Wer den Dämon braucht

Das „Andere“ als Feindbild und Stimmenbringer: Matti Bunzl, designierter Leiter des Wien Museums, über alten Antisemitismus, neuen Antisemitismus – und was sie mit der hiesigen Islamophobie verbindet.

Matti Bunzl (43) ist der neue Direktor des Wien Museums und Nachfolger von Wolfgang Kos. Bunzl wird das Museum ab Oktober 2015 durch eine lange und komplizierte Phase der Renovierung und des Ausbaus führen und es mit erweiterter Ausstellungsfläche und einer Dauerausstellung neu positionieren. 2007 brachte er ein Buch über die Gemeinsamkeiten und Differenzen von Antisemitismus und Islamophobie heraus. In unterschiedlichen Zeiten und Konstellationen dienten beide Einstellungen als politisch instrumentalisierbare Gegensätze zu einem christlich kodierten Europa. „Anti-Semitism and Islamophobia: Hatreds Old and New in Europa“ reflektiert den geschichtlichen Weg der Juden durch Europa und die verschiedenen Formen der ihnen entgegengebrachten Diskriminierung bis zum Massenmord. Heute, so schrieb Bunzl 2007, seien die Juden in Europa angekommen, offener Antisemitismus werde mit der Ausnahme von Splittergruppen der „Far Right“ politisch nicht mehr propagiert. Anstelle der Juden werden heute Muslime von Parteien und Politikern wie Heinz-Christian Strache und dem Holländer Gert Wilders als Gefahr für das „christliche, supra-nationalstaatliche Projekt Europa“ konstruiert.


Matti Bunzl, in Ihrem Buch definierten Sie 2007 alte, neue und moderne Formen des Antisemitismus. Ist diese Trennung knapp zehn Jahre später noch haltbar?

Dazu ist erst einmal zu sagen, dass es für einen Juden, der in Angst lebt oder attackiert wird, im Grunde irrelevant ist, warum er attackiert wird. Und wir befinden uns heute nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“. Es ist in höchstem Maße die Pflicht des Staates und der EU, dagegen einzuschreiten. In dieser Hinsicht sollte mehr geschehen.

Inwiefern ist die Unterscheidung der Formen von Antisemitismus für das Verständnis der heutigen Situation wichtig?

Worauf ich bestand, war eine analytische Unterscheidung der Formen von Antisemitismus. Die Anschläge auf das Jüdische Museum in Brüssel, auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ und den Supermarkt waren vor zehn Jahren undenkbar. Das gesagt habend, ist es für mich als Wissenschaftler relevant zu fragen, nach welchen politischen, sozialen und kulturellen Mustern Juden ausgegrenzt und diskriminiert und verfolgt werden. Und da halte ich an der Trennung zwischen einem alten und einem neuen Antisemitismus fest. Diesen alten Antisemitismus nenne ich vielleicht paradoxerweise auch den modernen Antisemitismus, da er aus dem Projekt der Moderne kommt, nämlich der nationalstaatlichen, ethnischen Homogenisierung, die Juden als das konstitutiv Andere produzierte. Das ist anders, als wenn Juden im 21. Jahrhundert von Menschen mit islamistischer Motivation angegriffen werden.

Diesen neuen Antisemitismus könnte man auch postmodern nennen, weil es um die postmoderne Struktur des Supranationalstaates geht. Im neuen Antisemitismus werden Juden als imaginierte Vertreter einer westlichen Hegemonie angegriffen, da sie in einem postkolonialen Kontext als automatische politische Verlängerung eines europäischen Kolonialstaates im Nahen Osten, also Israels, gesehen werden können. Juden in Europa fungieren dieser Logik gemäß als Ziel einer globalisierten Widerstandsbewegung gegen diese Hegemonie.

Ist die Ablehnung von Muslimen, die eben auch als Islamophobie auftritt und sich nicht selten mit der vom Islamismus ausgehenden Gewalt rechtfertigt, heute stärker und breiter als vor zehn Jahren?

Es geht darum, zu verstehen, warum bestimmte Bevölkerungsgruppen strategisch als das „ganz Andere“ aufgebaut werden. Selbst bei der „Far Right“, im FPÖ-Diskurs, beim Vlaams Belang in Belgien und der Front National in Frankreich ist Antisemitismus offiziell verpönt. Islamophobe Diskurse aber stehen im Zentrum. Ist dieser Wandel genuin oder eine Oberflächlichkeit? Manche Leute sagen: „Der Strache geriert sich ja nicht antisemitisch.“ Meine Analyse lautet: Er ist nicht mehr antisemitisch im Sinne der Konstruktion des ethnisch reinen Nationalstaates. Dieses Projekt ist aufgegeben. Das Projekt, das die FPÖ jetzt betreibt, ist eine kulturelle Homogenisierung Europas. Vorher ging es darum, eine germanisch imaginierte nationalstaatliche Struktur zu bewahren. Jetzt sehen sie sich in der Rolle, eine jüdisch-christliche Wertegemeinschaft zu bewahren. In diesem Kontext werden Muslime als die zentrale Figur mobilisiert, um das „ganz Andere“ darzustellen. Die interessanteste Entwicklung ist Folgende: Seit den 1960ern haben wir Migrationsströme aus dem muslimischen Raum, die Gastarbeiter. Während der ersten Jahrzehnte waren diese Menschengruppen Ausländer. Was sie nicht waren, diskursiv jedenfalls: Muslime. Ob ich sie als Ausländer konstruiere oder als Muslime ist nicht zufällig. Die Konstruktion dieser Menschen als Muslime mit dem Vorhaben, sie auszuschließen aus dem europäischen Projekt, ist das Werk der „Far Right“.

Was ist nun Ursache, was ist Wirkung, wenn wir das Phänomen des Islamismus betrachten?

Ich würde nicht sagen, dass Islamismus nur ein Versuch ist, sich gegen diese Konstruktionen zu wehren. Er hat eine eigene, furchtbare Dynamik, die in großen Teilen der arabischen und muslimischen Welt mit einem starken Gefühl der Unterdrückung zu tun hat. Ich glaube aber natürlich nicht, dass man Vorfälle wie den Anschlag auf „Charlie Hebdo“ auf einen Widerstand gegen Europas extreme Rechte verstehen kann. Sie sind aber durch eine furchtbare Dialektik miteinander verbunden. Es fällt der extremen Rechten dadurch viel leichter, auf diese Muster des ganz Anderen zu rekurrieren. Es ist eine Tragödie. Eine negative Symbiose zwischen einer Rechten, die davon profitiert, Muslime als das ganz Andere darstellen zu können. Und Islamisten, die Muslime auch als ganz Andere sehen, die die Argumentationen für diese furchtbaren Dinge liefern. Sich gegen Islamismus auszusprechen ist eine Notwendigkeit. Die Frage ist, ob du das in strategischer Verwischung der Unterscheidung zwischen Menschen mit muslimischem Hintergrund, bekennenden Muslimen, konservativen politischen Muslimen bis zu radikalen Dschihadisten wie ISIS tust.

Die Rechte fordert, Muslime müssten sich assimilieren.

Die Forderung nach Integration, Assimilierung oder Akkulturierung zieht sich quer durch die politischen Strukturen. Die Grünen sind dafür, ich bin dafür. Für mich ist die progressive Position zu sagen, es gibt hier viele Menschen mit migrantischem Hintergrund. Um zu florieren, müssen wir diese verschiedenen Communities als Asset behandeln. Gleichzeitig entstehen durch Migration soziale Probleme. Die progressive Position ist, das affirmativ zu lösen. Die reaktionäre Position ist, die eigene politische Position zu stärken, indem man diese Gruppen dämonisiert. Der Rechten geht es nicht darum, die Lebenswelt dieser Gruppen und der Österreicher, die sich von ihnen gefährdet fühlen, zu verändern, sondern Kapital daraus zu schlagen.

Aber man muss genau unterscheiden. Zu sagen, es ist nicht in Ordnung, dass in gewissen Schulen in Wien islamistisch agitiert wird, ist noch nicht Straches Position. Es ist auch von einer pluralistischen Sicht aus ein Problem, wenn Grundregeln des Rechtsstaates nicht eingehalten werden. Was dann aber auch gesagt werden muss, ist, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen, die sich zum Islam bekennen, diese rechtsstaatliche Position vertritt. Wir haben eine Lage, in der es eine globale militante Bewegung gibt, nennen wir sie Islamismus. Sie ist eine extreme Minderheit unter den muslimischen Communities in Europa, und die Strategie der „Far Right“ zielt darauf, die ganze muslimische Community auf sie zu reduzieren.

Ist im islamistischen Phänomen der Antisemitismus ein zentrales Anliegen?

Es gab in den traditionellen islamischen Gesellschaften Nordafrikas, des Osmanischen Reiches und so weiter wesentlich weniger Antisemitismus als in Europa. In der frühen Neuzeit warst du als Jude meist besser in der islamischen Welt als in der europäischen aufgehoben. Das ist wichtig. Es ist keine Frage, dass im Islamismus, der in einer globalisierten Welt eine essentielle und fantasmatische Struktur wie das Kalifat wieder herstellen will, antisemitische Themen existieren. Sie wurden im Laufe der Globalisierung eingearbeitet.

Ist es denkbar, dass der Islam eine Art Protestantisierung durchläuft, um die totale Bindung des Lebens an die religiösen Regeln zu lockern und den Regeln des Staates Geltungsraum zu verschaffen?

Die Position muslimischer Denker in Europa ist, einen Islam europäischer Prägung zu propagieren, was im Grunde eine Vorstufe einer derartigen Entwicklung ist. Hier sehe ich Analogien zur jüdischen Aufklärung. Deckungsgleich kann es nicht sein, geschieht es doch unter anderen historischen Umständen. Im späten 18. Jahrhundert herrschte in der deutschsprachigen Welt eine Panik über das Jüdische, die der heutigen Panik über das Muslimische nicht unähnlich ist. Die Juden sollten dem rationalen Staat nützlich sein, andererseits gab es Bedenken, dass die Juden durch ihr jahrhundertelanges Leben im Ghetto so anders wären, dass die Assimilation eben nicht möglich wäre. Das war vor der Popularisierung des Konzepts der Rasse, da wurde das Anderssein nicht über Biologie gespielt.

Was halten Sie vom Islamgesetz?

Eine riesige Sache, mir persönlich ist die Position von Thomas Schmidinger sehr sympathisch, der vor Gefahren der Ungleichheit warnt, die das Gesetz festschreibt. Der Islam wird anders konstruiert als andere Religionen, der Islam darf Dinge nicht, die andere dürfen, anscheinend weil der Staat vor islamistischer Unterwanderung Angst hat. Das ist nicht unverständlich. Die Ungleichbehandlungen werden aber wohl ein europäisches Nachspiel haben. Gleichzeitig stellt das Islamgesetz diese Religionsgemeinschaft in eine viel offiziösere Beziehung zum Staat als bisher. Die Einführung des islamisch-theologischen Studiums zum Beispiel ist ein Akt der Wertschätzung und Integration.

Paul A. Silverstein wirft in einem Essay über Ihre Thesen die Frage auf, ob Juden eifersüchtig ihren Status als die ersten und wichtigsten Opfer der Diskriminierung bewachen. Könnte diese Vorrangstellung durch die Diskussion um Islamophobie gefährdet werden?

Das glaube ich nicht. Fast im Gegenteil, viele Juden sehen Diskriminierung von Muslimen als großes Problem. Das ist eine klassische Chiffre im postholocaustischen Denken der Juden. Welche Lehren ziehen wir aus dem Holocaust? Das darf den Juden nie mehr passieren, oder das darf generell nie mehr passieren? Es gibt eine partikularistische undeine universalistische Lesart. Mir kommt vor, dass eine universalistische Lesart sehr stark ist, obwohl es in der jüdischen Community große Angst vor Islamismus gibt, die auch verständlich ist. Ich war letzte Woche im Jüdischen Museum und dachte mir: Ist da genug Security? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2015)

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