Nur nicht stolpern!

Als russisch-jüdischer Immigrant war ich oft mit Vorurteilen gegenüber Russen und Juden konfrontiert. Am „Tag des Sieges“ jedoch hatte ich das Gefühl, dass „wir“ zumindest den Krieg gewonnen haben. Mein 9. Mai: vom Leben und Erleben zwischen Sankt Petersburg und Österreich.

Sankt Petersburg, 9. Mai. Die Fahrt nach Peterhof, der berühmten Sommerresidenz des Zaren, dauert eine gute Stunde. Dass meine Frau und ich den Ausflug ausgerechnet an einem Feiertag, am „Tag des Sieges“ machen wollen, hält meine Mutter, die in dieser Stadt, welche damals noch Leningrad hieß, geboren und aufgewachsen ist, „für keine so gute Idee“. Nachdem wir an der Anlegestelle des Ausflugsboots unsere Tickets gekauft haben, verstehe ich, warum.


Der Sieg über Hitlerdeutschland wird in der Russischen Föderation und den meisten anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion am 9. Mai gefeiert. Der deutsche Generaloberst Alfred Jodl hatte die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Truppen zwar schon am 7. Mai 1945 in der französischen Stadt Reims, dem Sitz des Oberkommandos der Westalliierten, unterzeichnet, doch trat die Kapitulation erst am 8. Mai um 23.01 Uhr mitteleuropäischer Zeit in Kraft. Deshalb gilt in einigen europäischen Staaten der 8. Mai als „Befreiungstag“ oder „Tag des Sieges“. In allen Teilen der Sowjetunion hatte, bedingt durch die Zeitverschiebung, zu diesem Zeitpunkt der 9. Mai schon begonnen. Außerdem war in Reims, wo die Kapitulation nur von Jodl, nicht aber von den Oberbefehlshabern der einzelnen deutschen Teilstreitkräfte unterzeichnet worden war, eine weitere Ratifizierung der Kapitulationsurkunde durch das Oberkommando der Wehrmacht, Luftwaffe und Marine vereinbart worden. Diese fand am 9. Mai um 0.16 Uhr im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst statt.

In Österreich sind, wie in Deutschland, weder der 8. noch der 9. Mai Feiertage. Den demokratischen Politikern der Nachkriegszeit,von denen einige selbst zu den Verfolgten des NS-Regimes gehörten, erschien es unpassend,den Tag der militärischen Niederlage als „Tag der Befreiung“ von der Diktatur zu feiern. Dabei hat der Sieg der Alliierten beiden Ländern eine Entwicklung zur Demokratie und zum Wohlstand ermöglicht, und kaum ein Österreicher oder Deutscher hätte das Leben, das er später führte, mit jenem in einer totalitären Diktatur vertauschen wollen.

Die Politiker der Nachkriegszeit verstanden jedoch nicht nur die Logik der Geschichte, sondern auch die menschliche Psyche. Die Bevölkerung Deutschlands und Österreichs hatte jene Maitage des Jahres 1945 keineswegs als Befreiung erlebt, sondern als „Zusammenbruch“, als Besetzung durch fremde Truppen mit allen damit verbundenen negativen Folgen. „Befreit“ im engeren Sinne wurden KZ-Häftlinge, Gefängnisinsassen, Juden, die in Verstecken überlebt hatten, und Angehörige anderer verfolgter Minderheiten, Widerstandskämpfer, alliierte Kriegsgefangene und Millionen von Zwangsarbeitern aus ganz Europa. Die meisten anderen hatten „ihre Pflicht getan“ und dem Regime auch bis zuletzt die Treue gehalten. Sollte man sie durch einen „Tag der Befreiung“ an ihre Verbrechen oder zumindest an ihre Schwäche erinnern, an die Verblendung, die Hybris?

Man war für Hitler, den Österreicher, der Österreich immer verachtet hatte, in den Krieg gezogen, um sein Heimatland zu verteidigen, das eigentlich annektiert und abgeschafft worden war. Man hatte über „die Piefke“ geschimpft und doch bis zum Schluss für das Großdeutsche Reich sein Leben riskiert. Auf die NS-Ideologie und die Propaganda des Regimes hatte man oft mit Skepsis und Humor reagiert, die Entrechtung und Verfolgung von Juden aber bereitwilliger und aktiver unterstützt als viele „Volksgenossen“ im Altreich. Später war man allerdingswieder stolz darauf, Österreicher zu sein, und verzieh den Deutschen nicht, dass sie dem österreichischen Demagogen Hitler auf den Leim gegangen waren, der in Wien nicht einmal Kunstmaler hatte werden können. Wäre folgerichtig der 8. Mai nicht einwürdigerer Nationalfeiertag gewesen als der 26. Oktober? Auf einen so absurden Gedanken wären damals nicht einmal die schärfsten Kritiker der österreichischen Wirklichkeit gekommen. Man war zwar „Opfer“, doch jeder wusste, dass man das Spiel nicht zu weit treiben durfte. In Österreich hatte man immer ein gutes Gespür für die Grenze zwischen feinfühliger Infamie und Aktionismus . . .


Von Minute zu Minute wird die Menschenmenge größer, und je größer sie wird, desto enger wird der Raum zwischen jenen, die schon in der Schlage stehen, und jenen, die gerade erst gekommen sind. Das Gedränge wird unerträglich, als das Boot, mit dem wir nach Peterhof fahren sollen, nicht rechtzeitig anlegt und über Lautsprecher außerdem bekannt gegeben wird, dass der Schiffsverkehr über das Meer aus Witterungsgründen „wahrscheinlich“ schon am frühen Nachmittag eingestellt wird. Jeder versucht, einen guten Startplatz zu erhaschen, um schnell das begehrte Boot zu stürmen, wenn es ankommt. Für ein paar kräftige junge Männer mit Bierflaschen in der Hand und ihre weibliche Begleitung gelten andere Regeln. Sie gehen einfach an der Warteschlange vorbei, steigen über eine Absperrung, stellen sich vorne an. Niemand bringt den Mut auf zu protestieren.


Ich selbst und meine Eltern nahmen die österreichische Heuchelei als nachvollziehbares Verhalten hin. Sie war ärgerlich, sie war verletzend, aber sie irritierte nicht wirklich, waren meine Eltern doch in einem Land geboren und aufgewachsen, in dem Heuchelei und Doppelzüngigkeit vielen Menschen längst in Fleisch und Blut übergegangen war. In der Sowjetunion hatten sie gelernt, dass Worte gleichzeitig viel mehr und viel weniger bedeuten, als sie scheinbar aussagen, dass es anständige und unanständige Lügen gibt und dass man im Zweifelsfall niemandem trauen dürfe, nicht einmal sich selbst. Demgegenüber war die österreichische Heuchelei auf eine entwaffnende, beinahe schon sympathische Weise vorhersehbar.

Meine Eltern mochten sowjetische Feiertage nicht. Den österreichischen Feiertagen und jenen anderer Länder standen sie mit wohlwollendem Desinteresse gegenüber. Zu religiösen Feiertagen hatten sie keinen Bezug. Sie feierten Neujahr, Geburtstage, ihren Hochzeitstag und – den „Tag des Sieges“. Am 9. Mai gab es immer ein Festessen. Es wurde das Überleben gefeiert und der Toten gedacht. Mein Vater (Jahrgang 1931) war für die Front zu jung gewesen, sein Vater (Jahrgang 1893) zu alt. Die meisten meiner Großonkel undweitere Verwandte hatten hingegen als Angehörige der Roten Armee gegen Nazi-Deutschland gekämpft. Drei von ihnensind gefallen, zwei wurden schwer verwundet und blieben bis ans Lebensende behindert. Fast alle Verwandten, die im Sommer 1941 aus Weißrussland, der ursprünglichen Heimat meiner Familie, nicht rechtzeitig flüchten konnten, wurden aufgrund ihrer jüdischen Herkunft von den Nazis ermordet.

Meine Eltern und Großeltern überlebten durch eine Verkettung glücklicher Umstände den schlimmsten Hungerwinter der Leningrader Blockade und wurden 1942 aus der belagerten Stadt evakuiert. So war für mich der „Tag des Sieges“ wirklich ein Feiertag. Hätte es diesen Sieg nicht gegeben, gäbe es mich nicht. Hätte es ihn nicht gegeben, gäbe es nicht nur keine Juden, sondern wahrscheinlich auch kein russisches Volk mehr, so wie auch die meisten anderen Völker längst assimiliert oder vernichtet wären, und die Welt sähe heute aus wie eine Mischung aus „1984“ und „Apocalypse Now“.

Der „Tag des Sieges“ hatte etwas Ehrliches, Eindeutiges. Zwar wusste ich irgendwann, dass es den Hitler-Stalin-Pakt gegeben hatte, dass die Rotarmisten den von ihnen befreiten Ländern nicht die Freiheit, sondern – mit Ausnahme Österreichs – eine weitere Diktatur gebracht hatten und dass viele Soldaten der Roten Armee Plünderer und Vergewaltiger gewesen waren, doch änderte dies nichts an der Tatsache, dass Millionen von Menschen und deren Nachkommen ihnen ihr Leben verdankten.


Vor ein paar Jahren las ich in einer russischen Zeitung, dass es ein Skandal sei, wie man im heutigen Russland Kriegsveteranen behandle. Während am 9. Mai in Moskau eine große Militärparade abgehalten werde, die Millionen Rubel verschlinge, und Politiker patriotische Reden halten, lebten viele Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges unter dem Existenzminimum. Manche von ihnen müssten immer noch arbeiten, weil sie von ihren winzigen Pensionen nicht überleben könnten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ihre einstigen Gegner heute die Früchte ihrer Niederlage genießen können. Sie leben im Wohlstand.


In meiner Jugend fühlte ich mich am „Tag des Sieges“ den Einheimischen überlegen. Als Zuwanderer stand ich in der gesellschaftlichen Hierarchie ziemlich weit unten. Als russisch-jüdischer Immigrant war ich oft mit Vorurteilen gegenüber Russen und Juden konfrontiert. Am „Tag des Sieges“ jedoch hatte ich das Gefühl, dass „wir“ zumindest den Krieg gewonnen hatten, während „sie“ für die falsche Seite gekämpft hatten und sich nun mit den verlorenen Lebensjahren, der erlittenen Niederlage und mit ihren Traumata und Schuldgefühlen auseinanderzusetzen hatten.


Als das Boot tatsächlich anlegt, setzt sich die Menschenmasse sofort in Bewegung. Man kann kaum atmen. Wir werden geschoben und achten nur mehr darauf, nicht zu stolpern. Der Ausdruck in den Augen der Menschen ist verbissen. Was mir besonders auffällt, ist eine seltsame Mischung aus Gleichmut und Wut, aus Hinnahme und Übergriffigkeit. Ein Mann, der seinen etwa sechs Jahre alten Sohn an der Hand hält, schreit: „Passt doch auf! Ihr zertretet mein Kind.“Keiner beachtet ihn. Je näher sie an das Boot herankommen, umso gehetzter werden die Menschen. Jeder möchte mit diesem, unbedingt mit diesem einen Boot nach Peterhof fahren und unter keinen Umständen auf das nächste warten müssen . . .


Zum 9. Mai fallen mir heute folgende Zeilen des russischen Lyrikers und Chansonniers Bulat Okudschawa (1921–1997) ein: „Und wieder Stiefel in den Gassen, hört! Und Vögel flattern, aufgescheucht, verstört. Doch wollen wir, was war, nicht sehen, und wollen hoffend in die Zukunft gehen. Doch auf den Feldern mästen sich die Krähen . . .“


Meine Frau kann das Verhalten der Menschen nicht verstehen. „Es geht doch nur um einen Ausflug“, sagt sie, „nicht um ihre Existenz. Es scheint mir, als kämpften sie um ihr Leben.“ Ich aber habe den Eindruck, dass sich die Menschen, und dies gerade am „Tag des Sieges“, absolut authentisch verhalten, auch wenn es hier an jedem anderen Feiertag wohl genauso zugeht. Mitten in dieser Menschentraube, die sich zusammenzieht, verengt, als würde eine unsichtbare Kraft gegen die Rücken der hintersten Reihe drücken, kann ich plötzlich noch stärker, noch unmittelbarer nachempfinden, was ich immer gewussthabe: wie viel diese Menschen und ihre Eltern und Großeltern in all den Jahren und Jahrzehnten der Diktatur und den Jahren danach, den Belagerungen und Hungersnöten und den Jahren danach, im Krieg und den Zeiten danach verloren haben. Doch wer fühlt sich schon als Gewinner am „Tag des Sieges“? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2015)

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