Immer unterwegs

„Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“: So heißt Peter Handkes neues Schauspiel, das kommende Woche als Buch erscheint. Was bisher geschah: Versuch über Handke.

Entscheidend scheint mir, dass in Handkes Schreiben, das sich in mehr als 50 Jahren immer wieder verwandelt hat, die herkömmlichen Gattungsbegriffe je länger, desto weniger greifen. Seine Poetik, sein umfassender Begriff des Erzählens, kreist um eine neue Bestimmung des Epischen – und die prägt letztlich auch seine Theaterdramaturgie. Sein Werk erschließt sich nur der Gesamtschau. Sein Ideal des Erzählens ist nicht an die herkömmlichen Gattungen gebunden, er transformiert und überschreitet diese seit Langem.

Am triftigsten lässt sich dieses Spiel über alle Gattungsgrenzen hinweg an einem Werk illustrieren, auf das vielleicht sogar von allem Anfang an die poetischen Schreib- und Denkenergien Handkes gerichtet waren und das mit seiner Salzburger Uraufführung 2011 als das erkennbar wurde, was es ist: ein Summum Opus, auf das viel Vorangegangenes bereits hingewiesen hat. „Immer noch Sturm“ ist ein Erzähltext, in dem sich Episches, Lyrisches und Dramatisches mischen und der die Welt als schönen Raum erfahrbar macht, durchaus im Goetheschen Sinne. Im theaterpraktischen Sinn ist der Text ein Familien- und Partisanendrama, er arbeitet mit eingestreuten Regieanweisungen und Dialogen, die auf sieben Mitglieder einer Familie und ein „Ich“ in Anführungsstrichen verteilt sind. Dieses „Ich“ ist der Erzähler; er ist der Nachfahr einer verstreuten und zersprengten Sippe, der als Familienchronist figuriert, aber auch als Bote, Berichterstatter und Reporter der Zeitgeschichte. Er ist Spielleiter und Mitspieler, Mauerschauer undSpielverderber in einem.

Er steht zugleich innerhalb und außerhalb des Geschehens, das er erzählt und/oder imaginiert, während er einer Gedächtnisspur folgt, in der sich Erlebtes, Erinnertes und Erträumtes vermischen, aber auch lange unterdrücktes und verleugnetes Geschichtswissen endlich zutage und damit in sein Recht tritt. Endlich gewürdigt wird der einsame Kampf der Kärntner Slowenen im Widerstand gegen Nazi-Deutschland – ein Kampf, den Österreich nach 1945 nicht honoriert hat, im Gegenteil: Die Slowenen blieben eine entrechtete Minderheit, deren Sprache und kulturelle Eigenart vom Mehrheitsvolk unterdrückt wurden.

Handkes Werk sorgte hier für Anerkennung und poetische Gerechtigkeit, indem er die geschichtlich Namenlosen zu Helden seiner Erzählung machte. Damit gelang es ihm auch, sich und seine österreichischen Landsleute aus der deutschnationalen völkischen Unglücksgeschichte Österreichs zu befreien, indem er ein anderes Österreich zum Vorschein brachte, eine Alternative zur imperialen und zur nationalsozialistischen Vergangenheit des Landes.

„Immer noch Sturm“ ist also eine ganz eigentümliche und singuläre Mischung aus Familiensaga, Lesedrama, poetischem Totengespräch, Wunschfantasie und Historienstück. Es lässt sich als poetischer Prosatext lesen, ist aber auch eine Art Metatheater: die szenische Erzählung eines imaginierten Theaterstücks. Hinter dem Privatmythos, dem familiären Mysterienspiel, lässt Handke auch das Menschheitsdrama, die Kollektivgeschichte eines zerrissenen Volkes – seiner Leute –, aufscheinen. Er identifiziert sich mit der so lange gedemütigten slowenischen Minderheit in Kärnten, der er selbst entstammt.

Immer schon finden sich in Handkes Werk Hinweise darauf, wie intensiv er sich seiner Herkunft mütterlicherseits bewusst ist, wie stark ihn seine Herkunft aus einer sozial bedrängten und politisch bedrohten Kärntner slowenischen Kleinhäuslerfamilie geprägt und fürdie Leidensgeschichte des slowenischen Volkes in der Zeit des NS-Terrors sensibilisiert hat. Der Todder Brüder der Mutter, die als zwangsrekrutierte Slowenen im Hitler-Krieg gefallen sind, bildet die biografische Grundkonstellation, die in Handkes Werk in mannigfachen Abwandlungen und Variationen immer wieder auftaucht. Vor allem sein Lieblingsonkel Gregor, derObstbaumeister und Apfelpfleger, hat es in Handkes literarischem Kosmos zum Traumvorfahren gebracht, fast zu einer ArtHeiligengestalt in seinem privaten Herrgottswinkel.

Spätestens seit der Erzählung „Die Stunde der wahren Empfindung“ von 1975 verfolgt Handke ein bestimmtes Programm seines Lebens und Schreibens – ein Programm zunehmender Selbstbeobachtung, Selbstreflexion und Selbstkommentierung. In einem Zustand poröser Weltempfänglichkeit beobachtet er sich selbst beim Weltbeobachten. Weltwahrnehmung entsteht aus Selbstwahrnehmung. Der Umbruch lässt sich mit einer tiefen Lebens- und Sprachkrise zu Ende der 1970er-Jahre datieren. Allgemein gilt inzwischen die Tetralogie „Langsame Heimkehr“ als das Werk der persönlichen, ästhetischen und literarischen Wende. Handke gibt sich hier eine neue Schreibregel, entwirft eine neue Poetik der Verräumlichung des Erzählens. Eine neue Raummythologie wird erkennbar, ein geologischer, ein erdgeschichtlicher Blick auf die Urweltformen der Landschaft hinter dem vordergründig Sichtbaren. „Klassiker tendieren zum geologischen Denken“, bemerkt dazu der Salzburger Germanist Hans Höller, der als Erster Handkes Werk unter dem Begriff einer „ungewöhnlichen Klassik“ verortet hat. Auf diesen Klassikerstatus mag auch hindeuten, dass inzwischen die akademische Sekundärliteratur zu Handke fast schon schneller wächst als sein eigenes Œuvre.

Einerseits konstatieren also einige Literaturwissenschaftler bei Handke ab „Langsame Heimkehr“ eine Wende zum Klassischen; andererseits sieht so mancher zeitgeistige Kritiker ab da in diesem Autor nur noch ein produktives Ärgernis, erst recht seit den Jugoslawien-Kontroversen der 1990er-Jahre. Der Literaturbetrieb hat diese Aufgeregtheiten und Polemiken vom Ende des vorigen Jahrhunderts inzwischen endgültig hinter sich gelassen, auch wenn sich das bis Norwegen offenbar noch nicht herumgesprochen hat. Solche Anfeindungen können das Werk jedenfalls nicht beschädigen, denn sie verfehlen es von Grund auf. Das Werk zeigt sich seit den 1980er-Jahren mehr denn je als ein sich selbst reflektierender Prozess, der früher Geschriebenes wieder aufnimmt und modifiziert, sich aber auch selber den Prozess macht. So manche Protagonisten aus früheren Büchern wandern in die späteren Bücher ein. Viele Rückgriffe auf das frühere Werk lassen sich erkennen, aber auch lange Latenzphasen beim oft jahrelangen Bedenken künftiger Werke.

Handke arbeitet beharrlich an seinem literarischen Kosmos, er variiert und verfeinert ihn in Wiederholungen, reichert ihn an mit neuen Werken, erweitert ihn, baut an das bestehende Werk an, ist beständig im Dranbleiben und Nicht-Nachlassen. Immer empfindlicher wird sein Sensorium der Weltwahrnehmung, immer genauer die Selbstwahrnehmung, immer strenger seine Selbstreflexion, immer feinnerviger die Sprache. Das Werk ist offen, leicht, beweglich, fließend, die Sprache wird durchlässig für andere Sprachen, nicht nur das Slowenische, auch das Spanische, sogar das Arabische.

Bestimmend sind die strengen Exerzitien in reiner Gegenwartswahrnehmung, die Handke sich verordnet. Gegenläufig zu den zeitdiagnostischen und oft Plot-getriebenen Erzählmustern der Gegenwartsliteratur entwickelt Handke eine Epik der Ereignislosigkeit. Er will im Alltäglichen, im Unscheinbaren, im Marginalen das Zeichenhafte aufscheinen lassen und es fixieren in einer möglichst genauen und konkreten Ding-Sprache. Durch bewusste Blickänderung, die von allem Offensichtlichen konsequent absieht, will er hinter die Dinge schauen, auf der Suche, wie er sagt, nach „dem letztmöglichen Mythos: dem Mythos der Gegenwart – des Jetzt“. Das Jetzt soll erzählbar werden, soll überführt werden in ein episches Präteritum.

Handke ist der große Fußwanderer und Weltfahrer der österreichischen Literatur, worin ihm allenfalls Christoph Ransmayr nahekommt. Die Wanderung ist denn auch Handkes favorisierte narrative Struktur: Seine Wander-Erzählungen sind zugleich Lebensreisen und säkulare poetische Pilgerfahrten. Der Wanderweg ist immer auch Lebensweg – und Erzählweg. Wobei es ihm immer schon die Ränder besonders angetan haben, die Schwellen und Übergangszonen, die Säume. „Saum-Seligkeit“ nennt das der Handke-kundige Germanist Karl Wagner.

Handkes literarische Doppelgänger und Stellvertreter im Werk suchen immer Orte auf, die nicht historisch ausdefiniert sind, nicht von Sinn besetzt, nicht mit Bedeutung überfrachtet. Diese Nicht-Orte, Unorte, werden dann zeichenhaft aufgeladen, wie dies bei berühmten und ausgeschriebenen Welt-Orten gar nicht möglich wäre. Die Vorliebe der Protagonisten und Ich-Erzähler gilt dem „Nebendraußen“ – den Zwischenwelten und undefinierten Peripherien, den Schwellenräumen an den Stadträndern, den Übergängen vom Stadtraum in die unwirtlichen Stadtrandsteppen und Industriebrachen. Sie stromern im Abseits, nehmen Um- und Irrwege im Weglosen, streunen querfeldein in Niemandszonen und Niemandsbuchten.

Sie verlieren sich in den Hinterwelten, immer auf der Suche nach den Wundern des Alltäglichen und Profanen, nach jenen Intensitäts- und Begeisterungsmomenten, in denen im Unscheinbaren das Utopische zum Vorschein kommt. Dazu allerdings, dass solche vollkommenen Momente einer Erleuchtung der geheimen Hinterwelt glücken können, bedarf es, wie Handke sagt, fortwährender „Einschärfungen, Ermahnungen, Ordnungsrufe an mich selbst“. Keinen empfindlichen Leser wird solche Offenbarungsarbeit unberührt lassen. Seinen Gegnern ist das allerdings, bei entsprechend bösem Blick, Anlass für Spott, für allerlei langweilige, subalterne Häme.

Handkes große Reise-Journale und das wundervolle Quintett seiner essayistischen „Versuche“ (über die Jukebox, über den geglückten Tag, über die Müdigkeit, über den Stillen Ort, über den Pilznarren) sind solche Übungen in Gegenwartsmetaphysik. In ihnen bündeln sich Selbst- und Weltbeobachtung, Lektüre, Erinnerung, gelassene Nachdenklichkeit und, gelegentlich und immer öfter aufblitzend, Selbstverspottung.

Es kann nämlich dem aufmerksamen Leser nicht entgehen, dass Peter Handke beim Älterwerden immer deutlicher einen Sinn für Selbstkritik, ja sogar für Humor entwickelt – zumindest in seinem literarischen Werk, wenn vielleicht auch nicht im Leben. Und dafür ist die dritte seiner großen epischen Erzählungen nach „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ und „Der Bildverlust“ ein besonders gutes Beispiel. „Die morawische Nacht“ ist die Geschichte einer großen Selbstrevision und Selbstheilung. Dieses große Epos ist ein Abgesang auf Handkes Lebensthema: Traum und Trauma Jugoslawien. Es ist ein Abschied vom Traumbalkan, von Handkes Privatparadies, dem utopischen Modell eines friedlichen Vielvölkerstaats. Aber auch ein Abschied vom Trauma: von der durch Kriegsnarben entstellten Balkanwelt, einer von Kriegsmüll verunstalteten Landschaft und einer von ureingewurzelten, ererbten Feindseligkeiten zerrissenen Gesellschaft. Beides – Traum und Trauma – ist in diesem Werk vorbei und abgetan und wird verabschiedet.

Innehalten – Innewerden – Weitersehen: So lautet Peter Handkes Lebens- und Schreibformel, sein Triptychon der Nachdenklichkeit. Im Zeichen dieser dialektischen Trias ist er immer noch unterwegs zu neuen Anfängen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2015)

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