2048

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Sehnsucht nach dem anderen. Wenn wir uns vorauserinnern: Barbara Frischmuth, Franzobel, Peter Rosei, Josef Winkler.

Barbara Frischmuth

Angenommen, ich lebe 2048 noch (unwahrscheinlich), bin bei Sinnen (unwahrscheinlicher) und könnte mich frei in meiner Wohneinheit bewegen (äußerst unwahrscheinlich). Wahrscheinlich ist, dass ich im Besitz eines EB (Elektronischer Bodyguard) wäre, der mir den Tagesablauf vorschreibt und mir aufgrund meiner Daten empfiehlt, was für mein weiteres Überleben vonnöten ist.
Bis dahin werde ich auch Expertin im Drücken sein und mein iPhone, mein iPad (oder wie das dann heißt) von beiden Seiten däumlings bearbeiten, um das zu tun, was man früher Zeitung lesen genannt hat. Mein EB lässt mich über die App „Welt im Wandel“ wissen, dass er bereits alles zusammengestellt hat, was mich interessiert. Ich weiß, was mich interessiert, möchte aber etwas erfahren, von dem ich noch nicht weiß, dass es mich interessiert. Meine Lebens- beziehungsweise Tagesaufgabe besteht nun darin, all meine Codes und Passwörter zu memorieren, um vielleicht doch auf etwas zu kommen, auf das mein EB noch nicht gekommen ist, um es dann in einem für ihn unzugänglichen Areal meines Gehirns zu verstecken. Ich werde also wieder einmal einen brandneuen Code und ein noch nicht existierendes Passwort aus dem Ärmel schütteln müssen. Eine Übung, die angeblich vor Alzheimer schützt.

Franzobel

Madenburger und Heuschreckenrisotto. „Nach dem Krieg um sechs im Kelch“, lautet die legendäre Verabredung Josef Schwejks mit dem Sappeur Woditschka. Heute würde man lapidar sagen: „Wir telefonieren uns zusammen.“
Nun ist das Handy mittlerweile viel mehr als ein tragbares Telefon: Es ist Kamera, Fernseher, Bibliothek, Wegweiser, Familienersatz, Identität. – Ich weiß noch, wie ich vor 33 Jahren als 15-Jähriger mit meinen Schulkollegen über die Zukunft diskutiert habe. Wir kannten die Berichte des Club of Rome, wir konnten uns aber nicht vorstellen, dass man tatsächlich bald mit dem Computer Briefe schreibt, einkaufen geht, mit dem Computer Einzahlungen tätigt oder sich ärztliche Ratschläge holt. Damals gab es keine Handys, nur schwere Autotelefone, damals war es unvorstellbar, alles, vom Aufenthaltsort bis zur Weltanschauung, einsichtig zu machen. Noch dazu freiwillig.
Das Handy ist unsere Seele geworden, unser Schutzengel und Big Brother. Aber in 33 Jahren wird es Handys nicht mehr geben. Dann wird nämlich alles Wissen mit Nano-Chips im Hirn implantiert sein, dann werden wir Bibliotheken und Cinematheken, Enzyklopädien und so weiter abrufbar im Kopf haben, ebenso die Identitätsnachweise für Konten und das Gesundheitssystem. Die Autos – Car-Sharing! – werden von selbst fahren, und wenn man einmal ein neues Organ braucht, lässt man es auf einer Genfarm züchten. Selbstverständlich nur in der „ersten“ Welt, Ausflüge zu den Kriegen in der „dritten“ wird man virtuell buchen können.
Die meistverzehrten Gerichte werden der Madenburger und das Heuschreckenrisotto sein. Lehrer sind längst durch einen Zentralcomputer ersetzt, Bargeld ist abgeschafft, und jeder, der an Revolution oder Umsturz denkt, wird weggesperrt.
Aus heutiger Sicht unvorstellbar? So wie die Handys und Computer vor 33 Jahren.

Peter Rosei

Aufhacken. Der Große Bruder, der in Orwells „1984“ figuriert und der alles und jeden überwacht, ist tatsächlich gekommen, uns zu behüten – allerdings nicht, wie von Orwell vorhergesehen, als Ausgeburt eines stalinistisch/maoistischen Terrorsystems, sondern ausgerechnet auch zu uns, in unsere freien und ganz und gar individualistischen Demokratien. – Ich denke, dass es auch 2048 die Sehnsucht nach dem ganz anderen geben wird. Freilich wird man nicht bloß, wie Kafka es ausgedrückt hat, das gefrorene Meer in einem selber aufhacken müssen, sondern dazu den Panzer der elektronischen Welt, der sich kompakt über die vorhandene gelegt haben wird. Vielleicht wird dann aber die elektronische Rose höher gehalten werden als die echte, da sie nie verblüht. Schönheit: Sie wird wohl auch dann noch eine Botin und Ankündigerin des Glücks sein.

Josef Winkler

Winnetou und Fluss ohne Ufer. Vor einigen Monaten, als ich gerade in Kroatien unterwegs war und an der Stelle vorbeikam, wo die Karl-May-Filme gedreht worden waren, rief mich Antonio Fian an und berichtete mir, dass Rik Battaglia – Rollins, der Mörder Winnetous – im Alter von 88 Jahren gestorben sei. Der kürzlich verstorbene Winnetou-Darsteller Pierre Brice hat seinen Mörder um einige Monate überlebt. Battaglias Schauspielerkarriere war nach dem Todesschuss vorbei, er hat keine maßgeblichen Rollen mehr bekommen, in Deutschland und Italien hat man ihm die Ermordung des edlen Indianerhäuptlings nie verziehen. Ich frage mich, was aus mir geworden wäre, wenn nicht im richtigen Augenblick in meiner Kindheit die Winnetou-Filme aufgetaucht wären, durch die ich auf die Karl-May-Bücher aufmerksam wurde, von denen ich 30 oder 40 gelesen habe. In Anbetracht der heutigen Jugendlektüren wünsche ich mir, dass es auch im Jahre 2048 noch die Karl-May-Bücher gibt.
Außerdem möchte ich, dass um diese Zeit auch noch die Bücher von Hans Henny Jahnn weiter und wieder gelesen werden, eines fast in Vergessenheit geratenen großen Dichters, der wie Thomas Mann und James Joyce die Literatur verändert hat. Als ich mir als 22-Jähriger das Gesamtwerk von Hans Henny Jahnn in einer großen Kassette mit leinenkaschierten, gelben Büchern kaufte und den einzigartigen, 2000 Seiten langen Roman „Fluss ohne Ufer“ zu lesen begann, wusste ich, dass ich meinen Selbstmord noch ein, zwei Jahre würde aufschieben können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2015)

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