Der Rest war Hohn

Sie heißen Joseph Eybler, Joseph Wilde, Joachim Höllmayer oder Josef Weigl: jene großen Söhne Österreichs, die rund um den Wiener Kongress Grundlegendes für die Entwicklung der Musik erarbeiteten – und heute so gut wie vergessen sind. Eine Erinnerung.

Er hat Konjunktur. Nicht so sehr wie zuletzt das 1914er-Herumklugsein. Aber doch. 200 Jahre sind es diesmal ja schließlich schon her. Der Wiener Kongress, etwas legendärals Jahrzehnte hindurch unhinterfragter Mittelschulgegenstand, im österreichischen Trivial-Geschichtsunterricht (also in beinahe der gesamten, über unsere großen Töchter & Söhne ziemlich mies gestreuten Historienschulung) auf einem würdigen Platz.

Was damals so wirklich und folgenreich passierte? Na ja, fragen Sie einmal nur ganz grundsätzlich . . . oder lieber nicht, Sie werden die skurrilsten Antworten kriegen.

Es geht nun aber nicht darum, dass, wie in würdigen Büchern und mittels feiner Symposien aufgearbeitet und mit Ausstellungen geprunkt, der Wiener Kongress Europa so gefügt hat, wie das noch für die Fügung der EU Gültigkeit besaß. Nachstehend geht es schlicht um Weltmusik, um eine, welche – im Gegensatz zu 95 Prozent, die sich heute damit schmückt – diesen Ehrentitel auch verdient, um eine Sache der europäischen Kultur und um etwas, was in unserer Zeit der Auflösung Europas eine ziemlich heftige Signifikanz hat.

Haben könnte.

Denn es wird in diesen Tagen aus Topoi nachgeplappert, über den tanzenden Kongress geschwafelt sowie glücklich rapportiert, als würde man aus Theater- oder Filmproduktionen der Post-Johann-Strauss-Welthit-Operette „Wiener Blut“ erzählen. In Frühbiedermeier-Schnurren bettet man stets gern Wien-Nostalgie, der Kaiserhaus- und Geniekult-Boulevard blüht.

Ja, zugegeben, man ließ damals für ein paar Monate die Sau raus. Zugegeben auch, Europa erlebte einen Schub im Kommunikativen. Bei Kriegen in den Jahrhunderten zuvor hatten sich die damit belustigenden Herrscherhäuser, die jeweils mit der Abwicklung befassten Adelspartien, die Geschäfte tätigenden Großbürgerverbände und die diversen dabei draufgehenden Völker untereinander ja kaum persönlich gekannt. Und dannso etwas!

Man traf sich in Wien, hatte die Chance, nicht nur Weltgeist zu spielen, sondern auch Welthedonismus und Welthurentum. Man bemerkte, dass – abgesehen vom besonderen Pflaster, welches die Stadt und das engere Österreich trotz seiner spießig-dummen Herrscherkaste offerierten – Friedenskonferenz-Party-Machen für fast alle Schichten mit Lustfaktoren verbunden sein kann (auch eine Erfindung gültig bis heute).

Man fand sich in einer Stadt wieder, wo es so viel Musik gab, neue Musik, U-Musik gar, um den Körper damit wonnig zu drangsalieren . . . Musik in verschiedenen Stilen, nationalen Ausformungen . . . eine Stadt, in der Mozart und Haydn jüngst gelebt hatten, in der ein schwieriger, unumschränkter Absolutherrscher für E-Musik, Beethoven, dahinvegetierte und Jahr für Jahr seine Adorantenscharen weltweit mit Avantgarde überschüttete . . . eine Stadt, die Virtuosen und fetzige Musikpraktiker aufsaugte . . . die massenhaft Geld hinausschmiss, sich manchmal für Stunden über jede Konvention hinwegsetzte, gern viel fraß, in der man ob des umliegenden Weinanbaus und sonstiger eifrig betriebener Alkoholika-Spezereien wohlfeil soff.

Fakten aus der Praxis (subsumierend): Nach der Völkerschlacht bei Leipzig, Oktober 1813, und der Abdankung Napoleons trat also so ein Wiener Kongress zusammen, um die Neuordnung Europas festzulegen. Er begann am 18. September 1814 mit einer Sitzung der Großmächte Österreich, Russland, Großbritannien und Preußen und tagte offiziell vom 1. November und mit der neuerlichen Kriegsunterbrechung bis zum 9. Juni 1815 (er endete also noch vor der Waterloo-Schlacht).

Die Kongressvorbereitungen für diegleichzeitigen Feierlichkeiten waren bereits seit Jänner 1814 in vollem Gange. Durchführung und Organisation der Feste oblag dem Obersthofmeister Fürst zu Trauttmansdorff-Weinsberg, von Metternich für Folgendes in vielfacher Ausfertigung beauftragt: Beleuchtung der Stadt, großes Konzert bei Hof, großer Hofball, Kammerball, Redoute parée, Redoute mit Buffet, stets „große Musik in der Reitschule“, Fest in der Orangerie, Volksfest im Augarten, Feuerwerk im Prater, Carroussel in Laxenburg und in der Winterreitschule, Schlittenfahrt, Schauspiel, Spektakel in den Hoftheatern und Jagd. Eigentlich war das in nuce bereits eine Explosion als politisch Parallel-Unterhaltenes, als neues, politisches Forum mit Auswüchsen bis zum Dolce Vita à la zweite Hälfte 20. Jahrhundert. Das Programm diente nämlich nicht nur dem Vergnügen, es bot auch Gelegenheit zur geschmeidigeren Fortsetzung der offiziellen Verhandlungen in einer zwanglosen Umgebung. Aber es blieb nicht bei den Vorgaben von oben. Die vom Hof und, seinem Beispiel folgend, von den Botschaften und vom hohen Adel veranstalteten Feste hatten den Zweck, „tunlich oft die Kongressteilnehmer wie zufällig zu vereinigen“.

Es trafen sich Vertreter von 65 Staaten. Außer den Kaisern und Königen von Russland, Dänemark, Preußen, Bayern und Württemberg, die mit ihren Familien in der Hofburg untergebracht waren, befanden sich 468 Diplomaten in Wien, wobei die russische Delegation allein aus 62 Mitgliedern bestand. Und so fort. Die Wiener Innenstadt und deren Palais platzten wohl aus allen Nähten. Dem politischen Rahmen entsprechend, waren die Feste des Kongresses aber eine Sache des Hofes. Zunächst.

Aus den Berichten ergibt sich ein intensives Bild für die Wintermonate. Viel davon wurde schon ediert, beschrieben. Zusammengefasst erscheint es aber oft skurril und war doch zugleich ungemein prägend für den Bereich Musik und Gesellschaft, und das bis heute!

Noch einmal Vorgeschichten (jetzt paradigmatisch): Man agierte auf der Wien-„Basis“, seit mehr als zwei Jahrzehnten eine Musikkomödienstadt der besonderen Art (zwischen Volkspossen und „Zauberflöte“-Nachfolge), gemixt mit bigottem Antiaufklärertum (zwischen „Schöpfung“ und Religionsdrohungen).

Spätestens ab 1810 wurde Wien für die Weltpolitik sukzessive zur prägenden Festmetropole. Schon beim Frieden von Schönbrunn und der darauffolgenden, allerdings nicht so wirklich befriedenden Kaisertrauung (1809), nach des Geburt des Kaisersohnes, des Herzogs von Reichsstadt(zunächst König von Rom, 1811), während der Sommer des Wiener Hofes in Prag und Wien (1812, parallel zu den Russlandfeldzügen!) wurden Feste und Redouten gegeben ähnlich denjenigen dannbeim Kongress, solche mit dafür komponierter Musik, Theaterpiecen, Hanswurstiaden, Banketten und mit zum Teil freien (!) Eintrittskarten in Tausendschaften für das musik- und unterhaltungsgierige Volk.

Österreich plus Verbündete erklärte dem verschwägerten Frankreich 1814 zwar den Krieg, im Privaten blühten die Hofkinderbälle weiter, garniert mit frisch gedruckten Walzerfolgen. Und so fort. Der tanzende Wiener Kongress war keine Ad-hoc-Erfindung. Ein Jahr gab es also Vorbereitungen auf jener „Basis“, dann kam die Eigendynamik. Es glitten dabei die Unterhaltungen mit neuer Musik irgendwie aus dem Ruder und blieben selbst nach den politischen Fixierungen Europas bestehen: Hofbälle, Maskenredouten, Carroussels vornehmlich in der Hofburg, von den Ministern und Diplomaten veranstalteten Privatbälle in deren Palais sowie Feuerwerke und Bankette im Prater und im Augarten, die man als „Völkerfeste“ inszenierte. Es war Metternichs „Regietheater“, über dessen Wirkung der Fürst de Ligne gesagt haben soll: „Eine seltsame Sache, die man hier zum ersten Mal sieht: Das Vergnügen erringt den Frieden.“

Zahlenspiele aus einer übergroßen Fülle: Hofball schon am 30. Juli 1814 im Appartement der Kaiserin, im Vorfeld Tanzveranstaltungen, dann in vier Monaten zwischen dem 2. Oktober 1814 und dem 7. Februar 1815: drei Hofbälle, acht Kammerbälle darunter auch mit Soupée, zwei Hof-Redouten, zwei Redoute parée und drei Carroussels in der Winterreitschule und ein Volksfest im Augarten mit Ball, weiters mindestens 25 offizielle sowie daneben kleinere Privatbälle, die „Völkerfeste“ mit Rieseninszenierungen, Massen an neuer, Musikaustausch oft mit national gefärbter Musik in Redouten für bis zu 10.000 Menschen. Bei den „kolossalen“ Volksfesten im Augarten mischten sich die Monarchen bereits unter die Leute. Die Ausstattung war monumental und das Programm abenteuerlich sowie auf die jüngste Vergangenheit anspielend: Etwa mit Neptunsgrotte, Kanonenmonument von Moskau und Lanzenallee, am Hauptplatz das Brandenburger Tor, Wettrennen, Pferderennen, Seiltänzer, gymnastische Produktionen, „einen hundert Fuß hohen Mast, von dem ein Sohn Andreas Hofers den Vogel mit der Armbrust herabschoss“, ein Luftschiffer, „der Fähnchen in allen Nationalfarben herabflattern ließ“, Tafel, Feuerwerk, „in vier großen Zelten wurden österreichische, ungarische, böhmische und tirolische Nationaltänze aufgeführt“; abschließend fand dann gleich noch ein Ball statt.

Die Sache akzelerierte, über Wien hinaus. Budapest etwa machte mit den Kaiserfamilien Parallelveranstaltungen. Man wurde so wenigstens im Festlichen des Kongresses beinahe globalisierend. Aber – Neue Musik heißt ab nun vor allem neue Tanzmusik, für alle Stände.

Für alle – denn das „Volk“ kopierte.

Der Walzer war schon standesneutral. Die Fülle an Polonaisen, Quadrillen, Eccossaisen oder suitenartigen Contra-Tänzen, bis an die 50 Stück hintereinander, wurde für alle Schichten zugänglich. Der Massenmusikdruck, einer der wesentlichen Faktoren für die Musikdistribution, scharrte quasi in den Startlöchern. Dieselbe Tanzmusik (die U-Musik, die – noch bestehende – Verbindung von Hochstil und Geschmacksstil) wuchs zum Desiderat für jede Bevölkerungsgruppe (wie die Popmusik dann heute und endgültig). Eine Reihe von höchst professionell arbeitenden Komponisten lieferte das „vom Grund hinauf bis ins Kaiserhaus“, aber im Akkord. Es sind das Personen gewesen, die in wenigen Jahren Grundlegendes für die Entwicklung von U-Musik als Weltfaktor bis heute erarbeiteten, „große Söhne“ Wiens/Österreichs, heute kaum mehr entsprechend gewürdigt. Sie heißen Joseph Eybler, Joseph Wilde, Joachim Höllmayer, Josef Weigl, nach 1815 waren es musikalische Größen (und manchmal tragische Menschen) wie Michael Pamer, Joseph und Johann Faistenberger, Mathias Schwarz, Anton Carl und Johann Alois Drahanek oder Franz Pechatschek. Sie bereiteten den Boden für Lanner und Strauss.

Man könnte Romane schreiben, Fortsetzungsgeschichten, Serien drehen über diese Aufmischungen während eines knappen halben Jahres: Über die den jeweiligen Landescapos (vor allem Zar Alexander, der das Kongresstanzen bis zur körperlichen Selbstbeschädigung genoss) dedizierten Klänge, Nationaltrachten-Feste und Performances; über Privat- und Riesenevents zum Teil bereits mit aberwitzigem Showcharakter. So liefen in der Winterreitschule historisierende Tourniere mit Quadrillen, europaweit aufgefächert bis zur türkischen Musik. Militärkapellen agierten erstmals in Verbänden. Hof-Redouten für Tausende wurden ausgerichtet (wobei langsam ein neues Problem auftauchte, nämlich gefälschte Karten). Winterbelustigungen des Adels gab es outdoor; die gemeine Kaste durfte dabeistehen und den sich produzierenden „Stars“ beim Schlittenfahren plus Musik et cetera zusehen. Parallelen zu Filmbällen und Fürstenhochzeiten heute drängen sich auf. Dann: Vergnügungstempel (wie der Apollosaal oder der bei der Mehlgrube) wurden im Winter theatralisch frisch ausgeschmückt, mehrere Bandas spielten gleichzeitig, und „die Monarchen mischten sich unters Volk“. Oder: Die Salons entwickelten sich rasant, zum Beispiel nur derjenige der Arnsteins, wo man neben Kongress-Protagonisten und E-Musik-Größen immer wieder das Volk in Straßenkleidern zuließ und dabei Köstlichkeiten aus halb Europa anbot. Ein nur mit einem ebensolchen Riesenaufwand zu beschreibendes Panoptikum.

Viel ist musikalisch ediert, aufgelistet. Weitere Quellenerfassungen erzielten quantitativ noch andere Ergebnisse. Der Wiener Kongress lief vor allem ob der Musik und deren öffentlichen Folgen fast auf einen Mix-up der Stände hinaus, eine scheindemokratische, so wie heute die europäischen Königshäuser und die Glamour-Zusammenrottungen permanente Sitcoms für die Massen abgeben. Metternich muss wahrscheinlich langsam entsetzt gewesen sein. Die Folgen kennt man.

Die Folgen aber jenseits des politischen Vormärz? Musikalisch waren es der Schub in den Musikbiedermeier und in die erweiterte Übernahme nationaler Musiken beiNeukompositionen, Tanzangebote zwischen bleibenden Kammerbällen bis zu Etablissements rund um den Donaukanal sowie dasjenige, was wir als U-Musik in Romantik beschreiben. Allein, das sind Spotlights auf Glanz und Glorie des tanzenden Kongresses mit Auswirkungen auf die Weltgeschichte danach. Sonst? Ein paar Anmerkungen: Die Logistik der Organisatoren und Zulieferer ist bewunderungswürdig, nicht nur für die oft mehreren täglichen Feste selbst, auch im Herbeischaffen von Nahrung (bis aus dem Mittelmeerraum) und Getränken, von Ballutensilien, Kleidern, Kostümen und mehr. Die Prostitution stieg um Hunderte Prozent, der Alkoholkonsum auch während Teuerungsschüben und Bankrotten. Die Hygiene in Wien war bald nur mehr mit der heute so genannten Vierten Welt vergleichbar.

Aber der Wiener Kongress mischte die Musikstile neu untereinander.

Anhand von Vergleichsstudien ließe sich viel über die Entwicklung von Tanzmusik (vor allem Walzer) und National-Volksmusik-Einflüssen forschen.

Oder ganz märchenhaft. Halbwüchsige namens Schubert, Lanner oder Strauss drückten sich vor den Etablissements die Gesichter platt und sogen auf. Wien und eine ganz neue Musikverwertung inklusive Hedonismus aller Stände bestimmten kurzfristig die Welt. Es gibt Berichte, die übereinstimmend erzählen, dass das, was für eine Europa-Neuorientierung am Konferenztisch nicht funktionieren wollte, abends zwischen Suff, Tanz und eingebettet in süßer wie gieriger Musik locker gelöst werden konnte. „Auf einem Balle wurden in der Musik Königreiche vergrößert oder zerstückelt.“

Ja. Noch etwas, aktuell. Es gab hierorts den Plan, eine Idee vielleicht nur. Neben braven Ausstellungen und Publikationen wäre es doch ganz fein, sich irgendwie in Wien einmal wieder zusammenzureißen und eine Parallelaktion zu starten. Ein neuer Wiener Kongress sollte her! Nicht einer, wo man gleich die Probleme zwischen Ukraine und Syrien löst. Aber einer, wo Wien in der Musik zu sich selbst findet und Signale in die Welt aussendet. Warum kein neuer Wiener Kongress für Wiener Musik, der Avantgardeströmungen, der Weltmusik und so fort, initiiert als lockeres Treffen möglichst vieler? Der Markenname wäre da.

Es gab Interesse, manchmal Begeisterung. Ja, so hieß es, Musik, aktuell, miteinander, bedacht, bestritten, ausgetauscht, gespielt, gehasst und umarmt – das ist doch das Einzige, was wir mit Weltaufmerksamkeit können!

Man trug so etwas, schüchtern, an politisch, wirtschaftlich, medial zuständige Stellen der Stadt und des Landes heran.

Antworten: Zu 90 Prozent überhaupt keine, der Rest war Hohn. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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