Alles ohne: Über die Nacktheit - ein Sittenbild

Drunt' in der Lobau
Drunt' in der LobauClemens Fabry
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Wir werden nackt geboren. Von da an ziehen wir immer wieder unsere Kleider aus.

Die Sauna gilt als ein Ort der Nacktheit. In ihr wird schief angesehen, wer Badehose oder Bikini trägt. Vermeintlich hat dieser strafende Blick mit Fragen der Hygiene zu tun, in Wirklichkeit gilt er einem abweichenden Verhalten: Wo alle übereingekommen sind, unbekleidet zu sein, soll niemand bekleidet erscheinen. (Nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo ich diese Zeilen schreibe und an einem klirrend kalten Tag die Tür zur Sauna eines Fitnessstudios aufstieß, um zwei junge Männer in Sportbekleidung, mit Kopfhörern und Mobiltelefonen vorzufinden, die mich ansahen, als wäre ich verrückt oder gefährlich.) Abgesehen von den gierigen Blicken notorischer Spanner zeigt sich Nacktheit aber gerade dort, wo alle nackt sind, als eine verschleierte, gebrochene, gewissermaßen nicht-nackte Nacktheit. Man verhält sich, als wäre es normal, Menschen, die man nicht kennt und mit denen man nichts zu tun hat, die Vorgesetzte, Geschäftspartner, Kolleginnen oder bloß flüchtige Bekannte sein könnten, nackt zu sehen.

Wo alle nackt sind, scheint sich die Nacktheit zu verbergen, unsichtbar und undurchdringlich zu werden, zumal man versucht ist, die Genitalien der anderen zu sehen und gleichzeitig nicht zu sehen. Man tut so, als sähe man die Nacktheit nicht, als blickte man durch sie hindurch und an ihr vorbei. Mit beiläufigen Blicken spricht man der Nacktheit ab, was sie ansonsten zu versprechen scheint. Wo alle nackt sind, ist niemand nackt.

Recht eigentlich gibt es, wie Giorgio Agamben in einem erhellenden Essay auseinandersetzt, keine Nacktheit, weil man sich Nacktheit immer nur in Bezug auf Bekleidetsein vorstellen kann. Nacktheit ist ein kurzer Moment, der Augenblick zwischen Ablegen und Wiederanlegen der Kleider. Aber selbst dieser Moment verweist immer schon auf die überwiegende Mehrzahl jener anderen Momente, in denen man angezogen und Mitglied einer Zivilisation ist, in der Kleider, wie man sagt, Leute machen. Die ersten Nackten, Adam und Eva im Paradies, tausendundeinmal dargestellt in der Kunst des Abendlandes, Urbild der Nacktheit in der jüdisch-christlichen Geschichte, waren sich ihrer Nacktheit nicht eher bewusst, bis sie von jenem Baum der Erkenntnis aßen, der ihnen ermöglichen sollte, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Mit dieser Unterscheidung kommen nicht bloß eine Moral und die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt in jene Welt, in der sich die Ungehorsamen nun zurechtfinden müssen. Schlagartig wird den beiden gewahr, dass sie nackt sind. Schlagartig schämen sie sich.

Die Scham, die im Deutschen gleichzeitig den Ort der Genitalien bezeichnet, wird in der Genesis umgehend mit Feigenblättern, daraufhin mit einem Fell bedeckt, weil die Gnade des göttlichen Lichts, das die beiden zuvor einhüllte, ein für allemal verloren ist. Aus Lichtkleid wird profanes Kleid. Nun ist nichts mehr, wie es vor Kurzem noch war.

Von da an – und seit damals – sind es jene Momente, Augenblicke nachparadiesischer Nacktheit, die immer wieder, bis zur Obsession, in Bildern festgehalten werden sollen. Der nackte Körper scheint etwas zu verbergen, das es zu entdecken und enträtseln gilt und das sich in der Betrachtung offenbaren soll. An ihm soll etwas abgelesen werden, was mehr als Lust und Begehren – und vermutlich nicht weniger als eine Wahrheit verspricht. Die Nacktheit mag verschämt, unverschämt, schamlos oder bloß neugierig erforscht werden – und scheint sich doch immer wieder aufs Neue zu entziehen. Die Emotion hingegen, die Scham genannt wird, zeigt sich nicht an den Genitalien,sondern an jenem Teil des Körpers, der immer nackt ist: im Gesicht.

Wie Adam und Eva vorder Vertreibung aus dem Paradies ihre Nacktheit nicht bewusst war, weil ihnen die Möglichkeit der Bekleidung unbekannt war, sind sich Kinder ihrer Nacktheit lange nicht bewusst. (Und umgekehrt der Nacktheit der anderen: Als Kind soll ich auf einem kroatischen Strand, der mit dem angrenzenden Nacktbadestrand verschwamm, tagelang unter den Anhängerinnen und Anhängern der Freikörperkultur gewandelt sein, bis ich eines Tages auf einen Mann gedeutet und gesagt hätte, der sei ja nackt. Offensichtlich, so die gängige Deutung, habe mich etwas besonders beeindruckt.) Wie es in der Geschichte der Menschheit einen uneinholbaren Zustand der Nacktheit gibt, haben wir es auch im Individuellen mit einem ursprünglichen Zustand der Nacktheit zu tun, der umgehend bedeckt wird und ebenfalls nie wieder eingeholt werden kann: die Geburt. Das menschliche Tier kommt nackt auf die Welt. In vielen Teilen der Welt könnte es niemals unbekleidet überleben, seine Haut ist nicht gegen die Unbilden jedes Klimas gewappnet. Es ist auf Hilfe, Zuneigung und guten Willen der anderen angewiesen. Schon wird es in Windeln gewickelt und in Strampelhosen gesteckt. Schon ist die Nacktheit in der Dialektik von Anziehen und Ausziehen angekommen. In jedem Versuch, Nacktheit einzufangen, schwingt immer auch die verzweifelte Suche nach der ursprünglichen Unschuld des Paradieses und der ursprünglichen Bedürftigkeit der Geburt mit.

Gleichzeitig scheint die Idee der Nacktheit ein egalitäres, demokratisches Versprechen zu enthalten. Der Kaiser, der ohne Kleider nackt (und lächerlich) wie alle Untertanen ist, der beliebte Kniff, sich jemanden nackt vorzustellen, um ihn oder sie weniger mächtig oder bedrohlich erscheinen zu lassen, die Vorstellung, in dem Zustand, wie Gott sie schuf, wären alle gleich, kurz die verallgemeinerte Saunasituation: Wo alle nackt sind, den Insignien der Macht, der Klassenunterschiede und des Wohlstands entkleidet, scheinen alle gleich zu sein.

Dieses Phantasma, das auf der Ebene der enthüllten Körper den Vulgärhumanismus des Wir-sind-doch-alle-(nur)-Menschen wiederholt, wird in Zeiten der Biopolitik zur puren Ideologie. Die zeitgenössische Organisation des Kapitals und seiner Verwertung will direkt auf die Körper und Psychen der Einzelnen zugreifen. Man muss fit sein und funktionieren, ununterbrochen an sich arbeiten, sich nicht gehen lassen, geistig und psychisch in Ordnung sein, um die bröckelnde Ordnung der Jetztzeit aufrechtzuerhalten. Die Einzelnen sollen Mittel zum Zweck der Ökonomie werden. Ihre Körper und Geister garantieren aber nicht ihr Wohlergehen. Es geht nicht um Genuss oder die Möglichkeiten eines guten Lebens für alle. Die vielen befinden sich in der steten Vorbereitung auf das nächste Bewerbungsgespräch, um dort eingesetzt werden zu können, wo die nervösen Märkte sie gerade brauchen. Mit ihren Vorgesetzten, Chefs und CEOs sollen sie ihre Körper und Geister inden Dienst einer Sache stellen, die nichts mit ihnen zu tun hat. Die Charaktermasken des Kapitals, von denen Marx sprach, sollen auf Charakterkörpern sitzen.

Stellen wir uns für einen Moment einen Bruch in der Tradition des repräsentativen Porträts vor. Während im Gesicht und allem voran in den Augen ein Ausdruck von Individualität eingefangen werden sollte, sollten Kleider, Schmuck und alles, was den Körper bedeckt, Rang und Stellung anzeigen. Man könnte sich heute eine gründlich gewandelte Form des repräsentativen Porträts denken: den enthüllten Körper ohne Gesicht, eine Nacktheit ohne jene Nacktheit, die immer zu sehen ist. Im Adamskostüm bis zum Adamsapfel.

Dem zeitgenössischen Körper sind die Kämpfe um die Verteilung des Reichtums, um Status, Macht und Erfolg auf dem Marktplatz des Begehrens stärker eingeschrieben als in aller bisherigen Geschichte. Die Ökonomie, das Kapitalverhältnis, seine Ein- und Ausschlüsse schreiben sich in ihn und wollen ihm einen Platz in der herrschenden Ordnung zuschreiben. Gott, heißt es bisweilen in Todesanzeigen für Menschen, die zu früh gegangen sind, weil sie mit der Welt und ihrer Rolle darin nicht zurande kamen, schreibe gerade auf krummen Linien. Der zeitgenössische Kapitalismus versucht, in die Körper und Psychen der Menschen zu schreiben, es liege alles einzig und allein an ihnen – wie es ihnen gehe, wer sie seien, worauf und ob sie hoffen dürften, Glück und Unglück, Erfolg und Scheitern. Der Kommunismus, hieß es einmal, sei eine gute Idee, allein die Menschen seien nicht für ihn geschaffen. Heute offenbart sich der Kapitalismus als jene Idee, für die Menschen offenbar nicht geschaffen sind. Um ihm zu genügen, sollen ihre Körper und Geister fortwährend verändert werden. Aus seiner Perspektive sind wir Mängelwesen, die sich krümmen und als gerade empfinden sollen.

Stellen wir uns also für einen Moment einen heutigen August Sander vor, der es sich zur Aufgabe machte, Menschen des 21. Jahrhunderts nackt und kopflos zu porträtieren. Die Bildlegende verriete den Beruf: Fleischer, Banker, Polizistin, Aktienhändler, Ministerin, Arbeitsloser, Zahnärztin, unendliche Liste. Die starken, gesunden, geformten, kampfbereiten Körper fänden sich überwiegend auf der Seite jener, die über Geld, Macht und Einfluss verfügen. Stark und gesund haben jene zu sein, die sich in den Dienst der Märkte stellen und das als Privileg empfinden sollen. Anders gesagt: Der schmerbäuchige Kapitalist, dessen Reichtum sich in Fett umsetzt, ist nur noch eine Karikatur einer Karikatur oder Signum der Neureichen in sogenannten sich entwickelnden Regionen – wie umgekehrt der kraftstrotzende Deklassierte und die Klassenkämpferin mit dem starken Arm. Wer nicht über ausreichend Disziplin, über das Wissen um und den Zugang zu gesunder Ernährung verfügt, wird heute eher Fett ansetzen als der Entscheidungsträger, der sich und den anderen in erster Linie signalisieren soll, dass er sich auch nichts schenke. Es sind dieselben Menschen, denen der herrschende Diskurs in einem fort zuruft, sie müssten die Gürtel enger schnallen. Die klassische Bildlogik des Klassenkampfes hat sich umgekehrt: Der Manager von heute will wie der Arbeiter auf verblichenen Propagandaplakaten kommunistischer Staatsparteien aussehen.

Und doch zeigte sich an solchen Porträts noch etwas anderes. Jenseits der Bildlegenden vermuteten wir beim Betrachten etwas hinter der Nacktheit, unter dem Fleisch, jenseits des Sichtbaren. Im Festhalten und Darstellen der Nacktheit vermengen sich die Bemühungen um eine Idee von Unschuld mit einer Idee von Bedürftigkeit und einer Idee von Gleichheit. Das Begehren sieht dabei zu, Schönheit wird verhandelt und vorgeschlagen, immer soll etwas entdeckt werden, das zugedeckt scheint, ein Versprechen eingelöst werden, das über sich hinausweist und nie zu greifen ist. „Einen nackten Körper zu sehen heißt“, schreibt Giorgio Agamben, „seine reine Erkennbarkeit jenseits jeden Geheimnisses wahrzunehmen, jenseits oder diesseits seiner objektiven Prädikate.“

Wir werden nackt geboren. Von da an ziehen wir immer wieder unsere Kleider aus. Bisweilen ist Ausziehen anziehend, dann wieder abstoßend oder verstörend – je nachdem, was man dem Körper abzulesen meint. Vielleicht kommt es heute darauf an, nicht auszusehen, wie man idealtypisch aussähe, wenn uns ein zeitgenössischer August Sander nackt und kopflos als Menschen des 21.Jahrhunderts porträtierte. Wenn Bild und Legende nicht übereinstimmten. Wenn man dem Körper nicht abläse, wo sein Platz in der herrschenden Ordnung sein sollte. Wenn es, mit anderen Worten, so wäre, wie es auch schon ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2015)

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