Böser Nachbar

Themenbild
Themenbild(c) www.BilderBox.com (www.BilderBox.com)
  • Drucken

Immer wenn ich Nachrichten über die Ukraine sehe, fällt mir meine Familiengeschichte ein. Russland und die Ukraine: Hinweise zu einer Nachbarschaftsfehde. Und warum ich in dieser Geschichte – tut mir leid, meine Freunde – keinen „good guy“ erkenne.

Immer wenn ich Nachrichten über die Ukraine sehe, fällt mir meine Familiengeschichte ein. – Als ich im damaligen Leningrad aufwuchs, verbrachte ich die schönsten Kindheitstage in unserer Sommer-Datscha in Gorkovkoje. Zurzeit der weißen Nächte, wenn die Luft heiß war, im Juli, war der beste Platz in einem Liegestuhl unter unserer Birke. Wir hatten ein winziges Grundstück in einem rundum von mächtigen Föhren umgebenen kleinen Dorf, 60 Kilometer nördlich der Stadt. Wenn der Wind blies, wogte das Föhrenmeer sanft und majestätisch, und der Himmel tönte leise. Maxim Gorki hatte hier in der Nähe einst seine Datscha, daher der Name des Dorfes.

Unser Grundstück war kleiner als die meisten anderen. Eigentlich war es nur ein halbes Grundstück, denn das ursprüngliche war durch einen hohen Zaun in zwei Hälften geteilt. Jenseits des Zaunes lebte der Böse Nachbar mit seiner Familie. Selbst unser Haus war in zwei Hälften geteilt. In der anderen, sorgsam abgemauerten Hälfte lebte der Böse Nachbar. In unserer Familie wurde er nie anders genannt. Seine Familie galt natürlich als dieBösen Nachbarn. Wir redeten nie miteinander.

Doch halt, das stimmt nicht ganz: Manchmal beflegelten sie uns über den Zaun hinweg, und Mama und Papa fluchten zurück. Gelegentlich warfen sieMüll über den Zaun, und manchmal „schmückte“ ich heimlich ihr Tomatenbeet mit einer zielgenau geschleuderten toten Maus aus einer unserer Mäusefallen. Ich lernte sie zu hassen, wenngleich ich lange nicht wusste, warum. Wenn dir deine Eltern sagen, dass jemand der Böse Nachbar ist, stellst du das nicht infrage.

Der Zaun zerschnitt das ursprüngliche Grundstück in zwei schmale Rechtecke. In der Mitte des Zaunes beziehungsweise des alten Grundstückes befand sich ein alter Brunnen, ein Relikt früherer Zeiten. Wir trauten dem Bösen Nachbarn nicht. Was, wenn erunser Trinkwasser vergiftete? Also verwendeten wir zur Bewässerung unserer Erdbeer- und Blumenbeete nur Wasser aus öffentlichen Quellen. Zwecks Gewinnung von Trinkwasserwurde dann von geschickten Einheimischen um gutes Geld meines Vaters ein eigener Brunnen auf unserem Grundstücksteil gegraben. Obwohl ich damals, Mitte der Siebzigerjahre, noch ganz klein war, erinnere ich mich daran. Es war ein Großprojekt. Papa war glücklich, als es vollbracht war: „Jetzt müssen wir unser Wasser nicht mehr mit diesem Abschaum teilen.“ Der Böse Nachbar grub im Gegenzug seinen eigenen Brunnen auf seiner Seite. So gab es schließlich drei Brunnen, zwei auf jeder Seite und einen in der Mitte, der allmählich verfiel, im Niemandsland. Nicht gerade ein Beispiel wirtschaftlicher Effizienz, doch schien dies unter den gegebenen Umständen sinnvoll.

Als ich an einem Septemberwochenende,an dem wir zum Schwammerlsuchen zur Datscha fahren wollten, krank wurde und wir daher in der Stadt blieben, feierte Oleg, der Adoptivsohn des Bösen Nachbarn, mit seinen Kumpanen eine Party. Sie waren gerade zwecks Bekämpfung der Mudschaheddin in Afghanistan zur Roten Armee eingezogen worden, amüsierten sich das ganze Wochenende über mit den Jagdwaffen des Bösen Nachbarn und ballerten zahllose Salven in die Wand, die das Haus teilte. Wir brauchten Monate, um die Einschüsse zu reparieren. – Das war das Ende meiner glücklichen Kindheit. Wir verzichteten auf Gorkovskoje und die Schatten spendende Birke, vermieteten die Datscha und mieteten für unseren Urlaub einige Zimmer in einem Bauernhaus im nahen Estland. Wir wollten so weit wie möglich vom Bösen Nachbarn sein. Estland war schön, aber es war nicht wie zu Hause.

Als ich etwas älter und wissbegieriger wurde, begann ich, meine Eltern über den Bösen Nachbarn zu befragen: Wie hieß er eigentlich, wie kam es, dass wir mit solchen Monstern Haus und Grundstück geteilt hatten? Mama wollte nicht darüber reden. Eines Tages lenkte Papa schließlich ein und erzählte mir die Geschichte. Es stellte sich heraus, dass der Böse Nachbar mein Großvater war. – Fedor Iwanowitsch Koschin, langjähriges Mitglied der Kommunistischen Partei, hatte als gestrenger Offizier der Roten Armee den gesamten Krieg gegen die Deutschen gekämpft. Als militärischer Radio-Spezialist hatte er ein gutes Auskommen, und er war, soviel ich weiß, ein pflichtbewusster, harter und wortkarger Arbeiter. Einige Jahre vor der Hochzeit meiner Eltern überwarf er sich mit seiner Frau, meiner Großmutter. Er fand eine neue Frau. Mama ergriff die Partei ihrer Mutter und brach den Kontakt mit dem Vater ab. Die Scheidung war peinigend, es kam zu einem Prozess und zur Teilung des Eigentums. Das Haus, das er mit seinen starken, derben Händen gebaut hatte, und das Grundstück mussten geteilt werden.

Fedor Iwanowitsch konnte darüber nicht glücklich sein. Ich habe ein Foto, das ihn in früheren, glücklicheren Zeiten auf dem von Schnee bestäubten Dach des von ihm erbauten Hauses, seines kleinen Reichs, zeigt, seines Meisterwerkes, des Markenzeichens eines guten Lebens. Und nun musste er die Hälfte davon seiner ehemaligen Gattin überlassen. Als der Landvermesser auf den Plan trat, schwang sich Großvater zu seinem letzten Kampf auf. Sein geliebtes zweites Stockwerk, mit dem hellen Arbeitszimmer und dem weiten Blick auf die im rötlichen Sonnenuntergang schimmernden Föhrenwipfel, wollte er nicht aufgeben. Er attackierte Großmutter,seine ehemalige Frau und die Mutter seiner Kinder, mit Fäusten. Zum Glück griff er nicht zu seinen Jagdwaffen, was die Sache viel schlimmer gemacht hätte.

Meine Seite der Familie vergalt es ihm mitgleicher Münze. Papa, frisch verheiratet und grundsätzlich ein sanfter Typ, mangelte es an militärischer Erfahrung, aber nicht an Ehrgeiz, seiner Ehefrau Tatkraft zu beweisen. Als 29-Jähriger war er dem grauhaarigen und von harter Arbeit und Krieg mitgenommenen Fedor Iwanowitsch überlegen. Er ohrfeigte ihn und schlug ihn nieder. Großvaters Brille fiel zu Boden, und zur Unterstreichung seiner Niederlage zertrat sie Mama, seine Tochter, in kleine Splitter.

Das war die letzte Begegnung zwischen den beiden Seiten der Familie. Haus undLand wurden geteilt, und bald darauf wurde der Zaun errichtet. Meiner Großmutter setzte das alles sehr zu. Sie starb bald darauf, im Jahr vor meiner Geburt. Natürlich kam es nie dazu, dass mein Großvater mich in seinen Armen hielt.

Wenn sich in einigen Jahrzehnten Ukrainer und Russen mit der Chronologie des heutigen Kampfes zwischen ihren Nationen, die einst eine gemeinsame Geschichte hatten, befassen, wird es ihnen schwerfallen, von irgendjemandem eine objektive Schilderung der Geschehnisse zu bekommen. Es ist unwahrscheinlich, dass der militante Nationalismus auf beiden Seiten jemals besiegt sein wird. Also werden letztlich wahrscheinlich zwei völlig konträre Versionen der „Wahrheit“ entstehen, die beide die jeweils andere Seite als den zornigen Großvater beschreiben, der nicht loslassen konnte.

Ukrainer werden sagen, es sei von Russland unsinnig gewesen zu versuchen, die Ukraine unter seiner Fuchtel zu halten. Es sei Zeit gewesen, dass Russland die Scheidung und den Verlust des sonnigen Zimmers im Obergeschoß akzeptiere.

Russen werden entgegnen, die Ukraine habe kein Recht gehabt, die Krim und den Donbass zu behalten, nachdem sie beschlossen hatte, sich vergnügt auf den Weg zum Sonnenuntergang im Westen zu begeben. Beide Gebiete, Krim und Donbass, werden hauptsächlich von ethnischen Russen bewohnt, Millionen Russen, von denen viele das neue Regime in Kiew ablehnten und nicht in der neuen, entschieden russlandfeindlichen Ukraine bleiben wollten.

Jede Seite wird ihre Argumente vorbringen, mit den Füßen aufstampfen und die jeweils andere beschuldigen. Niemand wird Fehler zugeben, obwohl es deren zahlreiche gibt. – Russlands kleine grüne Männchenhätten nie zur Invasion auf die Krim antreten dürfen. Sie hätte sich vielleicht ohnehin von selbst von der Ukraine gelöst,aber das hätte nicht durch eine Invasion von außen beschleunigt werden sollen. – Die ukrainische Artillerie hätte niemals die Straßen von Donezk unterBeschuss nehmen dürfen. Nicht einmal Janukowitsch ging bei der Niederschlagung von Opposition so weit. – Putin hätte Strelkov und seiner Gangvon Renegaten nicht seinen Segen geben dürfen, als sie sich anschickten, das Rathaus in Slawjansk zu besetzen; ein verzweifelter Versuch, eine verlogene, auf Wirkung im Fernsehen ausgerichtete Rebellion zu befeuern, die in dem bereits verstörten Land kaum Anklang fand, zumal die meisten Menschen damals noch immer versuchten, eine scheiternde Ehe zu retten. – Poroschenko hätte seine Roboter zum Rückzug vom Flughafen (von Donezk) beordern müssen, bevor das Dach über ihnen einstürzte, statt sie eigensinnig dort zum Töten und Sterben zu belassen. Er klammerte sich an ein symbolisches, nutzloses Stück verkohlten Metalls, in einer Stadt, die sich nach monatelangem Beschuss durch seine Armee entschieden gegen Kiew gewandt hatte. Wie sein Pendant im Kreml vergoss er unnötig Blut für ein TV-gerechtes Drama, das seine Nation inspirierte und in einen aussichtslosen Krieg hetzte.

Wie auch immer: Ich würde mich gern bei den glühenden Unterstützern beider Seiten entschuldigen, dass ich in dieser Geschichte keinen „good guy“ erkenne, dessen Partei ich ergreifen würde.

Wird Jahrzehnte später ukrainischen Kindern beigebracht werden, dass auf der anderen Seite des Zauns der Böse Nachbar haust? Die meisten werden dann kaum mehr Russisch sprechen, da es in ihren Schulen nicht mehr unterrichtet wird. Russisches Fernsehen und russische Filme werden verboten bleiben, sie werden nie lernen, wer Tscheburaschka war, die seit sowjetischen Zeiten bei Kindern populäre Fernsehfigur. Hoffentlich werden diese Kinder nicht in kalten Kellern zusammengekauert aufwachsen, wo sie vor russischen Luftangriffen Schutz suchen.

Und wie wird es russischen Kindern ergehen? Auch jenen, die das Pech haben, im zerstörten Donbass zu leben, wo man sich nie wieder zu Kiew bekennen wird, so leid es mir tut, meine ukrainischen Freunde. Sie werden in einem bitteren, armen und hungrigen Land aufwachsen, wahrscheinlich immer noch unter der Kontrolle irgendeines strengen Mannes. Er wird mit eiserner Faust herrschen, alle Fernsehkanäle kontrollieren und sicherstellen, dass die Kinder früh und immer wieder lernen, dass Ukrainer nicht nur der Böse Nachbar, sondern Teufelsanbeter mit Hakenkreuz-Tattoos sind, die russische Babys kreuzigen.

Ich hoffe, dass dieser Wahnsinn eines Tages zu Ende geht. Es ergibt keinen Sinn, dass diese beiden Nachbarn einander so behandeln, selbst wenn der Zaun von nun an immer zwischen ihnen stehen wird.

Was ich im Leben wie kaum etwas anderes bedaure, ist: dass ich niemals mit meinem Großvater gesprochen habe.

Früher oder später werden die Waffen verstummen, wie immer am Ende eines Krieges. Es wird nur Verlierer geben. Die wenigenEinwohner, die im Bombenhagel ausharrten, werden aus ihren Schutzkellern auftauchen, den Schaden mit Ingrimm sehen und beginnen, die Splitter zerbrochenen Glases wegzukehren. Genau wie meine Eltern nach ihrer historischen Schlacht mit Fedor Iwanowitsch.

Auch die, die glücklicherweise noch am Leben sind, werden für ihr Leben verkrüppelt sein, ihre Seelen werden hässliche Narben behalten. Ich glaube immer noch, dass es möglich, ja unausweichlich ist, dass diese Narben sich glätten und dass beide Seiten sich langsam aus dieser Katastrophe lösen und etwas finden werden, was sie verbindet.Es könnte geschehen, dass beide Länder letztlich von klugen Menschen regiert werden, die den Mut und die Fähigkeit haben, einander über den Zaun die Hände zu reichen und den Graben zu überwinden. Aber angesichts der Spärlichkeit weiser Regierungsführung würde ich nicht darauf wetten. Höchstwahrscheinlich werden es zwielichtige Typen mit Lederjacken und Goldzähnen sein, die zu einer gemeinsamen Sprache finden. Geld kittet viele Brüche. Ich glaube, dasseine Versöhnung finanziell motiviert sein wird. Eine vollständige ökonomische Scheidung ist für beide Seiten ungeheuerineffizient. Ihre Wirtschaften waren stets engstens verbunden, das eine Land bleibt für das jeweils andere der logische Handelspartner. Es ist Unsinn, drei Brunnen zu graben, wenn doch einer völlig ausreichen würde. Sogar jetzt befördern Lastzüge während der Feuerpausen still und leise Kohle aus dem Rebellengebiet in den Rest der Ukraine. Die Ukraine braucht sie, der Donbass braucht Geld, und geschickte Geschäftsleute auf beiden Seiten können immer ein wenig Profit gebrauchen, den sie mit solchen Transaktionen machen. Die Alternative, nämlich Fluchtiraden über den Zaun und gelegentliche Müllattacken wie damals in meiner Familie, erscheint mir einfach zu bedrückend. Ich möchte gerne glauben, dassunsere beiden Nationen zu etwas Besserem taugen.

Wenn ich auf die Andere Seite komme, wünsche ich mir vor allem, meinen Großvater zu finden. Was macht es, dass er in seinem früheren Leben der Böse Nachbar war? Das ist lange her.

Ich träume davon, dass wir uns unter der Birke treffen, wo ich allein in meinem Liegestuhl lag, während er mich von der anderen Seite des Zauns anstarrte. Er wird sich dann endlich von seiner Veranda erheben und mit seinem seltsam militärischen Schritt langsam zum Zaun gehen. Dann wird er ihn mit seinen alten Soldatenhänden systematisch niederreißen.

Und ich werde aus dem Liegestuhl aufspringen, mit meinen kleinen fünfjährigen Füßen achtlos über Mamas sorgsam angelegte Erdbeerbeete sprinten und in seine Arme fallen. Wir werden uns lange und innig umarmen und endlich auf ewig beisammen sein. Ich werde die Rauheit seiner grauen Barthaare auf meiner Stirn fühlen und die Wärme seiner Tränen. Wir werden zusammen auf seine Seite gehen, auf der Veranda sitzen, und er wird mir Geschichten vom Krieg erzählen. Denn er wird trotz all dem immer mein Großvater sein. Jeder hat ein Recht, wenigstens einmal von seinem Großvater umarmt zu werden. Mir blieb das versagt.

Ich kann nur hoffen, dass Ukrainer und Russen eines Tages auch so füreinander fühlen werden. Das mag nicht in der derzeitigen oder der nächsten Generation passieren, aber vielleicht, hoffentlich, unter den Enkeln. Vielleicht werden sie wie ich ihren Großeltern vergeben können. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.