Alter Wein und keine 20 Worte

„Expedition Europa“: was von Frankreichs Flamen übrig ist.

Spucken oder Steine werfen“, war bis 1961 auf einem französischen Schulhof zu lesen, „und Flämisch sprechen ist verboten.“ 1677 hatte Sonnenkönig Ludwig XIV. einen Landstreifen erobert, der für Flamen die „Westecke“ – das „Westhouck“ – darstellt, für Franzosen den Ostrand des Départements „Nord“. Frankreich hat seine Minderheiten stets zu französisieren versucht, hat auch die europäische Charta der Regionalsprachen nicht ratifiziert. Ich fuhr nachschauen, was von den Flamen Frankreichs übrig geblieben ist.

Nicht viel, urteilte ich nach 24 Stunden. Der flämische Löwe war zwar häufig ausgehängt, aber selbst die Buchhändler und Cafetiers, zu denen man mich schickte, rührige Leutchen, vermochten den niederländischen Dialekt Westflämisch nicht mehr zu sprechen. Ich schickte mich zur Weiterfahrt an, hielt aber noch beim Museum für die Schlacht von 1677. Der Kassier war ein geschichtsbegeisterter Pensionist, der aus Lille nach Noordpeene gezogen war. Er wohnte zwischen dem französischen und dem flämischen Feldlager von anno dazumal. „Beim Teich im Garten fand ich runde Weinflaschen“, erzählte er, „vermutlich aus jener Zeit.“ Dieser Franzose machte mich staunen – er hat den Wein ungeschaut weggeschüttet. „Nur die Flaschen waren von historischem Interesse.“ Dann musste er weg, zu „Yser Houck“. Mich traf der Schlag – ich kam zufällig zur Jahreshauptversammlung des führenden flämischen Kulturvereins Frankreichs zurecht.

70 Personen, 55 im Rentneralter

Eine Viertelstunde später saß ich im Gemeindesaal von Eringhem. Etwa 70 Personen waren versammelt, 55 davon im Rentenalter. Langsam verbreitete sich die Kunde von der Anwesenheit internationaler Presse. Mir wurde zugenickt, so mancher Opa lächelte mich schüchtern an. Der Bürgermeister begrüßte die Gäste. Der Obmann, ein bebrillter Vogelkopf von leis-melancholischem Naturell, verlas die Namen der entschuldigten Mitglieder. Neun Minuten lang sprach ein dicker Abgeordneter der Nationalversammlung. „Hier sind alle in Verbindung, alle respektieren einander, alle sprechen dieselbe Sprache.“ Mit dem Flämischen, räumte er ein, „sind wir in einer gewissen Stagnation“. Er mahnte eine „regionale Vision“ ein, „ohne regionalistisch zu sein“.

Es folgte ein Reigen von Kurzreferaten. 800 Erwachsene und 210 Kinder belegten angeblich Flämisch-Kurse bei 20 Lehrern. Ein Senior stellte drei zweisprachige Kinderbücher vor, in einem erhoben sich Tiere gegen ein Bauprojekt. „Im Altersheim machen wir Konversation, jeden dritten Dienstag im Monat. Manchmal kommen auch Angehörige und hören zu.“ Der Overheadprojektor kam nicht zur Ruhe. Chantal und Alain berichteten von der Renovierung einer strohgedeckten Hütte in Esquelbecq, von der Fertigstellung einerScheune in Volckerinckhove, von Wanderwegen, Pflasterung und einer Lehmwand. Nach 100 Minuten hörte ich, wie hinten die Plastikfolien vom Buffet gezogen wurden. Rasch wurde noch der Vorstand bestätigt. „Das ist nicht belastend“, versprach der Obmann, „wir haben nur acht Sitzungen im Jahr.“ Auch der Rechenschaftsbericht, 109.000 Euro, ging ohne Diskussion durch. Dudelsackbläser spielten vorwiegend schottische Weisen.

Im Interview sagte mir der schwermütige Obmann dann: „Ich fahre gern ins belgische Westflandern, weil ich dort junge Leute Westflämisch reden höre.“ Die belgische Region Flandern unterstütze die französischen Brüder kaum: „Die fördern das Niederländische, das für uns eine Fremdsprache ist. Das Traurige ist, dass wir in eine andere Welt gewechselt sind, von der germanischen in die romanische.“ Nun, auch die Jahreshauptversammlung des flämischen Kulturvereins wurde auf Französisch gehalten. Ich hörte an jenem Nachmittag keine 20 flämischen Worte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2015)

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