denen Oligarchen unermesslich reich wurden, während die Mehrheit der Bevölkerung im schäbigen, von Armut und Verfall geprägten Alltag überleben musste. Dies war die Realität, welche die Menschen, die am „Euromaidan“ demonstrierten, zu verändern suchten, etwas, was der imperialistisch denkende und um den autoritären Führungsstil im eigenen Land fürchtende Präsident des Nachbarlandes nicht zulassen wollte.

Was viele – in Russland und in der Ukraine – zudem unterschätzen oder nicht erkennen, ist, dass Veränderung in erster Linie im Kopf passiert. Statt sich ehrlich und selbstkritisch der eigenen Geschichte und der Gegenwart zu stellen, um nach vorne schauen zu können, erscheint es den einen bequemer, von Russlands Größe, seiner Eigenart und Sendung in der Welt zu sprechen, den anderen, „Ruhm der Ukraine, Ruhm den Helden, Tod den Feinden!“ zu skandieren und Menschen in Müllcontainer zu werfen, während andere Menschen im Krieg umkommen. Die Verbitterung und die Traumata werden weitere Generationen prägen. In diesem Kontext scheint die Frage, wer gerade die Kleinstadt Debalzewo beherrscht, von eher marginaler Bedeutung zu sein. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2015)

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