Wenn Mord zur Posse wird

Eine dieser alten Geschichten von Macht, Gier und Tod? Eine politische Satire? Ein Agententhriller? Ein Anachronismus des Kalten Krieges? Nichts von alledem. Der Fall Alijew ist Realität. Und damit aber doch ein bisschen von alledem.

Unser Rechtsstaat ist schuld. Normen, wohin man schaut. Manche davon entwickeln bei Anwendung ungeheures Potenzial. Ein Musterbeispiel: der Paragraf 65 des österreichischen Strafgesetzbuchs. Dort versteckt sich hinter sperrigem Juristendeutsch der Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege. Verweigert unser Rechtsstaat die Auslieferung eines mutmaßlichen Straftäters in dessen Heimatland, müssen wir, die Republik Österreich, die Strafverfolgung übernehmen. Dies tritt ein, wenn zu befürchten ist, dass der Verdächtige in seiner Heimat kein faires Verfahren (dies ist ein Menschenrecht) bekommt.

Der Aufwand der Stellvertreter-Justiz ist enorm. Behörden müssen länderübergreifend ermitteln. Das kann Jahre dauern. Die Staatsanwaltschaft muss schlussendlich entscheiden: Anklage oder Verfahrenseinstellung. Bei Anklage müssen Gerichte Verhandlungen führen, Urteile finden, Beschlüsse ausfertigen. Und so fort.

War da nicht jemand? In der Tat. Da war dieser Rachat Alijew. 2002 bis 2005 und noch einmal kurz 2007 von der autoritären Führung des zentralasiatischen Riesenlandes Kasachstan als Botschafter nach Wien entsandt. Und da war ein Kapitalverbrechen. Ein Doppelmord.

Die Opfer: die beiden kasachischen Bankmanager Zholdas Timralijew und Aybar Khasenov. Die Tatzeit: 9. Februar 2007. Der Tatort: die Remisovka-Schlucht am Südrand der kasachischen Metropole Almaty. Der oder die Täter: ... Welche(r) Name(n) hierher gehört, will derzeit Österreichs Justiz an Stelle Kasachstans herausfinden.

Die Staatsanwaltschaft Wien sagt, Alijew sei es gewesen. Er, höchstpersönlich, soll die Bankmanager erdrosselt haben. Alijew hingegen hat immer gesagt, er sei schuldlos. Seit 28. Februar dieses Jahres ist der frühere Spitzendiplomat tot. Bleiben noch zwei mutmaßliche Komplizen. Jenen wird derzeit in Wien der Prozess gemacht. Stellvertretende Strafrechtspflege eben. Wie vorgesehen.

Wie vorgesehen? Mitnichten. Nichts, aberauch gar nichts, ist in diesem Fall normal. Alijew wurde erhängt in seiner U-Haft-Zelle des landesgerichtlichen Gefangenenhauses Wien-Josefstadt aufgefunden. Der Hauptverdächtige starb in der Hauptstadt des Stellvertreter-Staates. In Kasachstan, so hatte es geheißen, würde dem Botschafter vielleicht etwas zustoßen. Aber in Österreich – da sei er wohl sicher. Posthum wirkt diese Einschätzung unfreiwillig zynisch.

Dieser Tod machte Wien auch gleich zur (Welt-)Hauptstadt der Verschwörungstheorien. Wurde ein mutmaßlicher Doppelmörder selbst zum Mordopfer? Alijew-Verteidiger brachten reflexartig den kasachischen Geheimdienst KNB ins Spiel. Abgesehen davon, dass es für einen Auftragskiller leichter zugängliche Orte als eine Gefängniszelle gibt, fand man bis heute keinen Hinweis auf Fremdverschulden. Dafür geistert immer noch die These vom „Suizid auf Verlangen“ umher. Wer so etwas hätte verlangen sollen (wieder der KNB?) und warum, wurde bisher nicht beantwortet. Toxikologen stellten im Blut des Toten einen Cocktail aus Beruhigungsmitteln fest. Alijew hatte Medikamente verschrieben bekommen. Er hat sie offenbar gesammelt, geschluckt und sich dann mit Mullbinden an einem Kleiderhaken erhängt. Allerdings: Ein klares Suizid-Motiv (so es dergleichen je geben kann) liegt nicht vor.

Man muss wissen, wer dieser Alijew (1962–2015) war. Der Mediziner und Wirtschaftswissenschafter war Politiker, nämlich Vizeaußenminister vonKasachstan. Er war Unternehmer (Medien, Zucker),und er war größter Teilhaber jener Bank, der Nurbank, deren Manager starben. Ferner war er Chef der Finanzpolizei und Vizechef des bereits erwähnten Geheimdienstes. Vor allem aber: Er war der Schwiegersohn des kasachischen Langzeit-Despoten Nursultan Nasarbajew. Er war also jemand. Jemand, den man nicht einfach ansprach, wie Zeugen im Prozess gegen die mutmaßlichen Komplizen ausgesagt haben. Man wartete, bis man angesprochen wurde.

Warum die Morde? Die Staatsanwältin, eine beharrliche, vor Publikum etwas scheu wirkende Juristin, die immer umständlich „Doktor Rachat Alijew“ sagt und damit (unwillkürlich) den Anschein erweckt, als wäre dieser noch am Leben, hat eine Erklärung. Diese ist auch ein bisschen umständlich. Es geht um Nurbank-Kredite, die nach der Meinung Alijews nie hätten vergeben werden dürfen. Und um... um es kurz zu machen: Das Mordmotiv sei teils Geldgier, teils Zorn gewesen.

Alle Vorwürfe erlogen. Alles ein Komplott der Kasachen. Sagt die Verteidigung, angeführt von dem schillernden Wiener Star-Advokaten Manfred Ainedter. Alijew sei –und das liest man in diversen Medien unzählige Male – bei Nasarbajew, also bei seinem einstigen Schwiegervater, „in Ungnade gefallen“. Aber warum? Weshalb fiel er denn „in Ungnade“? Wieso wurde er mit Feuer undSchwert von Kasachstan verfolgt? Darüber liest man wenig. Ging es auch um Geld? Laut Anklage hatte Alijew den früheren Nurbank-Generaldirektor genötigt, Bankaktien an die Präsidententochter Dariga zu übertragen. An diejenige Dariga Nasarbajewa, mit der er, Alijew, verheiratet war. Später wurde die Ehe geschieden. Angeblich auf Druck des mächtigen Vaters.

Oder fürchtete Nasarbajew, Alijew werde Oppositionspolitik machen? Oder – dies ist die gängigste (einst auch von Alijew selbst verbreitete) Erklärung: Nasarbajew witterte, dass ihn sein Schwiegersohn vom Thron stoßen und selbst Staatsführer werden wolle.

Also Kasachstan versus Alijew. Ein Kampf, der gespenstisch anmutet, weil er vom kasachischen Regime auch jetzt noch geführt wird; Monate nach dem Tod des Mannes, der einst selbst zum engsten Machtzirkel der Ex-Sowjetrepublik zählte. Der verlängerte Arm der kasachischen Generalstaatsanwaltschaft in Astana reicht bis in den Wiener Gerichtssaal. Bis dorthin, wo über die beiden mutmaßlichen Alijew-Komplizen zu urteilen ist. Die kasachische Generalstaatsanwaltschaft lässt ihre Interessen hierzulande von dem prominenten Anwalt Richard Soyer vertreten. Er sei nur „Bindeglied“ zwischen den Justizbehörden. So sagt es Soyer, bemüht um eine neutrale Sprachregelung. So mancher, der ihn kennt, wundert sich. Soyer hat sich nämlich den respektablen Ruf erworben, gegen jene zu kämpfen, die Menschenrechtsverletzungen begehen. Als Kämpfer für ein Land, in das Österreich nicht ausliefert, hatte man ihn nicht erwartet. Auch die Witwen der Opfer spielen eine tragende Rolle. Zunächst arbeiteten sie mit ihren Mitteln an einer Verurteilung Alijews. Seit dessen Tod hoffen sie, dass wenigstens die anderen beiden Angeklagten verurteilt werden. Das wirktwie ein Schulterschluss mit dem offiziellen Kasachstan.

Die Witwen werden von dem nicht minder prominenten Anwalt Gabriel Lansky vertreten. Er – ebenfalls als Vorkämpfer für Menschenrechte bekannt geworden – tut, was er gut kann: Opferrechten zum Durchbruch verhelfen. Dabei wurde von ihm nie der Wunsch nach Ermittlungen in alle Richtungen signalisiert. Vielmehr arbeitete er mit vielAufwand auf eine Verurteilung Alijews hin. Und suchte offenbar die Zusammenarbeit mit den kasachischen Behörden. Das kann man aus Schriftstücken schließen, die aufgrund eines Datenlecks im Hause Lansky ihren Weg in Zeitungsredaktionen fanden. Für dieses – in Sachen Anwaltsgeheimnis unschöne – Leck kann Lansky nichts. Da wurde der Opferanwalt selbst zum Opfer. Cybercrime nennt man das. Das Leck hat auch das Interesse der Staatsanwaltschaft geweckt. Sie verdächtigt Lansky der Spionage zugunsten Kasachstans und versucht jene Daten zu beschlagnahmen, die Journalisten zum Teil bereits haben. Ein weiteres Teilchen im Puzzle der Kuriositäten. Spionage? Lansky weist jede Schuld von sich.

Jedenfalls haben die Witwen der Mordopfer den erstaunlich gut dotierten Opfer-Verein Tagdyr gegründet. Dass dieser eine Tarnorganisation des KNB sein soll, konnte laut einem Gerichtsbeschluss bisher nicht unter Beweis gestellt werden. Dass die Kanzlei Lansky eine Stabsstelle für Lobbying gewesen sein könnte, wurde vor Kurzem vom Magazin „Spiegel“ dargestellt: Das Anwerben westlicher Ex-Politiker als Berater für Nasarbajew (darunter Blair, Prodi, Gusenbauer) sei über eben diese Kanzlei gelaufen. Geradezu possenhaft verlief bisher der Mordprozess gegen die beiden früheren Alijew-Vertrauten, den Ex-KNB-Chef Alnur Mussajew (61) und den Ex-Sicherheitsmann Vadim Koshlyak (42). Die beiden nach Österreich geflüchteten Männer befanden sich längere Zeit auch dann noch auf freiem Fuß, als der Mordverdacht aktenkundig war. Das ist bemerkenswert. Voriges Jahr kamen sie (so wie Alijew) endlich in U-Haft (für beide gilt die Unschuldsvermutung).

Kaum hatte die Verhandlung begonnen, wurden sie von Richter Andreas Böhm, einem Mann, der Geduld wohl nicht seine Primärtugend nennt, umgehend auf freien Fuß gesetzt. Das Oberlandesgericht (OLG) Wien machte diesen Schritt ebenso umgehend wieder rückgängig. Und ließ die beiden Herren neuerlich verhaften. Eilig hatte man es nicht. Zwischen U-Haft-Beschluss und dessen Vollzug verging eine Woche.

Gewiss, U-Haft lässt sich bei Mordanklageallemal begründen (wenngleich die Beweislage insbesondere bei Mussajew mager ist). Dennoch vermögen Feinsinnige ein kleines Foul im OLG-Beschluss zu entdecken: Fluchtgefahr (der Grund für die U-Haft) bestehe „wegen der guten Auslandskontakte der Angeklagten“. Und: Der Einwand, dass die Männer – in Freiheit – keine Flucht vornahmen, sei verfehlt. Denn die beiden seien wohl nur deshalb geblieben, weil sie keinen Grund „zu einer für sie negativen Rechtsmittelentscheidung“ (gemeint: Rechtsmittel gegen den Freilassungsbeschluss) liefern wollten. Man sieht: Nicht zu fliehen kommt auch nicht immer gut an.

Dass der Richter im Prozess jederzeit eineneuerliche Freilassung beschließen kann, macht die Sache noch ein Stück weit origineller. Außerdem: Kommt es zu Freisprüchen, würde sich das grüne Eisentor des Gefangenenhauses sowieso wieder öffnen.

Mussajew, einst väterlicher Freund Alijews, pflegt im eleganten Anzug auf der Anklagebank Platz zu nehmen. Er spricht kalkuliert wenig, verschlossen wirkt er nicht. Dass er früher schon einmal das eine oder andere Glas zu viel trank, gibt er unumwunden zu. Mord? Aber wo. Wenn (dank Soyers Vermittlertätigkeit) aus Kasachstan eingeflogene Zeugen sprechen, hört er ruhig zu. Manchmal verbirgt er höflich den Impuls zu schmunzeln. Es kommt auch vor, dass er etwas sagt, das sitzt. Zum Beispiel das Folgende zu einem Belastungszeugen: „Wie haben Sie es geschafft, so einen Text auswendig zu lernen.“ Nein, lustig ist das nicht. Dafür ist ein Mordprozess viel zu ernst. Aber es weckt Zweifel bei den Geschworenen. In den kommenden Tagen soll der Prozess enden.

War da nicht noch etwas? Natürlich. Dieses neuerliche Auslieferungsersuchen. Kasachstan will Mussajew wegen des 2006 begangenen Mordes an dem Oppositionspolitiker Altynbek Sarsenbajew einen weiteren Prozess machen. Wenn nun unser Rechtsstaat den Ex-KNB-Chef wieder nicht ausliefert, tritt Paragraf 65 in Kraft. Bekanntlich entwickeln manche Normen bei Anwendung ungeheures Potenzial ... ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.