Graf Popeye schläft anderswo

„Expedition Europa“: vom Leben zwischen Hausruinen – unterwegs in Westbosnien.

Ein ortsfremdes Paar fährt durch den bosnischen Westen, unweit der kroatischen Adria. Er lenkt, sie fotografiert. Sie durchfahren ein weites Tal, saftig grüne Wiesen, Streusiedlung. Einige Häuser sind zerstört, fast alle verlassen, ohne Fenster und ohne Dächer. „Hier würde man günstig ein Wochenendhaus kriegen“, scherzen die beiden anfangs, „kann halt sein, dass es den Hund beim Gassigehen zerfetzt.“ Sie sehen eine Minenwarntafel. Zahllose Rohbauten, die nie bezogen wurden. Bäume, die aus Hausruinen sprießen. „Wie bedrückend muss das sein, hier zu wohnen, das da immer vor Augen zu haben.“ Die Frau lässt den Fotoapparat sinken, verstummt. Sie ist zu jung, um diesen Krieg auch nur im Fernsehen gesehen zu haben. „Auch das ist Europa“, sagt der Mann noch, „und wozu war das gut?“ Dann schweigen sie. Der Frau treten Tränen in die Augen.

Sie kommen in die Kleinstadt Bosansko Grahovo. Erobertes Territorium, in diesem Fall wurden Serben von Kroaten besiegt. Die Reisenden haben in der Kantonshauptstadt Livno nichts als kroatische Karos gesehen, und der Pressechef der Kantonsregierung hat ihnen gesagt, er habe keine Daten über die im Norden ausharrenden Serben. Warum sein Kanton amtlich immer noch „Kanton Nr. 10“ heißt? „Das ist eine lange Geschichte.“

Der Hauptplatz sieht aus wie Krieg. Das Kulturhaus ist verkohlt, vor dem Gerippe des Hotels „Sarajevo“ brennt eine rostige Müllmulde. Das Plakat über dem „Caffe Forever Club” erinnert an vergangenen Sommer, an 100 Jahre Ausbruch des Ersten Weltkriegs: „Gavrilo Princip – Seid ihr selbst und seid frei!“ Die herumstehenden und herumsitzenden Menschen sind großteils Serben, die Atmosphäre ist ziganisch. Ein Säufer flüstert dem Paar zu, er sei Kroate, habe aber für die serbische Seite gekämpft: „Wie alle, die ihr hier sitzen seht.“ Markante angstfreie Physiognomien, Desperados.

Bei Gavrilo Princips Geburtshaus

Das Paar fährt zum Geburtshaus des Jünglings, der 1914 den österreichischen Thronfolger erschoss. Auch in der Katastralgemeinde Obljaj zerstörte Häuser. Von 38 Familien seien 20 Personen geblieben, erzählt ein alter Serbe. Das renovierte Geburtshaus duftet nach frischem Holz und kühlem Stein. Es gibt keinen Museumswärter, und doch stehen die Türen rund um die Uhr offen. Das Paar setzt sich auf das harte Bett. Die Decke kratzt, Vögel zwitschern in die Stille. Ein langer Kuss.

Man führt das Paar zu einem Typen in schmuddeliger Trainingshose. Er nenntsich selbst „Graf“, und da er auf gut zahlenden norwegischen Gasschiffen zur See fuhr, nennt man ihn „Popeye“. Der Graf, 61, jongliert seine Princip-Bücher, vergangenes Jahr haben ihn Fernsehsender aus aller Welt und die „New York Times“ interviewt. Er lebt allein, und sein Haus ist riesig. Das Erdgeschoß ist leer, „zwei drei Monate“ hatte er ein Restaurant drin. Er zeigt ein Foto, „4. HV, 2. PB SPLIT“ ist da auf seine weiße Hauswand gepinselt. „Das waren die Kroaten von General Gotovina, alle meine 400 Bücher sind verbrannt.“ Er legt am Tresen die Beatles auf:„Ich selbst habe nicht gekämpft. Aber ich bin der größte Princip-Experte.“ – „War das Attentat richtig?“ – „Ja, die Österreicher waren Okkupanten. Schon die griechischen Philosophen haben Tyrannenmord befürwortet.“ – „War Franz Ferdinand ein Tyrann?“ – „Ja.“

Popeye führt das Paar in den ersten Stock. Zahllose Betten und Liegen, alles ist bezogen. In welchem Bett schläft der Graf? „In keinem, ich schlafe anderswo. Wollt ihr nicht übernachten?“, fragt er. „Zehn Euro!“ Bei Graf Popeyes selbstgebranntem Slibowitz über Tyrannenmord und Jim Morrison zu diskutieren, die Vorstellung lockt durchaus. Und doch verlässt das Paar Kanton Nr. 10. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2015)

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