Noch eine letzte Kehre

Was zieht uns denn in die Berge? Die Seilbahn, antwortete der junge Brecht, und mit der war ich bestenfalls auf der Rax. Bis es mich einmal nach Altaussee verschlug.

1 Ich war lange nicht in Ischl, was sollte ich auch dort. Das war nicht mein Revier. Als angehender, als vergeblicher, als mutwilliger Autor verkehrte ich im Kaffeehaus, einmal in dem, einmal in jenem, alle in der Großstadt. Als Jugendlicher musste ich allerdings in die Berge. Als Kind muss man mitlatschen, ob man Lust hat oder nicht. Noch eine letzte Kehre, sagten meine Mutter und ihr Lebensgefährte, wenn wir vom Preiner Gscheid auf die Rax stiegen. Dass Schurli gerne dorthin ging und immer wieder, nahm mich nicht wunder. Erstens war er ein Simmeringer Arbeiterkind, bei den „Naturfreunden“ seit je und valera und valeri. Nach den Februarkämpfen 1934 versteckten sich Schutzbündler wie er vor den Vaterländischen und vor der Polizei auf der Rax einen ganzen Sommer lang. Die Burschen und Mädeln beobachteten, auf Grasmulden sitzend, wie die Gendarmen den Karlgraben heraufschnauften; bei einer gewissen Kehre standen die Jungsozis auf und verschwanden in eine der vielen Selbstversorgerhütten auf dem Raxplateau. Die Gendarmen tranken ihr Bier im Karl-Ludwig-Haus und gingen wieder von hinnen.

Schurli war süchtig nach den Bergen. „Die Rax hilft immer“, sagte er, wenn er von dort zurückkam. Meine Mutter machte sich zwar nichts aus den Alpen, aber sie war dem Schurl eine gute Frau und Genossin und bestieg mit ihm die Gipfel, ob Spitzkofel oder Großvenediger, ob Simonyhütte oder bloß den Ötscher, aber von der schwereren Seite, vom Rauen Kamm. Als ich bei Trost war, begannen die beiden mich mitzunehmen. So musste ich im dichten Schneetreiben von der Kürsingerhütte zur Prager Hütte stapfen, den Handschuh sah man nicht vor den Augen, aber Schurli war der lebendige Kompass. „Noch ein knappes Stündchen.“ Ich hatte die Berge so satt, die Alpen haben schon recht, wenn sie ihre dreisten Betrampler von Zeit zu Zeit in die Täler werfen.

Ab 68 war aber Schluss mit der Natür. Was zieht uns denn in die Berge? Die Seilbahn, antwortete der junge Brecht, und mit der war ich gelegentlich noch auf Schurlis Rax. Bis es mich einmal nach Altaussee verschlug. Schuld daran war Schnitzler.


2
Vom Völser Weiher kraxeln die Schnitzlerfiguren auf schwer zu besteigende Steinnadeln. Zwischen waghalsigen Besteigungen der Felsen und den unverschämten Treulosigkeiten in den Tälern danach flirrt die Schnitzlersche Lebenseinsicht umher, wirft den mitleidlosen Blick auf das wichtigtuerische Gehabe. „Die Seele ist ein weites Land“, sagt ausgerechnet einer, der so eine Felsnase erstbestiegen und danach Dutzende Kinder zwischen Südtirol und Semmering gezeugt hat, deren eines hernach auch eine der Tragödien auslöst, in welchen auskristallisiert, was wir eine tiefe und schwierige Kenntnis von Menschenkindern nennen mögen.

Die Juden der Jahrhundertwende waren alle ständig in den Zerklüftungen. Bisweilen kommt es mir vor, dass die Liebe der Juden zu den Bergen auch damit zusammenhängt, dass diese etwas Egalitäres haben. Die Alpen machen keinen Unterschied zwischen Jud und Christ oder Arier, sie werfen ab, wen sie wollen. Den Unterschied müssen also die Alpenvereine machen, die sich ihre Boden- und Wurzelbezogenheit nicht von Asphaltmenschen, Geldsubjekten und Schriftmurmlern stören lassen wollten. Die bodenständigen Älpler hatten noch ganz andere Gründe, die Juden auszuschließen, wo es geht, aber in der Alpenwelt ging es leichter als in den Zeitungsredaktionen. Wie immer focht das die Juden nicht an. Sie ließen sich ihre Naturliebe, ihreHeimatliebe nicht von den Natur- und Heimatschratten rauben. Und ich war neugierig aufAussee. Dorthin gelangt man, wenn man von der Donau kommt, indem man an allerlei vorbeifährt. An Ebensee hatmich nicht so sehr der liebliche und durchaus indolente Traunsee interessiert, sondern Mauthausens Außenkommando, das KZ Ebensee, wo mein einstiger Schwiegervater,Albert Pordes, ebenso sein Kaumleben fristen musste wie Leon Zelman. Daher musste auch mein Romanheld Herrman Gebirtig in Ebensee weilen und sich dort seine Bitterkeit, seine Wut und seine Verlorenheit in mitteleuropäischen Welten anzüchten.

Er notiert, als er zurückkommt, um als Zeuge in einem Naziprozess auszusagen und in Altaussee sich zwischenparkt, in sein Tagebuch: „Sie nehmen Anlauf, und dann laufen sie auf den Abgrund zu. Schweben hoch überm See in diesen Hängegleitern. Ich schaue ihnen vom Losergasthaus zu. Vor mir die Trisselwand, unverändert, wie mir scheint. Die Burschen fahren mit den Autos die Panoramastraße hinauf, neben sich ihre Frauen oder Freundinnen. Alle haben sie außer den Hängegleitern eine Frau dabei. Dann bauen sie das Gerät zusammen, die Frauen werden freundlich kommandiert. Sie hocken in Gruppen beieinander, die Männer reden, die Weiber hören zu. Einer geht zum Gleiter, hängt sich die Arme hinein und läuft zum Abgrund. Kaum gleitet er, steigt schon die Freundin ins Auto und fährt die Panoramastraße runter, um den Meister unten am Landeplatz zu erwarten. Daran haben die Österreicher Spaß. Wie würde ich mich fühlen als Punkt überm Altausseer See, a jüdischer Adler? Vom Dachstein tät kommen ein plötzlicher Fallwind, und drin wär ich im See und Ruhe. Hätte ich damals wie jeder? Was schreib ich für Schmonzes?“

Von Ischl wusste ich, dass der wunderbare Leo Perutz dort begraben liegt, eher als dass es dort eine Konditorei Zauner gibt. Bei Bad Goisern fiel mir zuerst der erste postnazistische Bürgermeister, Arnolt Bronnen, ein und der nachhaltige Jörg Haider, die zickzackene Bergwelt nehme ich hin. Für die schöne Katrin und Sophiens Doppelblick hatte ich kein Organ und mochte mich über die Judenscharen immer wieder wundern, die sich auch in Adlers Höh und Ruh Saujuden nennen lassen mussten und dennoch unablässig die gute Luft mit den Berghanseln teilen wollten. „Ein Jud gehört doch ins Kaffeehaus“, dachte ich genauso wie der einstige Ringer Ernst Weiss, als er im Doppelnelson seines Gegners schwitzte.


3
Überassimilierte sind das. Als müssten sie in einem fort beweisen, dass sie sind wie die anderen. In den Lederhosen liefen sie um den Altausser See und tun es noch. Doch die Alpenhanseln ließen sich selten täuschen. Sie rochen aus den krachledernsten Hosen dasGhetto heraus. Unbeteiligt beobachteten sie von der Hungerburg in Innsbruck den Abtransport der Juden 1942. Mit Joppe und Gamsbart angetan, rauchten zwei von ihnen seelenruhig ihre Pfeifen, derweil sich amBahnhof die entsprechenden Szenen abspielten. Schließlich sagte der eine zum andern und deutete auf die Judenheit unter ihm: „Ich tät mich verkleiden.“ „Als was“, fragte der andere. „Als Tiroler!“ „Auf deine Ezzes hab ich gewartet“, sagte schließlich der andere.

Wenn's wahr wäre und sich Juden auf diese Art hätten retten können! Bloß der Schauspieler Reuss konnte als Tiroler eine Zeitlang durchgehen, schließlich floh er rechtzeitig.

Ist also in der Liebe zu den Alpen der gleiche Anpassungsdruck herauslesbar wie im sattsam bekannten Patriotismus für Deutschland und die Monarchie? Ist die Liebe zum Edelweiß gleichlautend der Liebe zu den Orden und Kriegsauszeichnungen? Sind wir Juden nicht gradso verblendet und anfällig für Chauvinismus und Blut und Boden wie die anderen auch? Ist der Kaffeehausjud nicht eine Erfindung der Antisemiten, die dann von künstlerischen Juden für eine gute Idee gehalten wurde, weil Kaffeehaus an und für sich ein Seelenort ist, wo Lyrik, Quadratwurzeln und Geschäfte gleichermaßen das Fleisch dafür bilden konnten? Oder gehören die Alpen eh erst dem lieben Gott und dann allen Menschen gleichermaßen? Und als ich dann endlich in Aussee ankam, verfiel ich diesem Ort wie so viele vor mir. Bis heute kann ich nicht sagen, wieso. Hören wir Torberg:


SEHNSUCHT NACH ALTAUSSEE

Wieder ist es Sommer worden,
dritter, vierter Sommer schon.
Ist es Süden, ist es Norden,
wo ich von der Heimat wohn?


Kam ich auf der wirren Reise
nicht dem Ursprung wieder nah?
Dreht die Welt sich noch im Kreise?
Ist es Sommer dort wie da?

Gelten noch die alten Strecken?
Streben Gipfel noch zur Höh?
Ruht im bergumhegten Becken
noch der Altausseer See?
Bot sich einst dem Blick entgegen
spiegelschwarz und wunderbar.
Himmel war nach manchen Regen
bis zum Dachsteingletscher klar.

Kulm und Kuppe: noch die kleinern
hielten Wache rings ins Land.
Aufwärts ragten grün und steinern
Moosberg, Loser, Trisselwand.

Ins Plateau zu hohem Rahmen
wölbte sich die Pötschen schlank,
und es wuchsen die Zyklamen
nur auf ihrem drübern Hang.

Ach, wie war ich aller Richtung
sommerlich vertrautes Kind!
Ach, wie war mir Wald und Lichtung,
Bach und Mulde wohlgesinnt!

Treibt's mich heut zum See? Zur Klause?
Treibt's mich auf die Blaa-Alm hin?
Wird's beim Fischer eine Jause?
Wird's ein Gang zur Wasnerin?

Wo die Triften sanft sich neigten
vom Geröll zum Flurgeheg –
ach, wo ist's, dass sich verzweigten
Hofmannsthal- und Schnitzler-Weg!

Ach, wo hat's mich hingetrieben!
Pötschen weiß ich, und Plateau.
Aber welcher Hang ist drüben?
Aber die Zyklamen – wo?

(In Kalifornien, 1942)


4 Heute ist Aussee ein Ort, wo ein friedvolles Nebeneinander existiert zwischen nachgewachsenen Juden, alten Nazis, deren Mitläufern und Nachkommen. Am friedvollsten sieht man es am Friedhof. Da liegt der Jakob Wassermann zehn Meter neben dem Bruno Brehm. Und hinter der Mauer liegt der hohe SS-Mann Wilhelm Höttl. Er hat sich nach Kriegsschluss der Alliiertenanklage als Zeuge zur Verfügung gestellt und rettete so seinen Kopf. Friedlich und nebeneinander betrieb er Jahrzehnte in Bad Aussee eine private Mittelschule. Gegen Ende seines Lebens widerrief er seine einstige Aussage, um hernach seinen Widerruf zu widerrufen. Er starb in Einklang mit seiner alpinen Welt und blinzelt zusätzlich über die Mauer zu Wassermann hinüber, der auf die Art nicht so wirklich bis zum Jüngsten Tag schlafen kann. Bloß Ernst Kaltenbrunner aus Ried im Innkreis, der dann hier geschnappt wurde, konnte weder in der engsten Heimat des Führers noch hier begraben werden. Er wurde in Nürnberg gehängt. Seine Asche verstreut.

Als Torberg aus der „Emigration“ zurückkam, arbeitete er eine Zeitlang bei der steirischen sozialdemokratischen Zeitung „Die neue Zeit“. Also wollte er den Altspatzen und gottbegnadeten Führerdichter Bruno Brehm interviewen. Er soll sich ihm vorgestellt haben mit dem Satz: „Grüß Gott, ich bin der Friedrich Torberg von der ,Neuen Zeit‘.“ Bruno Brehm soll gelächelt und erwidert haben: „Na ja, ich bin der Bruno Brehm von der alten Zeit.“

Den Alpen ist das gleichgültig. Und wenn ich einst vor dem Ewigen stehe und er mich fragen wird: „Hast du meine Alpen gesehen?“, werde ich nicken.

„Und?“

„Zu viele Kehren, Herr.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2009)

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