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ARCHIVAUFNAHME KARL RENNER 1945
ARCHIVAUFNAHME KARL RENNER 1945(c) APA
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Am 29. März 1945 stießen die Spitzen der Roten Armee über die ungarisch-großdeutsche Grenze vor. Die folgenden Tage entschieden die Nachkriegsgeschichte Österreichs.

Am 29. März 1945 stießen die Spitzen des IX. Garde-mechanisierten Korps der sowjetischen 6. Garde-Panzerarmee bei Klostermarienberg über die ungarisch-großdeutsche Grenze vor. Damit begann die Befreiung Österreichs von der nationalsozialistischen Herrschaft. Und das Land wurde zweigeteilt. Da waren die von den Russen freigekämpften Teile eines neuen Österreich. Und nebenan war das noch immer zu Großdeutschland zählende übrige Land. Während Letzteres aber von Tag zu Tag kleiner wurde, weiteten die Rotarmisten das von ihnen beherrschte Gebiet aus. Am 30. März erreichten sie Mattersburg, am Tag darauf Aspang und Kirchberg, und am Ostersonntag, dem 1. April, erreichten sie bei Gloggnitz die Südbahnlinie.

Das Kriegstagebuch der deutschen Heeresgruppe Süd nahm davon noch keine Kenntnis. So vieles geschah gleichzeitig. Um die Details sollten sich dann einmal die Historiker kümmern. Dazu gehörte beispielsweise auch, dass sich an diesem 1. April General Rudolf von Bünau in Wien als neuer Kampfkommandant vorstellte. Er machte sich keine Illusionen. Halb Europa war für Großdeutschland und die nationalsozialistischen Machthaber schon verloren gegangen, eine Hauptstadt nach der anderen gefallen, zuletzt am 13. Februar Budapest. Wenigstens gab es an diesem Ostersonntag keinen amerikanischen Luftangriff auf Wien. Wohl aber griffen 256 viermotorige Bomber St. Pölten, Selzthal, Krieglach, Graz, Villach und Klagenfurt an und setzen das Zerstörungswerk an Eisenbahnanlagen fort. Sogenannte Kollateralschäden inklusive. Tags darauf sollte es weitergehen. Es gab den letzten amerikanischen Luftangriff auf Wien und einen schweren Angriff auf Graz.

Aber die ersten Apriltage 1945 waren nicht nur Kriegstage, sondern auch Tage, an denen sich die Nachkriegsgeschichte Österreichs entschied. Soldaten der 103. Garde-Schützendivision der sowjetischen 9. Garde-Armee trafen in Gloggnitz mit Karl Renner zusammen. Wie das Ganze vor sich ging, hat freilich denkbar unterschiedliche Darstellungen gefunden. Und jede hat etwas für sich. General Štemenko, Mitglied des obersten sowjetischen Kommandos in Moskau, schrieb in seinen Memoiren, dass Stalin Renner suchen ließ. Dem steht die Version entgegen, dass Renner von sich aus zu den Russen gekommen sei. Eine dritte Version, die Renner selbst in Umlauf setzte, besagt, Renner habe das Kommando der 103. Garde-Schützendivision aufgesucht, um für den Schutz der Zivilbevölkerung zu bitten.

Gänzlich von der Hand zu weisen ist die schon regelrecht bösartige Verleumdung, Renner sei seine Uhr gestohlen worden, und er sei gegangen, um sich zu beschweren. (Tatsächlich bat Renner zwei Wochen später in einem Schreiben nach Moskau, man möge ihm eine gute Uhr schicken. Auch von Kaviar war da die Rede – doch wahrscheinlich stimmt auch das nicht.) Bleibt somit die unbestreitbare Tatsache, dass Renner und Angehörige der 103. Garde-Schützendivision in Gloggnitz zusammengetroffen sind. Recht naheliegend scheint zu sein, dass sich Renner auf die Begegnung vorbereitet hat und entschlossen war, den Sowjets seine Hilfe bei der Wiederherstellung geordneter Verhältnisse anzubieten. Die Rotarmisten verpackten den 75-Jährigen kurzerhand in ein Militärfahrzeug und brachten ihn zunächst nach Köttlach und dann nach Hochwolkersdorf zum Kommando der 9. Garde-Armee. Dort war man wohl schon vorgewarnt. Auf jeden Fall ließ man den alten Herrn reden und meldete das Gesagte unverzüglich dem Oberkommando der 3. Ukrainischen Front, das seinerseits Stalin informierte und telegrafierte: „Bei einer Befragung im Stab der Armee erzählte Karl Renner, dass er der letzte Präsident des österreichischen Parlaments ist, welches 1934 von der Regierung Dollfuß beseitigt wurde. Auf diesem Posten war er von 1925 bis 1934. 1918 bis 1920 war er Premierminister Österreichs.“ Und so weiter. Für Stalin sollten das alles keine Neuigkeiten gewesen sein. Aber dann kam's: „Dr. Renner erklärte: ,Ich bin alt, aber bereit, mit Rat und Tat bei der Errichtung eines demokratischen Regimes zu helfen.‘“ Die Wiener seien kriegsmüde und nicht fähig zu aktivem Handeln. „Ich als letzter Parlamentspräsident könnte das Parlament aufrufen, für die Kriegszeit eine provisorische Regierung Österreichs einzurichten. Nazis schließe ich aus dem Parlament aus. Damit könnte ich meine Funktion beenden und in den Ruhestand gehen“. Dann fügte man der Information für Stalin noch den Hinweis an, Renner würde bis zur Entscheidung Stalins in der „Verfügungsgewalt“ der 9. Garde-Armee bleiben. Postwendend kam es aus Moskau zurück: Karl Renner sei „Vertrauen“ zu erweisen, und die sowjetischen Truppen sollten ihn bei der Wiederherstellung eines demokratischen Regimes in Österreich unterstützen.

Während sich Renner noch zur Verfügung zu halten hatte, war eine Parallelhandlung abgelaufen, denn schon tags zuvor war aus Wien ein Oberfeldwebel namens Ferdinand Käs nach Hochwolkersdorf gebracht worden, der im Auftrag des Führers des pro-österreichischen Widerstands in Wien, Carl Szokoll, den Russen mitzuteilen hatte, dass in Wien ein Aufstand gegen die Deutschen vorbereitet würde. General Glagolev, der Oberkommandierende der 9. Garde-Armee, meldete prompt, dass das sowjetische Oberkommando Major Szokoll ein paar konkrete Aufgaben gestellt habe. Die Widerstandsgruppe sollte die Brücken über Donau und Donaukanal vor der Zerstörung bewahren und die Hauptquartiere der Verteidiger ausheben. Post- und Telegrafenämter, Radiosender, Kraftwerke, Wasserwerke, Fabrikanlagen, Banken, Eisenbahnstationen, Gebäude der Geheimen Staatspolizei und der NSDAP, sämtliche Polizeidienststellen und Kasernen seien zu blockieren, und schließlich sei der Roten Armee zu helfen, die Stadt unzerstört in Besitz zu nehmen. Ferdinand Käs hat nicht widersprochen. Doch eigentlich hätte es ihm klar sein müssen, dass die Russen Unmögliches verlangten.

Während das Geschehen um und in Wien seinen Lauf nahm, wurde Karl Renner nach Gloggnitz zurückgebracht, verfasste dort acht Aufrufe, von denen die Sowjets Gebrauch machen konnten, vor allem aber brachte er wunschgemäß seine Vorstellungen zu Papier, wie es in Österreich weitergehen sollte. Gleich anschließend wurde er in ein neues, vergleichsweise komfortables Quartier gebracht – nach Schloss Eichbüchel. Es hatte 1938 und 1939 dem Kommandanten der Fahnenjunkerschule für Infanterie in Wiener Neustadt, Erwin Rommel, gehört und beherbergte nun Karl Renner. Aufmerksam betreut von Rotarmisten.

Renner bekam wohl nicht mit, dass in Wien der Aufstand, den die Angehörigen des militärischen Widerstands entfesseln sollten, nicht stattfand. Drei Offiziere aus der Umgebung Carl Szokolls wurden verhaftet und hingerichtet. Szokoll selbst schlug sich nach Purkersdorf zu den Russen durch. Statt der amerikanischen Bomber beherrschten sowjetische Schlachtflieger den Himmel über Wien. Vier sowjetische Armeen kämpften sich durch das Stadtgebiet und suchten die Truppen des II. SS-Panzerkorps einzuschließen. Schließlich sprengten die Deutschen alle Donaukanalbrücken und am 13. April auch die Floridsdorfer Brücke über die Donau. Nur die Sprengung der Reichsbrücke misslang. Dann war Wien freigekämpft. Renner aber hatte mittlerweile seine Vorstellungen eines österreichischen Neubeginns dahingehend präzisiert, dass er den Russen vorschlug, die in Österreich lebenden Abgeordneten zum Nationalrat unter Ausschluss der Mitglieder der NSDAP zusammenzurufen, um mit ihnen die Zusammensetzung einer provisorischen Regierung zu besprechen. Was der Verweis auf Nationalsozialisten sollte, ist merkwürdig, denn im Nationalrat saßen keine Abgeordneten der NSDAP. Wie auch immer! In der neuen Regierung sollten jedenfalls 35 Prozent Sozialdemokraten, 35 Prozent Kommunisten, 20 Prozent Christlichsoziale und 10 Prozent Revolutionäre Sozialisten vertreten sein.

Den Sowjets, vor allem dem Mitglied des Kriegsrats der 3. Ukrainischen Front, General Alexej Želtov, schien das nicht zielführend zu sein. Er plädierte für eine Initiativgruppe, die aus Renner, den Bürgermeistern von Baden und Wiener Neustadt, Kollmann und Wehrl, sowie interessanterweise dem auch von Renner ins Spiel gebrachten letzten österreichischen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas bestehen sollte. Ein paar Kommunisten und nicht parteigebundene Intellektuelle sollten die Gruppe vervollständigen und als provisorische Staatsregierung fungieren. Von Stalin wurde erwartet, dass er entschied.

Mittlerweile schrieb Renner eifrig weiter Schließlich wandte er sich am 15. April in einem mittlerweile berühmt gewordenen, an Machiavellismus nicht zu überbietenden Brief an Stalin. „Sehr geehrter Genosse... Ohne die Rote Armee wäre keiner meiner Schritte möglich gewesen, und dafür bleibe nicht nur ich, dafür bleibt die zukünftige ,Zweite Republik Österreich‘ und ihre Arbeiterklasse Ihnen, Herr Marschall, und Ihrer siegreichen Armee für alle Zukunft zum Dank verpflichtet... Dass die Zukunft des Landes dem Sozialismus gehört, ist fraglos und bedarf keiner Betonung.“ Es war das erste Mal, dass die Bezeichnung „Zweite Republik“ fiel. Für Renner stand denn auch fest, dass Österreich nicht nur ein Staat der Linken werden würde, sondern auch, dass es 1938 nicht okkupiert, sondern annektiert worden war. Daher galt es, den Bruch mit der Vergangenheit und den Neubeginn deutlich zu machen.

Kurz nachdem Renner an Stalin geschrieben hatte, durfte er Eichbüchel verlassen und nach Gloggnitz zurückkehren. Für Ruhe war auch hier gesorgt. Folglich hatte Renner Gelegenheit, weiterhin seine Vorstellungen von dem, was nottat, zu Papier zu bringen. Als er am 18. April, fünf Tage nach dem Ende der Schlacht um Wien, in sein nächstes Quartier, in die Blaimschein-Villa in Wien-Hietzing, gebracht wurde, hatte er jedenfalls schon recht konkrete Vorstellungen. Zunächst einmal sollte abgerechnet werden, um eine neue Ordnung aufzubauen und den Sozialismus zu verwirklichen. Dazu bedarf es einer starken Regierungsgewalt, hielt Renner in einem an George Orwell gemahnenden Grundsatzpapier fest. „Alle Faschisten (Heimwehr, klerikale, nationale Faschisten), die nicht bloß Nachläufer waren, sind für eine zehnjährige Bewährungsfrist von allen demokratischen Rechten ausgeschlossen, somit weder wahlberechtigt noch wählbar und ämterfähig.“ Für die solcherart „Zensurierten“ gelten „die rechtlichen Bestimmungen des Diktaturrechts, einschließlich Anhaltelager, Todesstrafe etc.“. Zensurkommissionen sollten über die Zulassung von „eingeschriebenen Parteien“, aber auch über die Eignung zum Beruf eines Journalisten befinden. Eine Autonomie der Länder wird „für die nächste Zeit nicht in Aussicht genommen. Die Länder haben ihre Autonomie nach 1920 missbraucht zur ständigen Erpressung an Wien“ und zur „mehr oder minderen Förderung des Faschismus“.

Die „Wiener Polizei, Gendarmerie, Ortspolizei und Staatspolizei bilden einen eigenen Dienstkörper unter dem Polizeiminister“: „Die gesamte Organisation ist nach militärischem Vorbild gestaltet.“ „Die Körperpflege (Sport etc.) kann Gesichtspunkten der ,vormilitärischen Erziehung‘ Rechnung tragen.“ „Die Hochschulen werden in den ersten Tagen gesperrt. Die bisherigen studentischen Verbindungen sind aufzulösen.“ Was die Justiz anlangte, sah Renner einen „Ausnahmegerichtshof“ vor. Er sollte nicht Volksgerichts-, sondern „Sühnegerichtshof“ heißen. Über die „Ämterfähigkeit“ würden ebenfalls die „Zensurbehörden“ das letzte Wort sprechen.

Um einer Kapitalflucht vorzubeugen, müssten sofort Grenzsperren eingerichtet werden. Eine eigene Währung, Rückführung des ins „Reich“ transferierten Goldschatzes waren die wichtigsten Maßnahmen auf dem Gebiet der Finanzwirtschaft. Was die Volkswirtschaft anlangte, sollte das 1934 und 1938 der Arbeiterschaft geraubte Vermögen restituiert werden. Dann erst komme die „Rückgabe des geraubten Judengutes“, doch nicht an die einzelnen Geschädigten, sondern an einen Restitutionsfonds. „Für den Judenschaden soll grundsätzlich die Volksgesamtheit nicht haftbar gemacht werden. Natürlich sind die Maßregeln der Restitution nicht die Hauptprobleme.“ Diese seien vielmehr Währung, Preise und Löhne. Und dazu fiel Renner zwar viel ein, doch er resignierte. Die „dem kommenden Gemeinwesen erwachsenden Lasten“ würden so gewaltig sein, „dass an ihrer Tragbarkeit verzweifelt werden muss“. „Die lebende und die kommende Generation“ könnten nicht für „die Schuld der Vergangenheit schuldlos in alle Ewigkeit“ hungern und verbluten.

Am 19. April hatte Renner Gelegenheit, seine Ideen dem Oberbefehlshaber der 3.Ukrainischen Front, Marschall Tolbuchin, aber auch dem alten Christlichsozialen Leopold Kunschak sowie dem – wie die Russen meinten – „vorübergehend eingesetzten Wiener Bürgermeister Körner“ vorzutragen. Die Sowjets hatten sich mittlerweile in Wien eingerichtet, die meisten Häuser waren durchsucht, Brände – auch der des Stephansdoms – waren gelöscht, Tausende Leichen notdürftig begraben worden. Die Vergewaltigungen wurden weniger. Im Palais Epstein neben dem Parlament war die Stadtkommandantur eingerichtet worden. Unter anderem sorgte man dort noch für den Postversand. Doch es machte zu viel Mühe, die Briefe von gefallenen Rotarmisten zu expedieren. Sie verschwanden hinter den Parapeten der Heizkörper und sollten erst 60 Jahre später gefunden werden.

Bei der Begegnung mit Tolbuchin relativierte sich so manches von dem, das Renner so vor sich hingedacht hatte. Und es war das erste Mal, dass er Widerspruch erfuhr. Der ging aber nur zum Teil von den Russen und weit mehr von den aus dem Moskauer Exil nach Wien heimgekehrten österreichischen Kommunisten unter der Führung von Johann Koplenig aus. Er und die Seinen hatten sich seit Ende 1944 auf Nachkriegsösterreich vorzubereiten gesucht und waren enttäuscht bis geschockt, dass offenbar alles anders lief, als sie es sich vorgestellt hatten. Nur ein bisschen Volksfront war übrig geblieben. Koplenig meldete sofort den Anspruch der Kommunisten auf das Innen- und das Unterrichtsressort an. Und während Renner über die Not in Österreich und Maßnahmen zur Inbetriebnahme der Wirtschaft, das Aussaatproblem und Gesundheitsfragen sprechen wollte, machten die Russen klar, dass es ihnen ausschließlich um die Regierungsbildung ging. Renner spielte den Ball zurück und regte an, dass man ihm sowjetischerseits einen Befehl zur Regierungsbildung gebe. Darauf erwiderte Tolbuchin, „dass die Rote Armee die Regierung nicht durch einen Befehl einzusetzen gedenke“. Das sei Sache der Österreicher. Renner akzeptierte und meinte, „dass ihm nun bereits ein zweites Mal die Rolle zukäme, ,Österreich zu retten‘“. Und er versprach, bis zum 23.April eine Regierungsliste vorzulegen.

Angesichts der schon regelrecht friedlich scheinenden Atmosphäre, in der da beraten und hin- und her gefahren wurde, hätte man fast vergessen können, dass noch immer Krieg war. Im Raum St. Pölten, am Semmering und in der Steiermark gingen die Kämpfe zwischen Wehrmacht und Roter Armee weiter. Noch immer wurden von den Amerikanern Luftangriffe geflogen, und im Westen, Norden und Süden Österreichs bereitete man sich erst auf den Beginn der Kampfhandlungen und den Einmarsch alliierter Truppen vor. Ein Blick auf die zerstörten Städte, Industrien und Bahnhöfe, die kaputte Infrastruktur, hätte eigentlich mutlos machen können. So gesehen war das, was sich in Wien vorbereitete, auch wenn es ein wenig hybrid wirkte, ein bedeutsamer Hoffnungsschimmer.

Tatsächlich hatte Renner seine Regierungsliste am 23. April fertig. Zwei Tage später wollte er an die Öffentlichkeit treten. Doch da tat sich eine nicht zu unterschätzende Hürde auf. Renner und die Sowjets hatten bis dahin getan, als ob sie die Zukunft Österreichs unter sich ausmachen könnten. Doch da waren noch die Westalliierten, die es zu berücksichtigen galt. In Moskau wurde denn auch hin und her überlegt, wie man den westlichen Verbündeten die Sache beibringen konnte. Klar, dass man es so darstellen wollte, alles ginge auf eine Initiative Renners zurück. Dass die Kommunisten in seiner Regierung ausgerechnet das Innen- und Unterrichtsressort besetzen wollten, war vielleicht ein Schönheitsfehler. Doch insgesamt konnte man auf Ausgewogenheit hinweisen. Aber würde das reichen?

Da fiel offenbar Renner eine Lösung ein: Es sollte nicht nur in den Staatssekretariaten einen Dreierproporz geben, sondern es sollte auch ein weiteres Staatssekretariat geschaffen werden und unbesetzt bleiben. Das würde erst dann zu besetzen sein, wenn auch Vertreter aus dem Westen und Süden Österreichs nach Wien reisen und damit Einheit demonstrieren konnten. Dem Volkskommissariat für Auswärtiges in Moskau blieb schließlich nichts anderes übrig, als die westlichen Staatskanzleien zu benachrichtigen, dass Herr Renner beabsichtigte, in Wien eine Regierung zu bilden. Ohne die Reaktion des Westens abzuwarten, doch zwei Tage später als geplant, bekam Renner dann grünes Licht für die Inbetriebnahme seiner Regierung.

Am Freitag, dem 27. April, trafen sich die Staats- und Unterstaatssekretäre im Wiener Rathaus. Und erstmals in der österreichischen Geschichte gehörte auch eine Frau, Helene Postranecky, einem Kabinett an. In feierlicher Form, in einem halb zerstörten Rathaus, konstituierte sich die Provisorische Staatsregierung und verabschiedete die erste und einzige Unabhängigkeitserklärung Österreichs. Vieles wurde in einer langen Präambel angeführt, was zur Erklärung dienen sollte, dass Österreich gewaltsam an das Deutsche Reich angeschlossen worden war, dass es beraubt und entrechtet worden sei, dass es schließlich in einen Krieg gegen Völker geführt worden wäre, gegen die „kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat“. Independence Day auf Österreichisch.

Auf Verlangen der Kommunisten wurde auch der Satz der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 in die Verlautbarung aufgenommen, wonach Österreich für seine Teilnahme am Krieg eine Verantwortung trage, der es nicht entgehen könne. Doch letztlich handelte Österreich gerade mit seiner Unabhängigkeitserklärung ganz im Sinn der Deklaration und setzte ein unmissverständliches Zeichen der Überwindung des Nationalsozialismus und der Abkehr von Deutschland. Die „Macht“ der Provisorischen Staatsregierung endete freilich vorerst an Donau, Traisen und Lafnitz. Der Westen signalisierte strikte Ablehnung und wollte Renner und die Seinen nicht zur Kenntnis nehmen. Der Krieg ging weiter. Doch sein Ende zeichnete sich ab, und man konnte hoffen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2015)

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