Das letzte Kapitel

„Wir Kinder hungerten so sehr, dass wir auf allen Vieren zum Misthaufen neben der Küche krochen. Dort sammelten wir Kartoffelschalen ein und brachten sie unseren Müttern, damit sie das, was noch daran zu kochen war, für uns wärmen konnten.“ Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter in Wien: eine Erinnerungsfahrt.

Es wäre eine ganz normale Busfahrt durch Wien gewesen, von der Leopoldstadt nach Favoriten. Wäre da nicht diese flattrige, gebrochene Stimme, die aus dem Lautsprecher dringt. „Bitte schön, gnädige Frau, bitte Brotmarken, so habe ich auf der Straße – wo ich gar nicht sein durfte – die Leute angesprochen“, berichtet Pearl Zimmerman von ihrem Erlebnis als 12-jährige Zwangsarbeiterin. „Einige haben mir auch Marken gegeben. Einmal wurde ich von unserer Aufseherin erwischt, da sperrte sie mich zwei Tage in einen dunklen Keller ohne Wasser und Brot.“ Die Mutter der kleinen Pearl musste der unerbittlichen Frau Zigaretten und ihr mühsam Erspartes geben, um das Mädchen freizukaufen.

Das ist nur ein winziger Ausschnitt jener Einspielungen aus audiovisuellen Dokumenten, die auf der eintägigen Bustour zu hören waren: als Einstimmung auf die Gedenkfahrt zu den Orten ungarisch-jüdischer Zwangsarbeit in Wien. „Bewegt erinnern“ nennt sich das Projekt der Wissenschaftler des Wiener Wiesenthal-Instituts für Holocaust-Studien (VWI) und der Studenten und Studentinnen der Universität für angewandte Kunst. An acht Standorten von ehemaligen und noch bestehenden Betrieben in der Leopoldstadt, in Favoriten, in Rudolfsheim-Fünfhaus, in der Lobau und in Floridsdorf wurde dieser Opfer der Shoah gedacht: Historiker, Soziologinnen, aber auch Zeitzeugen erläuterten jeweils an Ort und Stelle die Geschichte dieses Zwangsaufenthaltes in Wien aus unterschiedlichen Perspektiven, angefangen von Fragen der Unterbringung, Arbeit, Versorgung und Hilfe bis zum Überleben oder zum Tod.

„Die durch das Arbeitsamt zugewiesenen ungarischen Juden gelten als Häftlinge der Geheimen Staatspolizei und müssen stets als solche behandelt werden. An- und Abmarsch zu beziehungsweise von der Arbeitsstätte hat in geschlossenen Kolonnen zu erfolgen. Für je 50 Köpfe ist ein Judenpolizist (Jupo) zu bestimmen, der für seine Gruppe die volle Verantwortung trägt.“ (Der Befehlshaber der Sicherheitspolizei, Außenkommando Wien: 9.August 1944, II., Castellezgasse 35).

In den letzten Monaten des Jahres 1944 wurden etwa 60.000 ungarische Jüdinnen und Juden unter verschiedenen Rechtstiteln, offiziell als „Leihgabe“ des ungarischen Staates, aber real als Zwangsarbeiter in das Deutsche Reich und somit auch in das heutige Österreich deportiert. Ein Teil war – über das Lager Mauthausen – in das SS-Lagersystem eingegliedert. Ein anderer wurde dem „Außenkommando Wien“ des Sondereinsatzkommandos Eichmann unterstellt und somit über die Gauarbeitsämter verschiedenen Firmen und Betrieben zugeteilt. Heute listet die Projektgruppe rund 100 Firmen und landwirtschaftliche Betriebe im Großraum Wien auf, die von dieser Zwangsarbeit profitierten: von bekannten Großunternehmen wie Siemens oder Waagner-Biró bis zur Stadtbäckerei Ottakring und einer Zahnambulanz in Floridsdorf.

Zuerst in regionale Ghettos gepfercht

Nach der Besetzung Ungarns durch NS-Deutschland im März 1944 wurden die ungarischen Juden zuerst in regionale Ghettos gepfercht. Im Sommer 1944 setzte sich dann die Leidensgeschichte dieser geschundenen Menschen hier fort: Da gegen Ende des Krieges Arbeitskräftemangel herrschte, wurden sie über ein Abkommen zwischen Ungarn, der eigens eingerichteten Wiener Außenstelle des in Budapest tätigen Sondereinsatzkommandos Eichmann und den Gauarbeitsämtern zur Zwangsarbeit in Industriefirmen in landwirtschaftlichen und gewerblichen Betrieben, vor allem in der Rüstung eingesetzt. Bereits Anfang Juni 1944 langten die ersten ungarischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Ostösterreich ein. Zeitgleich versuchte der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, nicht zuletzt wegen der sich abzeichnenden Kriegsniederlage, mit den Westmächten bezüglich eines Separatfriedens ins Gespräch zu kommen, und signalisierte seine Bereitschaft, Juden freikaufen zu lassen.

Etwa 15.000 Jüdinnen und Juden aus Südostungarn wurden in der Folge nicht in das Vernichtungslager Auschwitz, sondern nach Strasshof an der Nordbahn deportiert. Diese Menschen sollten so lange in Wien und Niederdonau als Zwangsarbeiter tätig sein, bis die Verhandlungen mit den Westalliierten erfolgreich abgeschlossen wären. Im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen drohte aber auch ihnen die Ermordung. Die Deportierten der Strasshofer Transporte waren somit einerseits Zwangsarbeiter, andererseits Faustpfand für die Verhandlungen der SS, die bereits ihre Positionen für die Nachkriegszeit zu verbessern versuchte.

In Wien waren die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter oft in engen, überbelegten Wohnlagern der Gemeinde untergebracht. Aber auch die Arbeitgeber stellten den Arbeitsfähigen vollkommen unzureichende Unterkünfte und Verpflegung gemäß den vorgeschriebenen Hungerrationen zur Verfügung. Von all diesen Orten wurden sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln an ihre Einsatzplätze gebracht. „Wir sind den Menschen in der Stadt aufgefallen. Sie haben unsere ausgemergelten Gesichter und abgemagerten, lumpigen Gestalten gesehen, in der Straßenbahn und auch bei den Fußmärschen“, ist Maria Kalos, eine der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen, überzeugt. Denn manchmal bekam sie einen Apfel oder ein Stück Brot zugesteckt.

„Die Bewachung hat so zu erfolgen, dass Fluchtversuche und ein Zusammentreffen mit Nichtjuden außerdienstlich unmöglich sind. Bei Fliegeralarm ist die jüdische Arbeitskolonne nach Tunlichkeit ins Lager zurückzuführen, auf alle Fälle jedoch geschlossen zu halten und besonders streng zu bewachen. Die gemeinsame Benützung des Luftschutzraumes mit Nichtjuden ist verboten.“ (Richtlinien des Außenkommandos Wien).

Aber auch diese totale Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft, die „nichts gehört und nichts gesehen hat“, wurde in Einzelfällen durchbrochen. „Ich habe an einem Sonntag den Fabrikshof gekehrt, da ist mir plötzlich ein belegtes Brot vor die Füße gefallen. Ich schaute auf und sah eine ältere Frau im dritten Stock am Fenster, die mir Zeichen machte hinaufzukommen“, erzählt Stephen Berger. Der damals junge Mann ging in die Wohnung und wurde mit einem warmen Essen belohnt. Er sah das Foto eines jungen Soldaten, daraufhin erzählte seine Gönnerin, dass ihr Sohn an der russischen Front vermisst sei. „Da habe ich ihre Motivation verstanden, sie dachte: ,Vielleicht findet jemanden meinen Sohn und gibt ihm etwas zu essen.‘“

„Wir Kinder hungerten so sehr, dass wir auf allen Vieren zum Misthaufen neben der Küche krochen, um von den Aufsehern nicht entdeckt zu werden. Dort sammelten wir die Kartoffelschalen ein und brachten sie unseren Müttern, damit sie mit ein wenig Wasser das, was noch daran zu kochen war, für uns wärmen konnten“, erinnert sich István Langermann.

Lohn für die meist 12-stündige Tagesarbeit gab es nicht. Das Außenkommando Wien gestattete zwar jüdischen Hilfsorganisationen, Schuhe und Kleidung an die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu verteilen, doch auch da gab es strengste Auflagen: „Schuhwerk kann unter Anlegung des strengsten Maßstabes für Arbeitseinsatzfähige einmalig beschafft und bis zum Betrag von RM 8.- für ein Paar mit dem Sondereinsatzkommando verrechnet werden. Die Schuhe gehen damit ins Eigentum des Sondereinsatzkommandos über.“

Im Frühling 1945, mit dem Herannahen der Front wurden die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zum Teil ins KZ Theresienstadt „evakuiert“, zum Teil in Gewaltmärschen Richtung Mauthausen getrieben. Entlang der Marschroute kam es zu zahlreichen Massakern, so in Hofamt Priel, in Mikulov, Weißenbach und Scheibbs.

In der Davidgasse unerwünscht

Da sowohl Mauthausen als auch das provisorische Zeltlager vor dem KZ bei der Ankunft bereits überfüllt waren, mussten viele der überlebenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter den Todesmarsch nach Gunskirchen mitmachen, dessen Opferzahl auf etwa 6000 Personen geschätzt wird. Mehr als 26.000 der etwa 60.000 ungarischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die im Frühsommer und Herbst 1944 nach Ostösterreich verschleppt worden waren, überlebten diese Zeit nicht.

„Ich hätte mir nicht gedacht, dass wir hier auf der Straße zwischen Polizeiautos und Scherengitter eingezwängt stehen müssen“, ruft Philipp Rohrbach, der am VWI wissenschaftliche Projekte betreut, lautstark der Reisegruppe zu. Denn im Innenhof der ehemaligen Papierwarenfabrik Adolf Reiss in der Davidgasse 89 sind wir nicht erwünscht. „Zwei Firmen wollten uns nicht haben, die Ausreden waren sehr schwammig, sie reichten von ,Imageschaden‘ bis zu ,Geschäftsstörung‘“, zeigt sich der junge Historiker enttäuscht.

Statt auf dem Areal mit dem roten Backsteinhaus erzählt er an der lärmigen Straßenecke die Geschichte dieses Betriebes, der in den 1920ern 1,5 Millionen Briefkuverts pro Tag produzierte, von denen rund 80 Prozent für den weltweiten Export bestimmt waren. „Da Adolf Reiss Jude war und die Nationalsozialisten großes Interesse an diesem lukrativen Unternehmen hatten, erfolgte 1938 zuerst das Vermittlungsgeschäft an die Österreichische Kontrollbank für Handel und Industrie und erst dann an die Ariseure: SA Hauptsturmführer Josef Jarausch und Hugo Rothe. Und die benannten die Papierfabrik sofort in Roja (Rothe & Jarausch) um“, erzählt Rohrbach. Adolf und Ilka Reiss werden 1942 zuerst nach Theresienstadt deportiert und anschließend in Auschwitz ermordet. Die Rückstellung erfolgte erst 1953 an eine entfernte Verwandte aus Bulgarien.

Die Kuvertfabrik existiert heute noch unter dem Namen Roja Mill in der Davidgasse, wo man die „Reisegruppe“ nicht haben will. Ein dunkelhaariger Mann aus der Gruppe schüttelt ständig den Kopf: „So ein Desinteresse. Hat sich so wenig verändert?“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2015)

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