Letzte Strophe

„Expedition Europa“: Hien, 20, und die ungarische Seele.

Lange wusste ich nicht, durch welches Prisma ich mir die Rückbesinnung vieler Ungarn auf ihre ungeklärte asiatische Herkunft anschauen sollte. Da ist gleich nebenan eine bücherverrückte europäische Hochkultur auf der Basis einer nichteuropäischen Sprache entstanden, nun aber werden Ortsschilder in Runenschrift aufgestellt, die Massen huldigen einem Kult hunnischer Steppenreiter, und Alleinherrscher Orbán nimmt sich ein Vorbild an „China, Singapur, Türkei und Russland“: „Der ungarische Staat wird sich nicht weiter an liberale Werte halten.“

Dann versank ich eine Nacht in Videoclips des wunder-traurigen ungarischen Volksliedes, das mir von meinem gescheiterten Ungarischstudium geblieben war: „Ich habe gehört, mein Engelchen, das Pferd ist mit dir gestürzt. Du hast dir die Hand gebrochen, womit umarmst du mich jetzt?“ Aus dem Lied entfaltete sich eine gewaltige Bandbreite: Während zügellose Rösser durchs Pusztagras galoppierten, sinnierte ein Pusztaknabe unter einer Großungarnkarte; ein Glitterzigeuner fidelte vor den Wespentaillen weißer Geigerinnen; die Hände fischweibmäßig in die Hüfte gestützt, trällerte eine Trachtenblondine die Schunkelversion. Zwischen Indie-Rockern und stümpernden Wahlrednern rührte mich aber stets die Version eines Teeniepopstars. Hien sang „A Csitári hegyek alatt“ als schlichte Ballade, bei einer Misswahl, auf Firmenfeiern. Hien hatte vietnamesische Eltern. In der Wikipedia stand, die Eltern seien verhaftet worden, „weil sie Asiaten nach Ungarn hinein schmuggelten.“ Da dachte ich, das ist meine Frau.

Im Beverly Hills hinter Nitra

„Am Fuß der Berge von Csitár“, so beginnt das Lied, „ist lang schon Schnee gefallen.“ Wer ein Ungar ist, kennt das Lied, Csitár würde aber keiner auf der Karte finden. Überraschung, Csitár heißt heute anders und liegt in der Slowakei. Ich fuhr also über Štitáre zu Hien. Das Dorf lag naturquellenstill am Fuß der sieben Hügel hinter Nitra. Eine Verona Nagyová hatte 1914 das Lied Zoltán Kodály vorgesungen. Damals war das Dorf rein ungarisch, auch wegen der neuen Villensiedlung „Beverly Hills“ beträgt der ungarische Anteil nur noch 27 Prozent. Die resche rothaarige Bürgermeisterin erzählte: „Jedes zweite Wochenende kommt ein Autobus aus Ungarn.“ – „Sind die nicht enttäuscht, wenn sie ein slowakisches Dorf finden?“ – „Das bringt das Leben. Sie freuen sich, wenn wer Ungarisch kann.“ Die Bürgermeisterin konnte es. So wie andere Štitárer auch übersetzte sie den Liedtitel anders ins Slowakische, als dies auf der Gedenktafel geschehen war. Ich wies sie darauf hin. Sie glaubte mir nicht. Führte mich zur Tafel. „Ja gibt's denn so etwas“, entrüstete sie sich, „die haben ,Berge‘ falsch übersetzt.“

Ich fuhr nach Budapest weiter. Hien, 20, hatte mich ins Thermalhotel Gellert bestellt, kurz vor ihrem Aufbruch zum Musikstudium in Berkeley trat sie in einem Kindermusical auf. Wow, „Hiengarian!“, sie war so hübsch wie auf Youtube! Sie erzählte: „Es ist das einzige Volkslied auf meiner Set-List. Ich wollte die Herzen der Ungarn rühren.“ Ich fragte sie nach dem Asiatischen im Ungarischen. Dazu fiel ihr nichts ein. „Also zwischen Vietnam und Ungarn habe ich keine Gemeinsamkeiten gefunden. Mein Herz schlägt eher europäisch. Vietnam finde ich sehr wild.“

Irgendwann musste ich nach der Verhaftung der Eltern fragen. Die Managerin, welche bislang nur ins Handy getippt hatte, zuckte zusammen: „Das war ein Missverständnis.“ Hien riss ihre großen Augen auf: „Wie gesagt, ein Missverständnis. Meine Eltern sind frei. Aber die Leute in Ungarn wissen das!“ Schließlich noch ein Detail zum Volkslied. Der Schluss führt tief in die ungarische Mythologie, das Neigen zweier Rosmarinbüsche im „runden Wald“ kündigt den Liebenden das Happy End an. „Hien, warum singen Sie nie die letzte Strophe?“ – „Weil ich sehr melancholisch bin.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2015)

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