Vom Bewahren und vom Auspacken

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Geistiges Österreich? Unsere kulturelle „Tradition“: über Last, Wucht, Bruch und Zukunft.

Anlässlicheiner Wiederlektüre von Italo Svevos Roman „Ein Mann wird älter“ fällt mir auf,dass Svevo dieses psychologische Meisterstück bereits 1898, also vor
Sigmund Freuds grundlegenden Schriften zur Psychoanalyse, veröffentlicht hat – ohnees zu überprüfen, hatte ich immer angenommen, Svevos Werk sei ein Folgeproduktvon durch Freud vermittelten Einsichten. Natürlich, es hat auch vor Freud große Psychologen gegeben: Was das 19. Jahrhundert angeht, denkt man etwa an Stendhal oder Flaubert, insbesondere aber an Nietzsche und natürlich an den von Freud dann so unbedingt abgelehnten Dostojewski. Die Zuflüsse zu Svevos Werk werden also wohl in dieser und also internationaler Richtung zu suchen sein, er selbst verweist ja auf Schopenhauer.

Zum Zweiten fällt mir auf, dass ein Gutteil der bedeutenden Literatur aus der seinerzeit österreichischen Hafenstadt Triest von Juden geschaffen wurde, ich meine damit Umberto Saba, Svevo selbst und etwa auch Giorgio Voghera, den Anonimo Triestino. Es sind allesamt aufgeklärte Juden wieFreud, ihrer Religion und Herkunft mehr oder weniger entfremdet, liberal und weltoffen. Von dieser Einsicht ist es nicht weit zur nächsten, dass nämlich auch in der sogenanntenWiener Moderne die Rolle der Juden beträchtlich ist – und zwar nicht nur als Konsumenten, wie es Stefan Zweig in seinen Erinnerungen „Die Welt von Gestern“ so trefflich beschreibt, sondern auch als Produzenten: Arthur Schnitzler, Joseph Roth, Karl Kraus, Franz Kafka, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Ludwig Wittgenstein, um nur einige zu nennen.

Ist es nicht auffällig, dass ich Italo Svevo, den Triestiner, und Franz Kafka, den Prager, ganz selbstverständlich nicht etwa als Österreicher bezeichnen würde, sie aber selbstverständlich dem zuordne, was man österreichische Tradition nennen könnte. Ein besserer, treffenderer Begriff fiele mir auch nicht ein, wollte ich bezeichnen, was Kafka und Svevo denn verbindet. Mit der den beiden gemeinsamen Zugehörigkeit zur politischen Ordnungsgröße Kaiserreich Österreich-Ungarn hat das nichts zu tun – und bei einem genaueren Hinsehen ja wieder doch. Womit wir beim fragwürdigen Mythos der österreichischen Kulturnation angelangt sind.

Es steht doch ganz außer Zweifel, dass die im weitesten Sinn politische Ordnung jedweder Lebenswelt großen Einfluss auf das „geistige Klima“ (ja, man muss es unter Anführungsstriche setzen) des jeweiligen Landes hat. Hierher gehört auch die Bemerkung von James Joyce, der vor dem Ersten Weltkrieg in Triest als Sprachlehrer sein kümmerliches Dasein fristete und über ebendiese Funktion mit Svevo bekannt, ja befreundetwar: „Am besten lebt sich's für den Künstler, wie es scheint, in einer morschen, zugrunde gehenden Monarchie: Man ist da am freiesten.“

Vielleicht sollte ich an der Stelle noch erwähnen, dass die Zeit der Wiener Moderne für mich erst mit dem Einmarsch der Hitler-Armee, mit dem Zusammenbruch Rest-Österreichs endet: In der Ersten Republik, insbesondere auch in der austrofaschistischen Zeit, erzählte sich die alte, gestürzte und versunkeneLebenswelt im Bereich der Wissenschaften und Künste vielfach fort, freitragend gewissermaßen, einerseits gespenstisch, weil auf ganz anderer politisch-ökonomischer Basis beruhend, verbundennur über den Zusammenhang der Generationen – und zugleich auch wieder erstaunlich, wenn man an die Ergebnisse denkt: Namen wie Robert Musil, Hermann Broch, Elias Canetti oder auch die von Joseph Schumpeter, dem Nationalökonomen, von Ernst Gombrich, dem Kunsthistoriker, von Bronislaw Malinowski, dem Völkerkundler, fallen einem da ein.

Fragt sich nur, ob dieser Nachhall, diese Art Fortsetzung, die Abwürgung und Unterbrechung durch die Hitlerei und ihre Folgen auch noch überstanden hat? Ob das so ist und ob es begrüßenswert oder wünschenswert wäre? Gilt nicht der Satz von der Lebenswelt, die die Grundlage abgibt, auch für heutige Zustände? Kurz gesagt, wie wir uns zu dieser im Realen frakturierten Tradition stellen sollen in unserem heutigen Österreich.


In der globalisierten und digitalisiertenWelt ist es möglich, von jedem Punkt der Erdeaus Beiträge einzuspeichern, Informationen, Beiträge zum Wissen, zur Kunst und so fort. Die Sozialisierung spielt sich heute für gewöhnlich zwar immer noch regional ab, doch zugleich sieht sich das Regionale, und sei es in der entferntesten Provinz, von den globalen Informationsflüssen durchströmt, aufgesaugt oder aufgelöst. Das war zwar etwa zur Zeit Herders oder Mozarts auch schon der Fall, zumindest was die Gebildeten anging, allerdings in weit geringerem Maß. Jetzt sehen sich alle erfasst, auf welchen Ebenen auch immer. Als ich die ersten Fernsehgeräte in irgendwelchen Urwalddörfern auftauchen sah, wusste ich, was es geschlagen hat.

Globaler Synkretismus = das unvermeidliche Ergebnis. Zwar stehe ich diesem Ergebnis neutral gegenüber, als eben dem, was der Fall ist, doch ist zumindest beim heutigen Stand der Dinge klar: Immer noch bestehen starke regionale Traditionen, dass auf diese in irgendeiner Form abzustellen ist.

Im Global Village müssen wir darauf achten, was alle anderen machen, ohne dabei zu vergessen, wer wir sind und wo wir herkommen. „A man without knowledge of his past history and culture is like a tree without roots“, beteuert Bob Marley auf einer Plattenhülle. Mario Vargas Llosa, der Hochkulturelle: „Wer seine Kultur aufgibt, gibt sich selbst auf.“

Früher waren Kulturen vor allem dadurchgekennzeichnet, dass zwischen ihren unterschiedlichsten Manifestationen, sei es in ihren religiösen Auffassungen, sei es in ihren sozialen und politischen Organisation, sei es in ihrer Architektur und Kunst und so fort, ein Zusammenhang bestand, idealiter ein Kontinuum, zumindest eine Verwandtschaft. Wittgenstein nennt das „Familienähnlichkeit“. Gemeinsames Wertstreben definiert jede Kultur, unterscheidet sie von anderen Kulturen. Schaue ich mich hierzulande oderauch anderswo um, sehe ich die Besten ihre Ziele verfolgen wie eh und je: Ein Traditionsband, bewusst oder unbewusst, scheintihre Unternehmungen, so oder so, immer noch zu umfassen. Gut so: Sonst würde alles in gleichsam private, solipsistische, jedenfalls ganz unkoordinierte Expeditionen zerfallen – die Löcher zwischen den Konzepten würden dadurch noch größer werden, als sie es ohnehin sind.

Es ist unser wohlbedachter Vorteil, wenn wir, freilich stets in Hinblick auf das globale Spiel, unsere Tradition und Hergekommenheit einbringen, was einfach so viel heißen will: bewusst.


„Ich glaube, das gute Österreichische ist besonders schwer zu verstehen. Es ist in gewissem Sinne subtiler als alles andere, und seine Wahrheit ist nie aufseiten der Wahrscheinlichkeit“, heißt es bei Ludwig Wittgenstein. An anderer Stelle träumt er davon, wie ein Vogel die Welt zu überfliegen, die Welt dabei so sein zu lassen, wie sie ist, und dabei gleichzeitig zu erkennen, was sie ist. Zum Dritten statuiert er: „Dort, wo ich wirklich hin will, dort muss ich eigentlich schon sein.“

Gehen wir davon aus, dass die soziale und politische Ordnung das Fundament jederGesellschaft darstellt – siehe oben! –, fällt, was Österreich angeht, die zumindest seit der Französischen Revolution höchst wacklige Konstruktion des trotz allem beibehaltenen kaiserlichen Gottesgnadentums ins Auge. Einerseits wird hier an einer überkommenen, zentralen Ordnungsidee festgehalten, zugleich wird an ihrem Sturz fleißig gearbeitet. Es wundert nicht, dass der Begriff „Ambivalenz“ in Österreich florierte. Nachdem ein schwaches Bürgertum wenig mehr zustande brachte als eine Adelskopie – eine allerdings durch Ökonomie und Technik dynamisierte –, konnte sich die Vorstellung vom objektiven Betrachter, der mit interesselosem Wohlgefallen,mit Desinvolture die Welt beschaut, fast unmerklich mit der ins Weitere und Künftige ausgreifenden Geste des Imperialismus vermählen.

„We all of us like a sparkling error better than a trivial truth“, merkt Joseph Schumpeter in seinen Aufzeichnungen kritisch an. Er tut es aber doch wieder so, dass wir ihn beinah und zugleich sagen hören: Ist ein funkelnder Irrtum oder Fehler der platten Wahrheit nicht doch vorzuziehen? Ist Leben und Denken auf diese fehlerbehaftete Art nicht doch viel spendender und spannender?

So wird die Suche nach der Wahrheit beinah schöner als die Wahrheit selbst.

Dass die Resultate der Österreicher, laut Wittgenstein, und er sagt es ja fast mit Stolz, nie auf der Seite des Wahrscheinlichen liegen, man kann das auch anders sehen oder auffassen, weniger positiv, möchte ich sagen, eher mit Skepsis oder gar abwertend – als schlichten Mangel an Common Sense.

Der Begriff des „gesunden Menschenverstandes“ siedelt hierzulande nicht weit vom „gesunden Volksempfinden“ und ermangelt ganz und gar jener Wertschätzung, dessen sich der verwandte Begriff im angloamerikanischen Raum erfreut. Solcherart prolongiert sich der überkommene elitäre, aristokratische Ansatz. Die Vorstellung von Wissenschaft, Kunst et cetera hat etwas sozial oder politisch nur schwach Gegründetes, dafür aber etwas Hehres und Freischwebendes, ist subjektbezogen und abgehoben – womit wir wieder bei der historischen Zuströmung und, ja, auch bei Wittgensteins Vogel der Erkenntnis wären, der, vermeintlich, frei und ungebunden über die Welt hinfliegen kann.

Selbst Gegenpositionen zum Obgenannten, ich denke etwa an die trefflichen Verächtlichkeiten von Franz West, die scheinprimitiven Chansons eines Gerhard Rühm oder Konrad Bayer, die Gstanzln von Ernst Jandl, sind, so gesehen, Reaktionen auf das Hehre und Hochgemute kulturellen Strebens, also dialektisch mit der hiesigen Ausgangslage verknüpft.

Eine Besonderheit der österreichischen Geschichte kommt dann noch hinzu: der Traditionsbruch durch den Nationalsozialismus mit seinem Fortwirken bis weit in die Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Die Wiederanknüpfung wurde zudem durch den Umstand erschwert, dass so gut wie alles, was letztlich von Belang war, von Leuten herstammt, die vertrieben wurden oder, aus guten Gründen, freiwillig ins Exil gingen.

„Dort, wo ich wirklich hinwill, muss ich eigentlich schon sein“, so Wittgenstein. Wie verstehe ich diese Aussage? Für mich ein Beleg ahistorischer Einstellung, ein Beleg auch für die Überzeugung, es gäbe irgendwo irgendetwas Festes, gleichsam Ewiges, ein göttliches Gesetz, auf das unser Streben – vergeblich, naturgemäß – gerichtet ist oder sein soll. Leuchtet da die habsburgische Sonne, freilich zum Zeitpunkt des Notats schon untergegangen, noch von ferne durch?

Die Sonne leuchtet noch lange nach. Es fällt uns schwer, haben wir uns an Sonneund Tageslicht einmal gewöhnt, uns damit abzufinden, dass für uns eben keine Sonne mehr scheint. Diese Sonne gewiss nicht.

Was den Bruch in der österreichischen Tradition angeht, sehe ich einen Vorteil darin, dass nahezu alle Leistungen von fortdauerndem Wert von Exilanten, Vertriebenen oder freiwillig Gegangenen erbracht wurden. Ein Vorteil? Ja, ein großer Vorteil! Von vornherein ist damit eine gewisse Anverwandlung ans Fremde, ein Abschwören vom Mief einer Blut-und-Boden-Heimatlichkeit gegeben, geistiger Internationalismus, wenn man so will.


Über Albert Paris Gütersloh und Heimitovon Doderer, auch über Herbert Boeckl und Fritz Wotruba lief die Traditionsbrücke von der Zeit vor den Nazis in die zweite Nachkriegszeit. Natürlich wären da auch noch andere Namen zu nennen, etwa der von Hilde Spiel, von Ingeborg Bachmann oder, um ein ganz anderes Genre zu nennen, von Viktor Frankl oder Heinz von Foerster. Zugleich kamen etwa mit der „Wiener Gruppe“, von ihren Mitgliedern in je verschiedener Weise, ganz eigenständige Impulse, zu der Welt ringsum, von derman abgetrennt gewesen war, wieder Verbindung zu suchen und aufzuschließen. Ich finde esbeinah symbolhaft, dass Doderer, der doch ganzandere künstlerische und weltanschauliche Ansätze hatte, den Bestrebungen dieser jungen Wilden freundlich, ja zustimmend gegenüberstand, dass ausgerechnet Oswald Wiener ihm einen Abschnitt seines Romans „Die Verbesserung von Mitteleuropa“ widmete.

Ob das politische Gebilde Österreich sich auf diese kulturellen Traditionen berufen darf, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt. Zum Teil ist es bloß aus Gründen der Opportunität geborgter Zierrat, ja Fummel. Der fragwürdige, irgendwie halbseidene Griff der Politik nach der Kultur mag auch einer gewissen Tradition geschuldet sein: So sah man sich immer schon, so sieht man sich heute, so sieht man sich gern. Die Frage ist dabei ja eher, ob die Kultur der Zukunft nicht einfach Massenkultur sein wird, aus dem Hintergrund gelenkt und bestimmt von Interessen, die etwa von der Mode her, dem Entertainment, dem Geschäft, aus dem digitalen Markt oder dem globalen Netz kommen werden. Vielleicht ist die Vorstellung einer Kultur, die von Avantgarden und also Eingeweihten gelenkt wird, ohnehin obsolet? Freilich wird es immer die sogenannten hellen Köpfe geben, die heißen Herzen. Wie die aber in Zukunft ticken werden?

Ist eine Kultur ohne nationale Verwurzelung denkbar? Sehr wohl. Wenn eben das Nationale überhaupt und insgesamt ad acta gelegt ist und zu jenen geschichtlichen Mustern absinkt, die aussortiert wurden. Die Zukunft österreichischer Kultur liegt jedenfalls nicht in einer Wiederkehr der guten alten Zeiten, sondern – siehe oben! – in Bewahrung der Traditionen und permanenter Öffnung zugleich.


Frage zum Schluss: Was würdest denn du als das gute Österreichische bezeichnen? Hüte dich vor Verallgemeinerungen, aber,meinetwegen, es sei: Es ist wohl der Zweifel an allem Hier-Sein und So-Sein, kommt mir vor, ein Zweifel allerdings, der sich bald ins Aktive und Tätige wendet, ein Zweifel, der sich auf je verschiedene Art von sich selbst zu befreien, eben gerade den Zweifel endgültig abzutun sucht. Was ist ein solcher Zweifel aber anderes als ein sonderbar kreatives Prinzip? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2015)

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