Ein Polygon namens Ring

Jede Gesellschaft formt ihre Räume, und so hat jede Generation die Pflicht, auf ihr Erbe zu achten– und gleichermaßen die Räume zu schaffen, die sie braucht. Vom Bauen und vom Weiterbauen: Vor 150 Jahren wurde die Wiener Ringstraße eröffnet.

Spätestens ab dem Frühjahr 1857ging es Schlag auf Schlag: Nachdem das Ministerium des Innern unter Alexander von Bach über „Die Presse“ implizit städtebauliche Veränderungen in Wien hatte andeuten lassen, erfolgte am Jahresende die offizielle Verlautbarung des kaiserlichen Entschlusses zur Stadterweiterung. Die gesamte administrative Abwicklung des Unternehmens lief über den Schreibtisch des ministeriellen Juristen Franz Matzinger, der die wichtigsten Schriftstücke für das städtebauliche Großereignis verfasste. So auch das viel zitierte kaiserliche Handschreiben vom 20. Dezember 1857, das mit dem Auftrag an Bach retourniert worden war, einen öffentlichen Wettbewerb für die Bebauung des Glacis durch einen Masterplan („Grundplan“) auszuschreiben.

Bei dem lediglich als Stadterweiterung apostrophierten Megaprojekt ging es um nichts Geringeres als die Großstadtwerdung der Donaumetropole – um Wien zur repräsentativen Hauptstadt des Reichs zu machen, aber auch um gegenüber London, Berlin, München und Paris konkurrenzfähig zu werden. Matzinger arbeitete, unterstützt von ministeriellen Ingenieuren und lokalen Architekten, am Ausschreibungstext, der am 31. Jänner 1858 publik gemacht wurde und in einen Wettbewerb mündete, zu dem 85 Projekte eingereicht wurden. Angetrieben von der Verve Bachs stand noch vor Jahresende 1858 das Ergebnis des Preiskampfs fest: Drei Projekte wurden mit einem ersten Preis ausgezeichnet, sieben weitere wurden mit kleineren Geldpreisen bedacht.

Anschließend debattierte eine aus den Wettbewerbsgewinnern und unterschiedlichen Vertretern von Behörden zusammengesetzte Kommission über die folgenschwere Planung, und so mancher ausgezeichnete Architekt wies emphatisch auf die Qualitäten seines Projektes hin. Nach vier Monaten hatte dieses Gremium einen aus den eingereichten Ideen kompilierten „Grundplan“ erstellt, der im Herbst des Jahres 1859 das kaiserliche Plazet erhielt und ab dem Frühjahr 1860 teilweise auf dem Glacis ausgesteckt wurde.

Während ab 31. Jänner 1858 der Wettbewerb lief, rückte man den ersten der zehn Bastionen und langen, in Ziegelsteinen gemauerten, Kurtinen zu Leibe: Bei Tag und bei Nacht (sogar mit elektrischem Licht) wurde die Befestigungsanlage mittels einfachem Werkzeug, aber auch mit Sprengungen demoliert und die Stadt so ihrer Mauer entledigt, ohne dass man wusste, wie das Gebiet in Zukunft bebaut werden würde. Der Abbruch der Stadtmauer wurde ersehnt und willkommen geheißen, kritische Stimmen waren trotz der 1853 gegründeten Vorgängerorganisation des Denkmalamts kaum zu hören. Die Nostalgiewelle für „Alt-Wien“ setzte erst einige Zeit später ein.

Matzinger wurde zum Leiter des aus der Taufe gehobenen Stadterweiterungsfonds bestellt, in welchen die Einnahmen aus den Grundstücksverkäufen flossen und aus dem beträchtliche Summen für die Errichtung von Monumentalbauten entnommen wurden. Nichtsdestotrotz, und gerade weil der Stadt Wien die kostenaufwendige Erstellung und Erhaltung der Straßen und Grünanlagen überlassen wurde, hatte dieser Fonds durch Matzingers Geschick am Ende der Monarchie einen nicht unbeachtlichen Überschuss zu verbuchen.

Bis auf den Verlauf des Boulevards decken sich heute nur wenige Baublöcke sowie die Lage der heutigen Staatsoper und der Rossauer Kaserne mit dem ursprünglichen städtebaulichen Plan. Die Modifizierung hängt damit zusammen, dass die Bauzeit des Gesamtprojekts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs andauerte, im Laufe der Zeit zurückbehaltene Landreserven und Bauobjekte anderen Nutzungen zugeführt werden konnten, sich verschiedene Planergenerationen in die Errichtung der Ringstraßenzone einbrachten sowie neue Anforderungen an diesen zentralen Bereich der Stadt gestellt wurden. Am 1. Mai 1865 schritt man zur feierlichen Eröffnung der Ringstraße – auf den Tag genau sieben Jahre nachdem man den Franz-Josefs-Kai eröffnet hatte.


Neben der in Stein gegossenen
staatlichen Präsenz im Zentrum des Reichs befriedigten viele Parvenüs der Gründerzeit ihren Repräsentationsdrang an der Ringstraße – sie war auch ein beliebtes Sujet humoristisch-satirischer Schriften und Karikaturen, aber auch diffamierender Anfeindungen. Noch vor Fertigstellung der ersten Bauten begann die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Boulevard. Romane und Novellen, Kompositionen und Bilder dedizierte man dem neuen Stück Stadt. Karl Kraus etwa lässt sein Weltuntergangsepos mit jedem Akt schleifenartig bei der berühmten Sirk-Ecke beginnen. Arthur Schnitzler fliegt in einem Traum nackt über die Ringstraße, Ludwig Hevesi sieht darin ein gesamtes Kriegsbudget verbaut, und Thomas Bernhard lässt nach einer Hasstirade gegen die Bauten der Ringstraße einen Balkon gegenüber der Staatsoper in die Tiefe stürzen. Während die Musik- und Theaterstücke noch der Ringstraße und ihrer Gesellschaft zudienten, begann Ende des 19.Jahrhunderts die kritische Auseinandersetzung mit ihr. Der harschen Reaktion Camillo Sittes und Adolf Loos' auf die bauliche Erscheinung der Ringstraßenzone folgend, rieben sich die Autoren der literarischen Moderne mehr an der Ringstraßengesellschaft und ihren Ritualen.

Den Bildern der Ringstraße fällt hingegen eine andere Rolle zu: Als nämlich das Ensemble um den Rathausplatz Ende der 1880er-Jahre fertiggestellt war, kaprizierten sich unzählige Fotografen und nach ihnen Grafiker und Künstler auf die Aussicht vom Dach des Palais Epstein auf Reichsratsgebäude (Parlament), Rathaus und die Türme der Votivkirche. Während dieses Blickdispositiv anfangs noch stellvertretend für das neue Wien stand, das sich das liberale Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschaffen hatte, wurde es ab der Ersten Republik zum Inbegriff eines identitätsstiftenden Bildes auch für Österreich, in dem das Parlament für die Demokratie und damit das gesamte österreichische Volk stand.

Während schon im kaiserlichen Handschreiben aufgrund der Intervention des Militärs die Breite der Ringstraße mit 40 Klaftern (etwa 76 Metern) veranschlagt worden war, wurde sie schließlich mit noch immer stattlichen 30 Klaftern (etwa 57 Metern) ausgeführt. Eine Straßenbreite, die die Bühne für das promenierende und flanierende Bürgertum abgab und darüber hinaus Manifestationen jeglicher Art ermöglichte. Der Straßenraum wurde schließlich im Zuge der Demokratisierung der Gesellschaft zu dem Ort, an welchem die unterschiedlichsten Gruppierungen ihre Präsenz in der Stadt aushandeln und markieren.


Mit der Ringstraße
haben die daran beteiligten Entscheidungsträger sowie die Planer ein städtebauliches Projekt realisiert, das vor dem Hintergrund der heutigen gesellschaftlichen Situation nicht mehr denkbar wäre. Nicht, was den Umfang angeht – denn die Seestadt Aspern würde diese Aussage Lüge strafen –, sondern hinsichtlich der obwaltenden Rahmenbedingungen. Das Bauareal wurde per autokratischem Entscheid dem Ärar zugeschlagen, um ein staatstragendes Bauprogramm realisieren zu können. Es handelte sich dabei um 78 Hektar Land, das sich aus dem eigentlichen Glacis, den Flächen des Stadtgrabens sowie dem noch geschlossenen Mauerring aus dem 16. und 17. Jahrhundert zusammensetzte.

Die Diskussion über die Demolierung der Fortifikationsanlagen würde heute das Bundesdenkmalamt, Bürgerinitiativen und selbsternannte Kulturretter auf den Plan rufen, um das Fortbestehen dieses integralen Bestandteils der Stadt zu sichern. Die damaligen verkehrstechnischen Unzulänglichkeiten, die hygienischen Zustände, der Imagedruck auf die Stadt sowie außenpolitische Misserfolge gaben eine hinreichende Rechtfertigungsgrundlage zum Abbruch des bauhistorischen und symbolisch hoch aufgeladenen Bauwerks im Zentrum des Reiches. Während durch die Aufgabe des unbebauten Exerzierplatzes das monumentale Ensemble um den Rathauspark entstehen konnte, wurde für die Errichtung des neuen Stubenviertels rund um das Postsparkassenamtsgebäude die erst knapp 50 Jahre alte Franz-Josefs-Kaserne abgerissen. Und dieser Mechanismus wiederholte sich mehrfach: Kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert begann man, entlang des Rings und des Franz-Josefs-Kais Gebäude aus den frühen 1860er-Jahren – also nach nur vier Jahrzehnten ihres Bestehens – durch Neubauten zu ersetzen.

Das größte neue Einzelbauwerk, das eine Maßstabsverschiebung in den homologen Teilen der Ringstraße einführte, entstand zwischen 1909 und 1912: Für das Verwaltungsgebäude des Wiener Bankvereins (nachmalig CA, Bank Austria et cetera) verschwanden sechs stattliche Wohnbauten eines gesamten Häuserblocks. Der Grund: Die ursprüngliche Wohnnutzung war überholt, ein Wandel zur Dienstleistungs- und Verwaltungsstraße hatte stattgefunden. Beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zwar herausragende versehrte Bauten rekonstruiert, bei geringen Schäden wurden Gebäude jedoch in vielen Fällen abgebrochen, um Platz für einen Neubau zu machen.

Die genannten Interventionen geschahen stets innerhalb des vorgegebenen und konsolidierten städtebaulichen Grundgerüsts der Straße. Wenn auch inzwischen andere städtebauliche Leitbilder schlagend geworden waren, die vermehrt an den Rändern der Stadt umgesetzt wurden, respektierte man die Form und die historischen Raumgebilde dieser Zone. Selbst in den blattlosen Wintermonaten treten diese Bausteine durch ihre schmucklosen und aus dem architektonischen Kontext fallenden Fassaden nicht sonderlich hervor.


Jede Gesellschaft formt ihre Räume,
und so hat jede Generation die Pflicht, auf ihr Erbe zu achten, und gleichermaßen die Pflicht, die Räume zu schaffen, die sie braucht. Wenn im Laufe des Aushandlungsprozesses Stimmen mehr Gehör finden und andere dafür ungehört bleiben, besteht die Gefahr, dass Wege eingeschlagen werden, deren Kurskorrektur, wenn überhaupt, nur mit allergrößtem Kraftaufwand bewerkstelligt werden kann.

Im Jahr 2014 legte die Wiener Stadtverwaltung zwei Pläne vor, die in Teilen respektive zur Gänze der Ringstraßenzone gewidmet sind: einerseits den in Zehnjahresschritten beschlossene „STEP 2025“ (Stadtentwicklungsplan), andererseits den „Masterplan Glacis“. Während im Ersteren die Entwicklung der Gesamtstadt vorgezeichnet wird, konzentriert sich Zweiterer auf das Gebiet eines großzügig gedachten Ringstraßengebiets. Dass sich der Magistrat der Stadt Wien diesem Zentrumsbereich widmet und sich seiner Rolle als wichtiger Vertreter allgemeiner Interessen bewusst wird, kann nicht genug gewürdigt werden. Den Begehrlichkeiten vonseiten der Investorenschaft wird mit überlegter und konstruktiver Kritik zu begegnen sein, und es ist äußerste Vorsicht geboten, wenn besondere Projektentwickler und Marketingmissionare mit ihrer verwinkelten Rhetorik auftreten. Gibt die Stadtgesellschaft kurzsichtig individuellen Wünschen nach, werden langfristige, für die Allgemeinheit wichtige Projekte unmöglicht gemacht.


Würde man Wienerinnen und Wiener bitten, eine Mental Map der Ringstraße zu zeichnen, würde der Großteil ein nicht geschlossenes Polygon zeichnen, welches von Donaukanal zu Donaukanal reicht. Was beharrlich vergessen wird, ist, dass der Franz-Josefs-Kai einen integralen Bestandteil des Rings darstellt. Damit dieser nicht nur nominell, sondern auch wahrnehmungsmäßig zu einem solchen werden kann, wäre eine Umbenennung in Franz-Josefs-Ring durchaus überlegenswert. Dies würde unter anderem auch helfen, ihn aus seiner städtebaulichen Lethargie und seinem Schattendasein zu holen: Nicht nur entlang des Morzin- und Schwedenplatzes, sondern entlang seiner gesamten Strecke liegt ungemeines Potenzial brach, das es für eine Aufwertung dieses Ringabschnitts zu aktivieren gilt.

Dass die einfachsten Lösungen meist die besten sind, sieht man dort, wo aus dem Bestand heraus mit kleinen Eingriffen Großes erreicht wurde. Die Fahrbahnen der Ringstraße stellen heute funktional eine dreispurige innerstädtische Autobahn dar. Dank der Ampelschaltungen ist Jaywalkern und anderen Verkehrsanarchisten nur mehr unter Einsatz ihres Lebens möglich, was bis nach dem Zweiten Weltkrieg gang und gäbe war: nämlich den Ring an beliebiger Stelle zu queren. Ein autofreier Ring sollte nicht das Ziel sein, jedoch sollte die Richtungsdominanz der Fahrbahnen gebrochen werden, was einerseits durch eine Verminderung der Autofrequenz und andererseits durch die Homogenisierung des dem Fließverkehr geschuldeten Straßenquerschnitts erreicht werden könnte. Erste Querungszonen könnten just dort geschaffen werden, wo dies städtebaulich bereits vorgegeben ist (Opernringhof–Oper, Schillerplatz–Goethe-Denkmal, Universität–Liebenberg-Denkmal). Mit kleinen Interventionen und städtebaulichen Bereinigungen – etwa einer anderen Pflasterung – könnte dieser Verkehrsschwall gebrochen, könnten die querenden Räume reaktiviert und querbare Stellen geschaffen werden.

Wie andere bereits erkannt haben, besteht Entwicklungspotenzial im Bereich zwischen Konzerthaus und Stadtpark. Die städtebaulich hochproblematische Situation im Hinblick auf das Hotel Intercontinental und den Eislaufverein, doch noch vielmehr auf die unter dem Heumarkt versinkenden frühgründerzeitlichen Häuser verlangt nach einem ingeniösen, dem städtebaulichen Genius Loci zuarbeitenden Entwurf. Warum nicht diese Stelle in Verbindung mit dem Konzerthaus als Ganzes neu denken und den Eislaufverein mittels einer Wienfluss-Überbauung nahe an das Schwimmschiff verlegen und an der Konfluenz der innerstädtischen Wasser einen attraktiven Freizeitcluster schaffen?


Das Phänomen Stadt lebt unter anderem von der Vielfalt seiner Einzelglieder, aber seit Anbeginn unserer Städte waren und sind es Orte der Gemeinschaft. Wir als Gesellschaft haben daher die Verantwortung, unsere Städte zu funktionierenden und lebenswerten Organismen zu machen, in denen der größte Teil der Bevölkerung gut und gerne wohnen und arbeiten, sich aufhalten und erholen sowie bewegen kann.

Da der Städtebau nicht nur ein kostbares gesellschaftliches Gut, sondern auch ein träges und langfristiges Projekt ist, muss sich jeder Eingriff und jeder prozessuale Schritt einer systemischen Strategie unterordnen, um verträglich und nachhaltig für alle zu sein. Im formalisierten Ringstraßenraum des 19. Jahrhunderts muss dies ebenso der Fall sein, damit dieser auch für die Benutzer des 21. Jahrhunderts attraktiv bleibt und – ein frommer Wunsch im Jubiläumsjahr – noch attraktiver wird. Erreichen wir dies, so wird es möglich sein, dass die Ringstraße gelebt und erfahren, genutzt und mit weiteren kulturellen Schichtungen überlagert werden wird, wie es in den vergangenen 150 Jahren geschehen ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2015)

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