Bitte achten Sie auf den Spalt!

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Themenbild(c) Die Presse - Clemens Fabry
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Die soziale Disqualifizierung von Hunderttausenden wird hierzulande öffentlich nicht wahrgenommen. Diese Ignoranz rächt sich spätestens dann, wenn die Hetzer das große Wort führen.Unsere gespaltene Gesellschaft oder: Höchste Zeit für mehr Achtsamkeit – nicht nur in der U-Bahn.

Durch den ins Unangemessene gesteigerten Verkehr, durch die weltumspannenden Drahtnetze des Telegrafen und Telefons haben sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert. Alles geht in Hast und Aufregung vor sich, die Nacht wird zum Reisen, der Tag für die Geschäfte benützt, selbst die Erholungsreisen werden zu Strapazen für das Nervensystem.“ Das Zitat stammt aus dem Jahr 1893. Der Arzt Wilhelm Erb erklärt in seiner Zeitdiagnose vor mehr als 100 Jahren, was zur Nervenschwäche führe. Neurasthenie wurde in den USA und auch in Europa zur häufig diagnostizierten Belastungserkrankung. Beschrieben wurde die Nervenschwäche bei Angehörigen der städtisch-bürgerlichen Elite als eine nervöse Reaktion auf Überlastung. Die Neurasthenie wurde zur Krankheit der „Kopfarbeiter“ der weißen Mittel- und Oberschichten. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschwand das Konzept der Neurasthenie. Zeit für Therapie gab es jetzt nicht mehr, und die Tausenden Kriegsversehrten ließen andere Krankheitsbilder dominant werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich ein neues Belastungskonzept, die Managerkrankheit. Bluthochdruck und Herzinfarkt rafften die Chefs dahin. Im Wiederaufbau und im Wirtschaftswachstum überforderten sich die Firmenleiter mit der Folge hohen Risikos von Herzleiden. Auch hier – ähnlich wie bei der Neurasthenie – wird die Managerkrankheit als ein Problem der Eliten beschrieben.

Die Rede vom Stress brachte eine Änderung. Stress können alle haben. Stress demokratisierte die Belastungsstörung. Studien in den 1990ern ergaben, dass der Anteil der sogenannten Managerkrankheit bei Personen aus den untersten Einkommensschichten höher als bei den eigentlichen Managern ausfällt. Und dann kam Burn-out. Zuerst als Diagnose in helfenden Berufen wie Sozialarbeit oder Pflege. Dann bei Führungskräften. Jetzt bei allen. Burn-out erzählt uns, wie wir zusammenbrechen dürfen, ohne uns dafür schämen zu müssen. Depression ist Versagen, Burn-out hingegen „die erfolgreichere Variante des erschöpften Selbst“, formuliert der Historiker Patrick Kury.

Viele Frauen und Männer suchen in Sozialberatungsstellen um Hilfe. Ich habe noch nie so viele Menschen mit schweren depressiven Erschöpfungszuständen erlebt wie in der jüngsten Vergangenheit. „Wir stören. Das haben wir alle gemeinsam“, sagt die Vertreterin der Selbsthilfegruppe von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Wir stören einfach. Denn wir haben ja eine Störung. Jeder ist seines Glückes Schmied. Du kannst gewinnen, wenn du nur willst! Immer lächeln, das macht dich erfolgreich. Die andere Seite: Wenn du es nicht schaffst, bist du selbst schuld. Wenn du keinen Job hast, leistest du nichts. Wenn du einen Job hast, dann musst du mehr leisten, damit du ihn morgen auch noch hast. Wenn du nicht mehr mitkommst, bist du ein Versager. Wenn du nicht funktionierst, dann störst du. Ich störe einfach, sagt die Erschöpfung. Ich kann nicht mehr. Wir haben eine Störung. Das Ausbrennen weist auf eine Wettbewerbsgesellschaft, die sich ihrer Ziele und Zwecke entgrenzt hat, argumentieren die Soziologen Sighard Neckel und Greta Wagner. Immer mehr Bereiche werden der Konkurrenz unterworfen, Wettbewerb definiert die gesellschaftliche Ordnung als Ganzes: jetzt auch das Krankenhaus, den Pflegedienst, die Universität, die Schule – bald auch den Kindergarten? Die massenkulturelle Begleitmusik spielt in den Castingshows oder inszeniert sich in der Körperkonkurrenz vom Next Top Model.

Das Problem ist nun: Die Rhythmen der Wettbewerbe beschleunigen sich auch in der Erwerbsarbeit. Da hat man als neuer Arbeitskraftunternehmer immer neu zu bestehen. In der verbleibenden Zeit dazwischen ist es angesagt, an der eigenen Wettbewerbsfähigkeit zu arbeiten. „Doch Wettbewerbe sind Ausscheidungskämpfe und notwendigerweise damit verbunden, dass sie Verlierer produzieren“ (Neckel). Und gewinnen tun halt immer nur ein paar wenige. Da gibt's viel Anstrengung bei vielen, dafür Anerkennung nur für wenige. Stress ist nicht das Problem, Anstrengung und Anforderung sind wichtig und richtig. Aber ohne Anerkennung und Selbstbestimmung wird es für uns schädlich. Der Giftcocktail besteht aus drei Zutaten: hohe Anforderung bei gleichzeitig geringer Einflussmöglichkeit und niedriger Anerkennung. Die Konkurrenzideologie will Leistung und Ressourcen vermehren, verbrennt aber gleichzeitig jene menschlichen Potenziale, die sie zu steigern vorgibt. Ein System zeigt Nerven.

Stress ist nicht das Problem. Hier geht es um den Distress, den schlechten Stress, der nagt und quält, der lange dauert und niederhält. Der psychische Apparat drückt die Stopptaste: Alles wird langsamer, alles wird müder, Zusammenbruch – nichts geht mehr. Tätigkeiten, die hohe Anforderungen stellen und gleichzeitig mit einem niedrigen Kontrollspielraum ausgestattet sind, erhöhen diesen schlechten Stress. Die niedrige Kontrolle kann in zwei Formen auftreten: zum einen nicht über die Gestaltung der Arbeitsaufgaben entscheiden zu können, zum anderen nicht die Möglichkeit zu haben, die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu nutzen. Dauern diese Ohnmachtserfahrungen an, lernen wir Hilflosigkeit: Lass mich erleben, dass ich nichts bewirken kann.

Wer feststellt, dass er trotz aller Anstrengungen nichts erreichen kann, der wird früher oder später resignieren. Wenn ich mich anstrenge, viel in eine Sache hineinbuttere und dann nichts herausbekomme – keine Anerkennung, kein freundliches Wort, dafür miesen Lohn und keine Aufstiegschancen –, dann wird es massiv gesundheitsschädlich. Das ist wie Vollgas fahren bei angezogener Handbremse. Der drückende Mix aus Anstrengung, Ohnmacht und mangelnder Anerkennung hat sich in die Mitte der Gesellschaft gefressen.

Der Weltschmerz und die Melancholie waren vor einem Jahrhundert noch eher den Exzentrikern und Künstlern zugeschrieben. „Die Melancholie war die Krankheit des Ausnahmemenschen“, hat Alain Ehrenberg in seiner Studie über das erschöpfte Selbst herausgearbeitet. „In der Demokratie soll nun jeder prinzipiell ein Ausnahmemensch sein können. Mit dieser Demokratisierung verliert die Melancholie aber ihre heroischen Momente, sie wird zur Depression, zu einer bloßen Krankheit.“

Das Konzept der Kontrolle spielt eine zentrale Rolle in der Vermittlung von Belastungen, Anforderungen, Bewertungen und Reaktionen. Da geht es darum, die Welt „im Griff zu haben“ und Anforderungen als Herausforderung zu erleben. Das Kohärenzgefühl, den Kohärenzsinn definierte der Arzt Aaron Antonovsky als eine globale Orientierung, die das Maß ausdrückt, in dem man ein durchdringendes, andauerndes aber dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die eigene interne und externe Welt vorhersagbar ist und dass es eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass sich die Dinge so entwickeln werden, wie vernünftigerweise erwartet werden kann.

Der Kohärenzsinn bestimmt, ob Anforderungen als Herausforderung gesehen werden – oder als drückende Überlastung. Er ist eine komplexe Subjektvariable, die eine Struktur der Meinung über die Welt, die eigene Person und die eigenen Relationen mit der Welt beschreibt. Aus dieser Überlegung heraus wird er auch als Weltsinn bezeichnet. Antonovsky betonte, dass der Kohärenzsinn auf gesellschaftliche Bedingungen bezogen sei. Das Kohärenzgefühl ist eine Ressource von Gesundheit und gleichzeitig ein Bestandteil von Gesundsein. Keine Handlungsspielräume haben, weniger Anerkennung bekommen und von Dingen ausgeschlossen sein, über die andere sehr wohl verfügen, ist Ausdruck einer sozialen Krise, in der auf Dauer die Selbstwirksamkeit und die Selbstregulation der betroffenen Personen leidet.

Der Soziologe Manfred Krenn berichtet von Menschen, die zwischen letztem sozialem Netz und schlechten, desintegrativen Jobs hin- und herpendeln. Seine Forschung im untersten sozialen Netz hat auf eindrückliche Weise die schwindende soziale Integrationskraft von Erwerbsarbeit gezeigt. Der Arbeitsdruck ist hoch, die Arbeitszeiten immer anders, der Umgang mit den Arbeitern ohne Anerkennung und Wertschätzung. In den Interviews kommen besonders die gesundheitlichen Probleme zur Sprache.

Frau G geht nach dem zweiten Raubüberfall an der Supermarktkassa am nächsten Tag trotz einer Lungenentzündung wieder arbeiten, hat dann einen Nervenzusammenbruch und wird nach drei Tagen Krankenstand vom Rayonsleiter gekündigt. Ähnliches passiert Frau N. Während der Arbeit hat sie einen Autounfall. Sie geht trotz starker Prellungen am nächsten Tag zur Arbeit, die sie aber wegen Schmerzen nicht durchsteht, und meldet sich krank. Nach einer Woche wird ihr gekündigt.

Frau B arbeitet bei einem Direktmarketing-Unternehmen und muss Werbematerial kuvertieren: „Wir haben, da sind so große Tisch, so wie Packtische, zu viert, also sitzen wir. Und ich hab leider so einen Platz, wo ich zur Vorarbeiterin nach vorne sehe. Die anderen zwei mit dem Rücken haben es noch besser, und kaum redet man da irgendwas, gibt es Probleme. Ja, gibt es Probleme. Da sitzen sie von 8 bis 12 Uhr, weil da gibt es dann die Pause von 12 Uhr bis halb eins. Und da haben sie Angst, wenn sie was reden.“ Das spaltet die Gesellschaft in Zonen mit unterschiedlichen Sicherheitsniveaus: eine schwindende Zone der Integration, eine wachsende „Zone der Verwundbarkeit“ und eine sich verfestigende „Zone der Entkoppelung“. Pendler und Wiedereinsteiger machen bereits 42 Prozent der Bezieher im untersten sozialen Netz in Wien aus. Sie pendeln zwischen der Zone der Entkoppelung und der Zone der Prekarität. Aus Workless Poor werden Working Poor, aus der Armut ohne Arbeit geht es in die Armut mit Arbeit – und umgekehrt. Die Idee, dass Erwerbsarbeit die zentrale Integrationsmaschine ist – wie es seit den 1970ern für das kontinentale Sozialstaatsmodell propagiert wurde –, sticht hier nicht mehr. Hier verkommen die Sprüche von der „Integration in den Arbeitsmarkt“ zu realitätsleeren Parolen. Hier findet keine soziale Integration statt. Im Gegenteil. Hier entsteht soziale Ausgrenzung durch die Arbeit selbst.

In Interviews mit angelernten Arbeitern und Facharbeitern sowie prekär beschäftigten Frauen in der Steiermark kommen all die Begleitfolgen sozialen Abstiegs zum Vorschein: soziale Disqualifizierung, verletzte Gerechtigkeitsgefühle und Ohnmachtserfahrungen. Die Männer haben Entlassungen, Wiedereinstellungen und wieder Entlassungen erlebt. Die Frauen berichten von unsicheren, schlecht bezahlten Jobs, langen Phasen der Erwerbslosigkeit und der Schwierigkeit, Beruf und Familie zu vereinbaren. Die schwierigen Arbeitsbedingungen nehmen die Männer in Kauf für soziale Sicherheit, einen bescheidenen Wohlstand und soziale Anerkennung. Die Frauen sind stolz, alles zu schaffen, ein eigenes Einkommen und auch Zeit für die Kinder zu haben.

Das Versprechen aber, dass Leistung und Arbeitseifer soziale Sicherheit und Anerkennung garantieren, ist ins Wanken geraten. Sie alle haben sozialen Abstieg erlebt: beruflichen Abstieg vom Metallarbeiter zum Straßenreiniger, Lohnverlust, erzwungene Frühpensionierung. Sie fühlen sich um das versprochene Lebenskonzept betrogen, das einen Tausch von harter Arbeit gegen bescheidenen Wohlstand und einen anerkannten sozialen Status vorsieht. Die Frauen haben immer in prekären Jobs gearbeitet, aber auch immer wieder einen Job bekommen. Diese konstanten Arbeitsmarktchancen im unteren Lohnsegment sind jetzt im Schwinden. „Wer nimmt mich mit über 50 im Gastgewerbe, es wird immer schwieriger.“

Ohne Murren alles gemacht zu haben zählt plötzlich nicht mehr. Die Vereinbarung, dass Fleiß und notwendige Unterordnung bei der Arbeit mit sozialer Sicherheit und Anerkennung belohnt werden, ist aufgekündigt. Ausbildung, Fleiß, Entsagungen, Treue – all das schützt nicht vor Abstieg. Das nehmen die Betroffenen als eklatanten Verstoß gegen die Fairness wahr, als tiefe Verletzung und Kränkung. All das löst schwere Ohnmachtsgefühle aus. Die soziale Disqualifizierung von Hunderttausenden wird öffentlich nicht wahrgenommen. Ihre Situation wird heruntergespielt, mit leeren politischen Parolen zugedeckt. Die Ignoranz rächt sich spätestens dann, wenn in dieser Arena des Kampfes um Anerkennung die Demagogen und Hetzer das große Wort führen.

Es gibt eine klare Verbindung zwischen Unsicherheit und Kontrollverlust auf der einen sowie Abwertungs- und Ausgrenzungsideologien auf der anderen Seite. Gegenseitigkeit ist gebrochen, unausgesprochene Übereinkunft einseitig beendet worden. Um diese Grenze der Respektabilität wurden in der Geschichte die wichtigsten Auseinandersetzungen geführt. Durch die seit den 1950ern erkämpfte Teilhabe an Wohlstand, Bildung und sozialer Sicherung wurde die große Mehrheit der Arbeitnehmer und kleinen Selbstständigen in diese soziale Mitte der Respektabilität integriert. Eben dieses Sozialmodell steht heute wieder zur Disposition.

Die Türen schließen. Der Zug fährt ab. Eine Stimme aus dem Off ertönt. „Seien Sie achtsam: Andere Fahrgäste benötigen Ihren Sitzplatz vielleicht notwendiger.“ So heißt es seit einiger Zeit in der Wiener U-Bahn. Kleine Revolution im Durchsagebereich. Nicht die Pflicht ruft, sondern die wachen Sinne sollen in den Verkehrsbetrieben den Schwächeren zum freien Platz verhelfen. Die Durchsage arbeitet mit einem sorgeethischen Bezugsrahmen. Die Care-Ethik weist auf menschliche Haltungen hin, die für gute Beziehungen untereinander nötig sind. Dazu zählt die Haltung der Achtsamkeit: Das aufmerksame Durch-die-Welt-Gehen ist eine Voraussetzung dafür, anderen Menschen gerecht zu werden. Wer den Platz „notwendiger braucht“, soll durch Beobachtung klar werden, nicht durch Pflichterfüllung.

Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Einen lückenlosen Pflichtenkatalog oder gar Tugendzwang kann der Staat nur um den Preis von Totalitarismus und der Aufgabe von Freiheit erzwingen. Ähnlich lebt auch der Sozialstaat von Voraussetzungen, die er selber nicht schaffen kann. Dass es Mindestsicherung als Schutz vor Verelendung gibt, hängt auch von der Solidarität ab, die einer Gesellschaft innewohnt. Armutsdefinitionen bringen ja meist weniger zum Ausdruck, was ein Mensch braucht, als vielmehr, was die Gesellschaft ihm zuzugestehen bereit ist. Und dass es Verständnis für Schwächere gibt, Brücken zueinander, Solidarsysteme Akzeptanz erhalten, hängt davon ab, ob Menschen selbst diese Brücken bauen oder selber sind.

Der Zug hält in der Station. Die Türen gehen auf. Eine Stimme aus dem Lautsprecher ertönt: „Bitte seien Sie achtsam. Zwischen Bahnsteig und U-Bahn-Tür ist ein Spalt.“ In diesem Spalt kann die Achtsamkeit verschwinden. Strukturen strukturieren auch Haltungen. Das läuft in beide Richtungen. Solidarische Bedingungen prägen und definieren Werthaltungen. Gesellschaften mit stärkerem sozialem Ausgleich weisen höhere Lebenserwartung, geringeren Statusstress, höheres Vertrauen, mehr Inklusion und mehr Gegenseitigkeit auf.

Mehr Achtsamkeit bei gleichzeitig höherer sozialer Ungleichheit funktioniert nicht. Zur Achtsamkeit zu rufen und gleichzeitig die sozialen Bedingungen verschärfen, das geht nicht zusammen. Zur Achtsamkeit zu rufen und gleichzeitig keine Ressourcen zur Verfügung zu haben, das passt nicht zusammen. Man muss Dinge nicht nur können, sondern auch können können. Heißt: Meine Fähigkeiten müssen zusammenpassen mit den Ermöglichungsbedingungen, diese Fähigkeiten auch einsetzen zu können. Das ist keine banale Frage. Meine vielen Ausbildungen und Zusatzqualifikationen nützen mir nichts, wenn es keine Jobs gibt. Erfahren zurzeit viele junge Leute. Inklusion von Kindern mit Behinderungen funktioniert nicht, wenn es zu wenige Integrationslehrer gibt. Erleben viele in den Schulen. Wenn geschlossene „Ausländerklassen“ zum Deutschlernen errichtet werden, wenn zweisprachige Begleitlehrer an allen Ecken fehlen, wenn nicht durchmischte Restklassen entstehen, wenn die Raumarchitektur flexible, vielfältige Lernformen nicht zulässt – dann wird es nichts mit der Integration. Da ist ein Spalt. Bitte seien Sie achtsam.

Von der U-Bahn ins Kino. Ein Schuhputzer am Bahnhof, eine Bäckerin, ein Sänger und ein Bub aus Afrika. Im Film „Le Havre“ von Aki Kaurismäki erzählen sie ihre Geschichte. Aufmerksam, verzweifelt, widerständig. Ein Märchen? „Immer mehr Menschen werden über unwürdige und entwürdigende Arbeit in den Arbeitsmarkt integriert“, analysiert Klaus Dörre, Professor an der Universität Jena. Der renommierte Soziologe warnt vor den Konsequenzen. Deutschland habe in den vergangenen zehn Jahren den raschest wachsenden Niedriglohnsektor Europas gestellt. „Seit den 1980er-Jahren erleben wir einen Fahrstuhleffekt nach unten, der in Deutschland eine prekäre Vollerwerbsgesellschaft hervorgebracht hat.“

Prekarität frisst sich mittlerweile vom Rand in die Mitte. Die Mehrzahl der Menschen im deutschen Niedriglohnsektor verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung. „Prekär“ heißt ja wörtlich nicht nur „unsicher“, sondern eigentlich „auf Widerruf gewährt“, „auf Bitten erlangt“. Da steckt der geringe Umfang an Kontrollchancen und Handlungsspielräumen bereits im Begriff. Ein weiteres Märchen entlarvt Dörre in seinen Studien: Prekäre Beschäftigung ist kein Sprungbrett in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt. Nur zwölf Prozent steigen in bessere Arbeitsverhältnisse um. Man fällt schnell hinein und kommt umso schwerer wieder heraus. Es entstehen vielmehr Drehtüreffekte, „zirkulare Mobilität“: vom schlechten Job zum schlechten Job.

Die Daten weisen auf ein zentrales Problem hin: Prekarität hat „die Schwelle der Respektabilität verändert“ und „den Druck auf die Leute erhöht“. Die Prekaritätslogik verlangt, jene qualitativen Ansprüche an Arbeit und Leben aufzugeben, die motivieren und zu Engagement befähigen. Das alles ist praktisch für jene, die wollen, dass alles bleibt, wie es ist. Die Verachtung für die „Unterschicht“, die da produziert wurde, verhindert jeder Form der Aufmerksamkeit, Einfühlung, Solidarität. Wer den Film „Le Havre“ gesehen hat, entdeckt darin ein Gegenbild zur Missachtung der „Unterklasse“. Hier treten Armutsbetroffene und Prekarisierte mit Eigenschaften auf, die ihnen sonst beständig abgesprochen werden: solidarisch, findig, klug, strategisch, sorgend und verantwortungsvoll. Kein Märchen. Wir brauchen eine andere Perspektive. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2015)

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